Miriam Suttner (12)

Marens Geheimnis

Maren wurde von einem leisen Fiepen geweckt. Verschlafen blinzelte sie. Das Geräusch kam von ihrem Schreibtisch, aus dem Käfig. Der blaue Kanarienvogel darin flatterte wütend mit den Flügeln gegen das Gitter. Maren schlug ihre Decke zurück und setzte einen Fuß auf den Boden. Sie zögerte – dann zog sie ihn wieder an und streckte den anderen aus. Es war der linke Fuß gewesen. Ein Blick auf die Wanduhr ließ sie die Augen aufreißen. Es war halb acht.

Es war ein ganz normaler Morgen. Maren hatte verschlafen.

Sechs Minuten später kam sie in die Küche gerannt, nachdem sie sich einmal schnell mit der Hand durch das Haar gefahren war. Auf dem Tisch lag ein Marmeladentoast mit Erdnussbutter. Maren hasste Erdnussbutter. Ihre Mutter vergaß das immer wieder. Neben ihrer Tasse Kakao lag ein kleiner, schmuddeliger Zettel. Während Maren las, fischte sie mit einem Löffel die Haut der Milch aus der Tasse. »Ich komme heute um halb acht heim. Bestell dir eine Pizza. Mama« Daneben lag ein 20-Euro-Schein.

Maren leerte den Kakao in einem Zug, warf den Toast in den Mistkübel und steckte das Geld in ihre rechte hintere Hosentasche. Dann schnappte sie ihren Schulrucksack, wobei sie die Hälfte des Inhaltes über den Teppich verstreute, schlüpfte in ihre Schuhe und rannte aus der Wohnung.


Maren war ein Einzelkind. Sie wohnte mit ihrer Mutter in Wien. Diese war eine viel beschäftigte Frau, und hatte daher nur wenig Zeit für ihre Tochter. Von einer gemeinsamen Mahlzeit oder gar einem Ausflug konnte Maren nur träumen.

Hätte sich ihre Mutter mehr Zeit für sie genommen, vielleicht wäre Maren anders geworden. Vielleicht auch nicht. Denn Maren hatte ein großes Geheimnis.


Als Maren schließlich schlitternd vor ihrer Schule zum Stehen kam, war es bereits viertel neun. Schwer atmend schlich sie sich bis in den dritten Stock, wo ihre Klasse war, die 3D. Als sie an der Tür lauschte, hörte sie die leise, einschläfernde Stimme ihrer Geschichtslehrerin. Ihr fiel ein Stein vom Herzen; Gott sei Dank nur Geschichte. Sie betrat mit federnden Schritten die Klasse, holte sich von der Lehrerin ein Stirnrunzeln und einen Eintrag ins Klassenbuch, und setzte sich auf ihren Platz neben Paul.

Augenblicklich wurde es totenstill im Raum. Niemand blätterte mehr in seinem Buch oder schrieb Briefchen mit dem Nachbarn. Alle starrten Maren an. Sofort fing ihr Gesicht an zu brennen. Dieses verdammte Rotwerden!

Was war heute anders als sonst? Sie war doch schon so oft zu spät gekommen, und nie hatte das überhaupt jemand wahrgenommen! Sie sah an sich hinunter. Oh nein! Sie hatte vergessen, ihre Jeans anzuziehen. Ihre Beine steckten noch immer in dem Fußballpyjama!

Plötzlich löste sich die Spannung. Manche Mädchen prusteten laut los, andere kicherten nur verhalten. Maren bemerkte, dass es nur Mädchen waren, die lachten.


Das war auch nicht weiter verwunderlich; Maren sprach nie ein Wort mit ihnen. Sie war immer nur mit den Jungs zusammen. Sie spielte Fußball mit ihnen, fuhr mit ihnen nach Hause oder quatschte mit ihnen. Die akzeptierten sie, weil Maren genauso wie sie über Iris lachte, wenn sie wieder mal mit drei Kilo Schminke auf dem Gesicht in die Schule kam.

Manchmal durfte Maren sogar an ihren geheimen »Klassenrunden« teilnehmen. Dabei trafen sich alle Buben im Burger King neben der Schule. Paul, der Anführer, eröffnete die Sitzung. Dann sagte er nach der Reihe jeden Mädchennamen aus der Klasse auf, und alle durften einen Kommentar zu diesem Mädchen abgeben. Um dabei sein zu dürfen, hätte manches Mädchen aus ihrer Klasse seinen Schminkkoffer hergegeben; Maren dagegen musste nur eins tun: einfach Maren sein. Sie selbst kam darin nie vor; auch sie durfte etwas sagen. Doch das letzte Mal war anders gewesen. Paul hatte gegrinst und ihren Namen genannt. Es war Maren furchtbar peinlich gewesen. Alle Jungs hatten eigentlich etwas Nettes gesagt, außer Daniel, den sie nicht ausstehen konnte. Er hatte gesagt: »Ich finde es nicht richtig von Paul, dass er auch Maren nennt. Maren ist doch gar kein Mädchen.« Dafür hatte Ricky ihn gestoßen. Doch die Worte blieben.


Maren musste ins Sekretariat gehen und sich aus der Fundkiste eine Jogginghose holen. Mit den Händen in den Hosentaschen und rot wie eine Tomate kam sie wieder zurück in die Klasse. Zu ihrem Glück waren die Mädchen schon wieder in ihr Kichern vertieft. Maren zählte die Minuten bis zum Ende der Geschichtsstunde. Die Pause verbrachte sie, wie üblich, bei Paul, Ricky und Stefan, um mit ihnen über Fußball zu diskutieren. Sie wusste, dass die drei kein Wort über die peinliche Situation heute Morgen verlieren würden.

In der nächsten Stunde war Deutsch. Maren mochte Deutsch nicht. Ihre Lehrerin versuchte immer, alle für ihren Stoff zu begeistern. Im Moment lasen sie gerade das Buch »Der kleine Unterschied« von Martin Lebrecht. Es handelte von Männern und Frauen, und was sie unterschied. Maren hasste das Buch, es war sterbenslangweilig.

Wie zu erwarten mussten die Kinder, gleich, nachdem die Lehrerin eingetreten war, beginnen, laut zu lesen. Und natürlich war Maren gleich die Dritte, die an die Reihe kam. Während sie las, wurde es merkwürdig still in der Klasse. Alle starrten sie an. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag! Doch da bemerkte Maren erst, was sie da las.

»Manchmal ist es so, dass sich ein Mann im falschen Körper gefangen fühlt. Er denkt und fühlt wie eine Frau, kann das jedoch niemanden merken lassen. Anzeichen für so etwas machen sich meistens schon ganz früh bemerkbar. Es kann vorkommen, dass der Betroffene sich manchmal vergisst. Dasselbe Phänomen kann man natürlich auch bei Frauen feststellen.«

Maren verstand sofort, warum alle Blicke auf sie gerichtet waren. Lisa zeigte mit dem Finger auf sie, und man hörte, wie ihr Name deutlich vernehmbar geflüstert wurde. Die Lehrerin starrte in ihr Buch und schien davon keine Notiz zu nehmen. Marens ganzer Körper war angespannt. Sie senkte den Kopf. Am liebsten wäre sie aufgestanden und nach Hause gefahren, doch natürlich tat sie es nicht. Sie blieb einfach sitzen und starrte auf den Boden.


Maren bekam von der restlichen Stunde nicht mehr viel mit. Als es zur Pause läutete, blieb sie einfach unbeweglich sitzen. Doch schon hörte sie den unverkennbar tänzelnden Gang Yvonnes. Maren ballte ihre Hände zu Fäusten und stand auf. Sie überragte Yvonne um ein Stück, doch das schien diese nicht zu stören.

»Na, Maren? Wie hat dir diese Stelle aus dem Buch gefallen? Ich bin sicher, sie ist dir bekannt vorgekommen!«

Maren spürte, wie sie wieder rot wurde, diesmal aber nicht aus Verlegenheit, sondern aus Wut.

»Nach deinem Auftritt heute Morgen wolltest du noch mehr«, höhnte Yvonne weiter. »Seit wann ziehst du etwas anderes an als zerrissene, alte Jeans, die aussehen, als hättest du sie aus der Mülltonne?«

Maren baute sich vor ihrer Gegnerin auf.

Diese tat, als begänne sie zu zittern aus Angst vor Maren. Sie fuhr ungerührt fort: »Mädels, vielleicht sollten wir Maren ja zu dem machen, was sie eigentlich sein sollte? Ein bisschen Schminke würde ihr doch gut tun, was meint ihr?«

Und bevor Maren wusste, wie ihr geschah, hatte sie schon Lippenstift über dem ganzen Gesicht. Das war zu viel. Sie stieß Yvonne zur Seite und rannte aus dem Klassenzimmer.


Zuerst rannte sie ins Mädchenklo. Dort wischte sie sich erst einmal den Lippenstift und ihre Tränen von den Wangen. Normalerweise weinte Maren nie, aber das war eine Ausnahme. Anschließend verließ sie die Schule durch den Hof. Dass sie ihre Schultasche in der Klasse vergessen hatte, ließ sie kalt. Nur nicht mehr den anderen unter die Augen treten!


Dann sprang sie auf ihr Fahrrad und trat fest in die Pedale. Maren genoss den Fahrtwind, der durch das Haar und in ihre Kleidung fuhr, auch wenn er ihre Augen tränen ließ. Normalerweise stellte sie sich dann vor, wie alle störenden Gedanken ganz hinten in ihren Kopf geblasen wurden. Doch diesmal funktionierte das nicht. Maren fuhr noch schneller.

Als sie vor ihrer Haustür zu Stehen kam, schloss sie zuerst das Fahrrad ab. Dann ging sie in die Wohnung, lehnte sich an die Tür und atmete tief durch. Ihre Mutter war nicht zu Hause, das wusste sie. Also hatte sie einen freien Tag vor sich. Maren ging in ihr Zimmer. Die Tür sperrte sie trotzdem zu; das war ihr schon zur Gewohnheit geworden. Dann riss sie ihre Schreibtischladen auf und wühlte darin herum, bis sie ein leeres Heft in der Hand hielt. Sie schlug es auf, nahm den nächstbesten Stift zur Hand und begann zu schreiben.


Mein Geheimnis kennt keiner. Ich habe es noch niemandem gesagt.

Meine drei Freunde denken, sie wissen alles über mich. Ich habe ihnen auch wirklich alles aus meinem Leben erzählt. Fast. Bis auf mein Geheimnis. Das kennen sie nicht, und das ist auch gut so. Die drei sind schließlich nicht ich.

Ich habe Vertrauen zu ihnen. Aber ich denke, mein Geheimnis kann ich ihnen nicht sagen. Sie würden es vielleicht falsch verstehen. Ich habe Angst, sie würden mich nicht ernst nehmen.

Mein Geheimnis ist so geheim, dass ich es nur wage, daran zu denken, wenn sich niemand in meiner Nähe befindet. Mein Gesicht könnte mich verraten.

Ich weiß, ich kann es nicht mehr lange geheim halten. Es handelt sich nur noch um ein paar Monate, vielleicht Jahre. Aber ich habe Angst vor dem Moment, in dem die Wahrheit über mich ans Licht kommt.

Vielleicht weiß es meine Mutter, ich habe keine Ahnung. Sie hat mich nie darauf angesprochen. Meine Mutter weiß inzwischen weniger aus meinem Leben als meine Freunde. Ich habe das Gefühl, sie würde mich gerne besser kennen lernen, aber das lasse ich nicht mehr zu. Früher war das anders. Aber jetzt nicht mehr.

Mein Geheimnis kennt keiner. Ich habe es noch niemandem erzählt. Doch hier schreibe ich es auf.

Ich bin kein Mädchen, wie alle denken.

Ich bin ein Junge.