Clara Koss (13)

Der Beginn einer Freundschaft

Man schreibt das Jahr 1853, und viele Familien aus dem alten Europa verlassen den Kontinent, um in das »Gelobte Land« Amerika auszuwandern. So auch Alexander und seine Eltern.

Alex drehte sich gelangweilt wieder zum großen Holzfenster. Die Rauchschwaden der Dampflok zogen ohne Unterbrechung an ihnen vorbei. Schon seit mehr als zwölf Stunden fuhren sie mit dem Zug. Nur um Wasser zu holen, musste der Zug seine Fahrt immer wieder unterbrechen.

Pabam, pabam!, machte der Zug immer, wenn er über eine Holzschwelle fuhr. Dabei wackelten die Waggons regelmäßig nach rechts und nach links. Das lange Sitzen auf den harten Holzpritschen tat Alex schon weh, und noch immer war ihr Ziel nicht in Sichtweite. Draußen zogen Wiesen mit hohen Gräsern an ihnen vorbei. Nichts als Steppe und Wiesen. Bis jetzt hatten sie erst zwei Bahnhöfe passiert. Und jedes Mal schaute alles so anders aus, als er es aus seiner Heimat England kannte. Die wenigen Menschen, die er auf den Bahnsteigen erblickte, waren ganz anders gekleidet, als er gewöhnt war. Außerdem hatten sie eine von der Sonne gebräunte Haut. Alex war nun doch recht froh, dass er in den letzten zwei Jahren die spanische Sprache lernen musste. So verstand er jetzt recht vieles, was die Menschen hier sprachen.

Pabam, pabam!, dieses monotone Geräusch ließ Alex immer wieder die Augen kurz zufallen. Es schien, als wolle die Zeit nicht vergehen. Und die Stadt, zu der sie fuhren, war weit und breit nicht zu sehen.

»Alexander, hör auf, so zu tun, als ob das alles das Schlimmste auf der Welt wäre«, meinte seine Mutter, die ihm gegenüber saß. Ihr Kleid nahm einen großen Teil der Sitzbank ein, und die Federn auf ihrem Hut wippten gleichmäßig mit der Bewegung des Zuges. Alexander nannte sie ihren Sohn nur, wenn ihr sein Verhalten nicht gefiel. Sie rollte entnervt mit den Augen.

Alex antwortete nicht. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt.

»Sind wir bald da?«, fragte er ungerührt.

Sein Vater antwortete ebenfalls ungehalten: »Du hörst dich an wie ein kleines Kind. Ich dachte, du wärst doch schon 16 Jahre.«

»Wenn ihr mich wie 16 Jahre behandeln würdet, dann wären wir nicht hier! Zumindest ich nicht«, dachte Alex, aber laut sagte er natürlich nichts.

Endlich, nach insgesamt 15 Stunden, hielt der Zug in Ures, einer kleinen Stadt in der Nähe der mexikanischen Grenze zu Texas. Die Sonne stand immer noch ziemlich hoch am Himmel, und ein warmer Wind begrüßte Alex und seine Familie. Der Wind brachte auch Sand mit, sich der sich gleich auf Alex’ weißes Gesicht legte. »¡Bien venida à México!«, begrüßte sie ein junger Mann. Alex blickte über den Bahnhof und stellte fest, dass seine Mutter nicht recht hatte. »Es ist das Schlimmste auf der Welt!«, dachte Alex, atmete dabei tief aus, und seine Schultern hingen nach unten. Er wusste ja auch noch nicht, was ihn in seinem neuen Zuhause erwarten würde.

Die Sienda, die sein Vater gekauft hatte, lag ein Stück außerhalb der Stadt, direkt neben der Grenze, die das Land der Siedler und das Land der hier lebenden Indianer teilte. Rund um die Sienda lagen Felder und Weiden, auf denen Pferde und Rinder weideten.

Eine kleine, rundliche Mexikanerin kam strahlend auf die Neuankömmlinge zu und sprach sie in einer Mischung aus Spanisch, Englisch und noch etwas, das Alex nicht kannte, an. Nach langem Überlegen verstand er schließlich, dass sie sich vorgestellt hatte. Die kleine Gesellschaft ging nun ins neue Haus zum Kaffeetrinken. Alex hatte keine große Lust, viel lieber hätte er sich die Umgebung angeschaut. Bei den Ställen standen einige Burschen, die zu ihnen herüber starrten. Da ging Alex doch lieber hinter seinen Eltern und der Mexikanerin ins Haus.

Am Abend, als es draußen schon dämmerte, stand Alex am Fenster seines Zimmers und sah hinaus auf die Weide, wo eine Gruppe von Pferden graste. Die Landschaft strahlte eine Ruhe aus, und manchmal konnte man das Schnauben der Pferde durch das geschlossene Fenster hören. Während sein Blick über die Landschaft glitt, entdeckte er auf einmal etwas höchst Eigenartiges. Am hinteren Zaun der Weide stand eine Gestalt. Sie war sicher mehr als einen Kopf kleiner als Alex und, soweit er das erkennen konnte, schien sie sich am Zaun zu schaffen zu machen. Einen Moment stand die Gestalt noch ruhig da, dann war sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Doch an der Stelle, wo das Wesen gestanden hatte, fehlte nun eine Latte. »Da will jemand, dass die Pferde ausbrechen!«, schoss es Alex durch den Kopf. Rasch rannte er die Stiegen hinunter ins Erdgeschoss, immer zwei Stufen auf einmal.

»Vater!«, rief er, »da will jemand die Pferde stehlen!«

»Das war sicher einer dieser verfluchten Indianer!«, rief Pedro, der mexikanische Helfer.

Alex runzelte seine Stirn und schaute seinen Vater fragend an.

»Das würdest du nicht verstehen. Du weißt nichts von den Gesetzen in diesem Land.«

Alex war sauer, wieder keine Antwort. Warum mussten seine Eltern ihm das antun! Er wollte sowieso nicht hierher, und nie eine Antwort auf seine Fragen. Richtig, wie ein kleines Kind wurde er behandelt, nicht wie ein junger Mann! Immerhin war er ja schon 16! Er drehte sich auf seinen Schuhabsätzen um und ging die Stiegen wieder hinauf in sein Zimmer. Ganz langsam, vielleicht konnte er doch noch etwas vom Gespräch der Erwachsenen mitbekommen.

Am nächsten Tag ging Alex auf die Weide zu der Stelle im Zaun, wo der vermeintliche Indianer den Zaun bearbeitet hatte. Gleich daneben floss ein kleiner Bach. Einer der Mexikaner hatte Alex gesagt, dass dies die Grenze zum Indianerreservat sei. In der Gegend musste man größte Vorsicht walten lassen, denn die Indianer verstanden keinen Spaß. Alex war aber neugierig und spazierte den Bach entlang. An einer breiten, seichten Stelle blieb er stehen. Da traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf. Er sah sich hektisch um, doch niemand war zu sehen. Schon traf ihn wieder etwas am Kopf, und diesmal war Alex schneller. Auf einem Ast am anderen Ufer saß ein Tier, das aussah wie eine Mischung aus Eichhörnchen und Fledermaus. Es stieß ein Geräusch aus, dass ein bisschen wie ein Lachen, oder besser ein Gackern, klang, und warf immer wieder mit etwas Seltsamen auf Alex. Hastig duckte sich dieser, um nicht erneut etwas abzubekommen.

»Bengal! Kerum!« Das Tier drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und verschwand gleichzeitig. Alex sah sich um, konnte aber nichts entdecken.

Erst beim Mittagessen hatte er Zeit, sich etwas genauer mit der Sache auseinander zu setzen. »Ich hab im Wald, am Bach, ein komisches Tier gesehen. So Eichhörnchen und Fledermaus. Habe noch nie etwas von diesen Tieren gehört«, erzählte er Pedro.

Dieser musste lachen. »Ja, ja! Das war ein Flughörnchen. Die Indianer nennen sie Kapeka, und sie halten Kapekas als Haustiere.«

Alex überlegte, ob er auch etwas von der Stimme erzählen sollte, die er gehört hatte. Doch er beschloss, es nicht zu tun, bevor er mehr über die Indianer wusste. Sehr beliebt dürften die Indianer unter den Mexikanern nicht sein.

Immer wieder zog es Alex zum Bach. So stahl er sich jede Minute, die er unbeaufsichtigt war, zur Weide und weiter zum Bach. Er lief ihn entlang, auf der Suche nach einer Stelle, wo er trockenen Fußes das Wasser überqueren konnte. Auf der anderen Uferseite fing der Wald an. Vorsichtig kletterte er über Äste und Steine. Da knallte etwas direkt neben ihm gegen einen Baum. Alex sah sich um. Auf einem Ast saß das Flughörnchen vom Tag zuvor. Quietschvergnügt hüpfte es auf und ab und warf immer wieder etwas nach Alex. Jetzt konnte er erkennen, womit das Tier immer nach ihm warf. Es waren Nüsse, große, steinharte Nüsse.

Da ertönte wieder die gleiche Stimme wie am Vortag. »Bengal! Kerum, eder eto get kem aderes!«

Das Tier drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam, und stieß einen schrillen Schrei aus.

Kurz darauf stand ein Mädchen unter dem Baum. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus grobem Stoff, das mit allen möglichen Bildern bemalt war. Schuhe trug sie keine. Das lange kupferfarbene Haar war offen und hatte viele bunte Bänder und andere Dinge eingeflochten. Ihre Haut war bronzefarben und die Augen nebelgrau.

Das Mädchen sah kurz zu dem Tier auf, wandte sich jedoch gleich zu Alex um: »Wet bit to?«, fragte sie, in der gleichen Sprache, in der sie mit dem Tier sprach.

»Ich verstehe dich nicht, leider«, sagte Alex.

Das Mädchen lächelte und wiederholte die Frage auf Spanisch: »¿Quien eres?« (»Wer bist du?«)

Alex sah sie verwirrt an.

Ihr Spanisch war sehr ordentlich, auch wenn man erkannte, dass dies nicht ihre Muttersprache war.

Hastig antwortete Alex: »Mein Name ist Alex, und ich wohne auf der Farm dort drüben!«, und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war.

»Mein Name ist Many – Frühlingsblume, und das ist Bengal«, sie deutete auf das Flughörnchen, das nun auf ihrer Schulter saß.

Noch bevor einer von ihnen etwas Weiteres sagen konnte, schallte eine Stimme durch den Wald: »Many, kerum! We brot to!«

»Ik kerum!« Many begann zu laufen und drehte sich noch einmal kurz um. »Mach’s gut, Alex!«, rief sie ihm noch einmal zu, bevor sie, mit Bengal auf der Schulter, im Wald verschwand.

Alex schaute ihr nach und musste dabei den Kopf schütteln. Ob die Begegnung nur ein Traum war? In einem war er sich sicher: Many war ein Indianermädchen. Was er jedoch nicht verstand, war die Ablehnung Pedros den Indianern gegenüber. Insgeheim hoffte Alex, dass er Many bald wieder sehen würde.

Beim Abendessen wurde über die Ereignisse des Tages gesprochen.

»Was ist an den Indianern eigentlich so schlimm?«, fragte Alex plötzlich die Runde.

Sein Vater begann zu lachen. »Du hast einen getroffen, hab ich Recht?«

Alex überging sein Gefühl, ausgelacht zu werden, obwohl er diesen Zug an seinem Vater gar nicht mochte.

Nach einer kurzen Pause erklärte sein Vater: »Die Indianer an sich sind nicht schlimm. Es ist nur ein Teil von ihnen, der ständig Ärger macht! In dieser Gegend leben die Adermal-Indianer. Schon seit langer Zeit verhandeln wir mit ihnen über einen Frieden, aber es kommt nicht wirklich etwas dabei heraus.«

»Wer ist das Problem? Sie oder wir?«, wollte Alex wissen.

Nach kurzer Bedenkzeit gab sein Vater zu: »Ich glaube, im Grunde, wir, leider.«

Als Alex im Bett lag, dachte er über die Worte seines Vaters nach. Warum waren wir das Problem, und warum waren die Indianer so verhasst, wenn doch nicht sie wirklich die Schuld hatten?

Tags darauf ging Alex wieder in den Wald. Er hoffte, Many zu treffen. Vielleicht könnte sie seine Fragen beantworten. Eine Zeit lang zog er durch den Wald, setzte sich schließlich auf einen Baumstumpf und betrachtete die Bäume um sich herum. Es waren zum großen Teil Laubbäume, welche, erkannte er jedoch nicht.

»Du bist wieder da!«, die Stimme von Many traf an sein Ohr, aber er konnte nicht erkennen, wo sie herkam.

»Wo bist du?«, fragte er und blickte um sich.

Many antwortete nur: »Geh wieder! Du solltest nicht hier sein. Sie mögen dich nicht, sie hassen dich. Geh weg und komm nicht wieder.«

Alex sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Wer hasst mich?«

»Mein Volk!«

»Aber warum? Niemand kennt mich.«

»Weil du einer von ihnen bist, von den Weißen!«

»Na und? Ich hab’s mir ja nicht ausgesucht!«

»Du verstehst das nicht. Anscheinend kannst du es nicht verstehen.«

»Erklär’s mir halt, vielleicht kann ich doch!«

»Feindschaft, Krieg, Zerstörung, Tod. Das ist der Grund. Nun geh endlich, du bist schon viel zu lange hier.«

Langsam wurde es Alex zu dumm. Er konnte Many nirgends sehen. »Jetzt zeig dich endlich!«, rief er wütend.

Doch Many war schon wieder verschwunden.

Niedergeschlagen kehrte Alex nach Hause zurück. Auf dem Weg dachte er über ihre Worte nach. Ich geh trotzdem zurück in den Wald, beschloss er. Ich will es wissen! In seinem Kopf spukten Manys Worte – Krieg, Feindschaft, Zerstörung, Tod.

Diesmal versuchte Alex gar nicht, von seinem Vater eine Antwort auf seine Fragen zu bekommen.

Deshalb packte er am Morgen darauf seinen Rucksack, sattelte sein Pferd Bolero und machte sich auf in den Wald. Wenn ihm niemand etwas erklären wollte, musste er sich die Antworten eben selber suchen. Gut zwei Stunden wanderte Alex, teils am Rücken seines neuen Freundes Bolero, ohne auf einen Menschen zu treffen, durch den Wald. Vögel sangen ihre Lieder. Es klang, als würden sie Geschichten aus alten Zeiten erzählen. Nager hüpften durch die Baumkronen, als ob sie den beiden Wanderern den Weg zeigen wollten. Sonst war es still. Die Sonne zeigte sich auch immer wieder durch das dichte Laub und erwärmte den Waldboden, bis feiner Dampf aufstieg. Ganz sicher war sich Alex nicht, ob es wirklich eine gute Idee war, in das Indianerland zu gehen.

Gerade dachte Alex nach, ob er nicht umkehren sollte, als eine bekannte Stimme durch den Wald schallte: »Bengal, kerum! To Beta!« Many!, dachte Alex, und eine angenehme Unruhe ergriff ihn. Sie sucht wieder ihr Flughörnchen! Alex schaute sich in den Bäumen um, ob Bengal nicht auf einem der Äste auf seine Herrin wartete. Da entdeckte er das Hörnchen auf einem Ast direkt über seinem Kopf, und es schrie begeistert, als hätte es einen Schatz entdeckt. Da trat Many aus dem Dickicht der Bäume. Sie sah kurz zu ihrem Tier hinauf, dann richtete sie ihre nebelfarbenen Augen auf Alex. Wie eine Gestalt aus einer anderen Welt wirkte Many im Gegenlicht der Sonne, um sie herum stiegen Nebelschwaden auf. Bolero blies laut Luft durch seine Nüstern und schabte mit seinem Vorderhuf im Waldboden.

»Du bist schon wieder hier. Verschwinde! Ich sagte es dir doch schon, sie mögen dich nicht! Sie werden dich nicht verschonen, wenn sie dich finden!«, rief sie und bei jedem Wort wurde ihre Stimme lauter und schriller.

»Nein, ich gehe nicht! Sag mir erst, wer mich so hasst. Niemand kennt mich! Schau mich an, was mache ich Böses, warum sie mich so hassen?«, antwortete Alex mit entschlossener Stimme.

Many schüttelte den Kopf. »Du bist hier nicht wirklich zu Hause! Du bist hier nicht aufgewachsen, daher kennst du unsere Geschichten nicht. Du weißt nicht, wie sehr ihr uns wehgetan habt!«

»Dann erkläre es mir, bitte! Niemand will mir etwas sagen!« Alex blickte Many direkt und tief in die Augen, mit der Hoffnung, nun endlich eine Antwort auf seine Frage zu bekommen.

Das Nebelgrau in Manys Augen hatte sich inzwischen verdunkelt, und die Pupillenform veränderte sich zu einem Kreis. Plötzlich wirkte sie so traurig und zerbrechlich. Ein kleines Zucken um ihre Mundwinkel zeigte ihre Nervosität.

Einen Moment schwieg Many, dann setzte sie sich auf den Boden neben Bolero und begann zu sprechen: »Na gut, aber unsere Geschichte ist keine schöne.

Ich nehme an, du hast in der Schule von den Indianerkriegen gehört. Damals wurden wir auf die Dinge reduziert, welche die Weißen an unserer Kultur nicht verstehen, und die wenigen Überlebenden mussten ihre Heimat verlassen und wurden in Reservate gesperrt. Heute, viele Jahre später, gibt es immer noch einige wenige von meinem Volk, aber leider haben die Menschen noch immer nichts dazugelernt. Die Weißen, wie du einer bist, wollen nicht einsehen, dass wir, mein Volk, auch unsere Freiheit, unsere Kultur, unser Leben und unsere Rechte haben wollen. Deshalb ist wieder Krieg ausgebrochen. Vorerst nur am Tisch, aber bald wird es zum offenen Kampf kommen, und dann wird es hier nichts als Zerstörung, Hass und viel Leid geben.«

Alex hatte aufmerksam zugehört und starrte Many ins Gesicht. Sein Mund war leicht geöffnet, doch seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen. »Warum sind die Menschen so böse?«, flüsterte er. »Warum wollen wir Weißen euch nicht geben, was euch gehört? Warum können wir nicht nebeneinander leben, voneinander lernen und gemeinsam auf unser Land achten?«

»Weil die Weißen uns nicht als zivilisierte Menschen sehen. Wir wollen nicht so wie ihr leben. Wir haben unseren Glauben, unsere Bräuche und unsere Kultur. Alles, was uns heilig ist, wird von euch kaputt gemacht, und ihr nehmt uns das letzte Land weg, wo wir leben können. Mein Volk bekommt keine Arbeit, und wir haben kein Geld, von dem wir Essen kaufen können.«

Inzwischen hatte sich Bengal auf ihrem Schoß zusammengerollt und ließ sich von Many über das braune Fell streicheln. Bolero spitzte die ganze Zeit hindurch seine Ohren und drehte sich in alle Richtungen, um zu lauschen, ob sich ein Feind in der Nähe befand. Eine Zeit lang schwiegen sie, und nur die Geräusche des Waldes waren zu hören.

Weit weg knackste ein Ast, und Many sprang plötzlich auf. »Du bist schon viel zu lange in unserem Wald. Geh jetzt lieber, bevor dich jemand findet. Ich weiß, dass du nicht so bist wie die anderen Weißen, aber mein Volk mag euch alle nicht!«

Eigentlich wollte Alex noch viel mehr wissen. Manys Worte hatten ihn sehr betroffen und traurig gemacht. Fast wollte eine Träne in sein Auge rutschen, doch diese konnte er gerade noch verhindern. Er nahm Boleros Zügel und zog ihn hinter sich her.

»Many, ich will aber noch viel mehr über dich und dein Volk wissen! Du musst mir alle Geschichten erzählen, damit ich die Möglichkeit habe, euch zu verstehen.«

»Wir treffen uns morgen, wenn die Sonne senkrecht über dem Kirchturm steht«, sagte Many, drehte sich um und verschwand in ihre Welt, so geheimnisvoll, wie sie auch immer erschien.

Bengal saß wieder auf ihrer Schulter und drehte sich noch einmal nach Alex und Bolero um. Diese machten sich auf den Heimweg, zurück in die Welt der Weißen, die Welt, die für Alex auch nicht ganz zu verstehen war.

Zu Hause dachte Alex immer noch über die Zeitangabe von Many nach, denn genau verstand er diese nicht, und er kannte auch keinen Kirchturm, der zu sehen gewesen wäre. Als er zur Erkenntnis kam, dass Many keine echte Kirche gemeint haben konnte, lief Pedro auf ihn zu.

Von Weitem rief er: »Hey Alex, wo warst du so lange? Wir haben dich gesucht! Es ist nicht ungefährlich, alleine wegzugehen und niemandem zu sagen, wohin.«

Da ihm keine glaubwürdige Ausrede einfiel, die Wahrheit konnte er auch nicht sagen, blieb er stumm.

Pedro, endlich bei Alex angelangt, runzelte die Stirn und gab ihm einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf. »Mach das nicht noch einmal, die Sorgen waren sehr groß und die Angst noch größer!« Freundschaftlich legte er seinen sonnengebräunten Arm auf Alex Schulter und schob ihn vor sich ins Haus.

Alex hatte noch eine Frage, die ihm sehr auf der Zunge brannte. »Pedro, sag mir, was ist der Kirchturm in dieser Gegend?«

Pedro blieb sofort stehen, drehte Alex an seiner Schulter zu sich um und kniff die Augen zu zwei Schlitzen. Dann begann er, laut zu lachen. »Du warst schon wieder bei den Indianern! Ich hab mir ja so etwas gedacht.« Als er sich beruhigt hatte, sahen sich die beiden tief in die Augen. »Der Felsen drüben im Indianerwald wird ›der Kirchturm‹ genannt. Frag mich nur bitte nicht, warum«, erklärte Pedro, nachdem er das Blitzen in Alex Augen gesehen hatte.

Alex hatte Mut gefasst und stellte noch eine Frage: »Wenn wir den Indianern erlauben würden, wieder in ihre angestammte Heimat zurückzukehren, würden dann nicht vielleicht die Probleme weniger werden?«

Pedro war auf diese Frage nicht gefasst, schaute kurz zu Alex’ Vater, ehe er antwortete: »Ich glaube nicht. Selbst mit dem Recht, auf ihrem Land zu leben, denke ich nicht, dass sie uns in Ruhe lassen würden. Wir haben ihnen zu viel Leid zugefügt.«

»Aber wenn wir versuchen, das wieder gut zu machen?«, ließ Alex nicht locker, »Dann würden sie uns doch sicher …«

»… nicht verzeihen, dass wir ihre heiligen Stätten nicht in Ruhe ließen«, fiel sein Vater ihm ins Wort. »Alex, glaubst du wirklich, dass du mit den Indianern verhandeln kannst wie mit einem von uns? Die sind ja nicht zivilisiert! Sie sehen alles aus einer ganz anderen Perspektive, und außerdem, wer sagt uns, dass sie überhaupt bereit sind, solche Dinge zu verhandeln? Sie verlangen Gleichberechtigung, aber sie sind nicht wie wir.«

Alex fand, dass sein Vater so tat, als wären die Indianer keine Menschen, oder zumindest nicht Menschen mit gleichen Rechten. Das erinnerte ihn an die Aussage von Many, und es machte ihn sehr traurig. Doch Alex wusste, dass seine Meinung für seinen Vater nicht zählte, und so ging er zu Bett. Aber das Gefühl von Traurigkeit und Niedergeschlagenheit blieb. Im Zimmer stieg dann sein Groll über den Vater, der in seinen Augen ungerecht und hartherzig war.

Der nächste Tag hätte nicht schlechter sein können, zumindest wenn man vom Wetter ausging. Schon in den frühen Morgenstunden begann es zu regnen. Trotzdem konnte Alex nicht früh genug aufbrechen, um zur Flussbiegung zu kommen, auch wenn er sich nicht sicher war, dass Many dort auftauchen würde. Dank Pedro wusste er ja, was mit dem Kirchturm gemeint war. Er beobachtete den Himmel, und als sich die Sonne endlich zeigte, stellte er erschrocken fest, dass er die Zeit übersehen hatte. Die Sonne war schon am Kirchturm vorübergezogen. So schnell er konnte, rannte er zum Fluss. Many saß auf einem großen Stein und warf Bengal Nüsse zu, die dieser wieder zurückwarf.

»Du kommst aber spät!«, sagte sie, ohne ihren Kopf zu heben und ihren Blick von Bengal zu lösen. Noch bevor Alex eine Entschuldigung aussprechen konnte, sprang sie auf und ging zum Wald. »Ich habe mit ein paar Leuten meines Volkes gesprochen. Sie sind einverstanden, dass ich dich in unser Dorf bringe und dir einige Dinge über uns erzähle und zeige. Aber du musst mir versprechen, dieses Wissen nie gegen uns zu verwenden oder jemandem anderen mitzuteilen, der es missbrauchen könnte.«

Alex nickte und fühlte sich sehr geschmeichelt, dass ihm so ein großes Vertrauen entgegengebracht wurde.

Many führte ihn in den Wald auf einem Weg, der für Alex nicht zu sehen war. Plötzlich lichtete sich der Wald, und vor ihnen erstreckte sich eine gigantische, grasbewachsene Ebene. Ein gutes Stück innerhalb dieser Ebene lag ein kleines Indianerdorf. Es bestand aus in zwei Kreisen angeordneten spitzen, hohen Tipis (das hatte er schon in der Schule gelernt), die in allen möglichen Farben angemalt waren. Alex beschleunigte neugierig seine Schritte, doch Many hielt ihn zurück. Sie zog eine Holzschachtel aus ihrer Tasche, klappte sie auf und malte mit der darin befindlichen Farbe ein Zeichen auf Alex Stirn.

»Nicht alle freuen sich über deinen Besuch«, erklärte sie, während sie die Holzschatulle wieder schloss. »Dieses Zeichen wird sie davon abhalten, dir etwas anzutun.«

Gemeinsam gingen sie weiter. In Alex machte sich eine Unsicherheit breit, und er rückte näher an Many heran. Als sie zwischen die ersten Zelte traten, kam ein kleines Mädchen angelaufen, das hastig etwas zu Many sagte. Doch als sie Alex erblickte, verfärbte sich ihre Gesichtsfarbe weiß, und sie huschte davon. Er sah sich aufmerksam um. Jedes Tipi schien andere Farben und Muster aufzuweisen. Wie er jetzt erkennen konnte, waren es auch nicht zwei, sondern drei Zeltkreise.

»Sie berichtet dein Eintreffen nur den anderen Mädchen«, lächelte Many, »wenn sie Angst hätte vor dir, hätte sie laut geschrien.«

Many führte ihn durch das Dorf. Überall sahen ihnen die Indianer neugierig nach. Ein paar Kinder rannten ihnen sogar ein Stück hinterher, aber als sie bemerkten, dass Alex sie entdeckt hatte, huschten sie rasch hinter ein Zelt. Many erklärte Alex die Anordnung der Zelte. Je weiter innen ein Tipi stand, desto wichtiger waren seine Bewohner. Der innerste Kreis bestand nur aus drei Zelten, dem des Häuptlings – des Stammesführers, dem des Schamanen und dem des stärksten Kriegers.

»Warum haben alle Zelte verschiedene Farben?«, interessierte Alex.

»Nicht alle«, korrigierte Many, »viele haben ähnliche oder gleiche. Es sind die Muster der Familien. Jedes der Familienmitglieder darf die gleichen Muster verwenden. Außerdem ist auf der Tür noch ein Zeichen angebracht, das über den Beruf des Inhabers Aufschlüsse gibt.«

»Dann sind die Muster so etwas wie Türschilder«, überlegte Alex und freute sich über die Gemeinsamkeit, die er entdeckte.

Vor einem der drei mittleren Tipis blieb Many stehen. »Hier wohnt meine Familie«, sagte Many feierlich.

Alex versuchte, das Schild an der Türe zu entschlüsseln. Es sah aus wie eine Feder, überkreuzt mit einem Pfeil. Darüber schien eine Sonne.

Many kam seiner Frage zuvor, und erklärte: »Ich bin die Tochter des Häuptlings.«

Alex starrte sie erstaunt an. Seine ohnehin schon großen Augen riss er noch größer auf. Dabei runzelte sich seine Stirn, und seine Nasenflügel blähten sich leicht auf.

Many überging dies und meinte nur: »Wenn du willst, zeige ich dir unsere Pferde. Da kann ich dir auch erzählen, wer für den kaputten Zaun auf deiner Sienda verantwortlich ist.«

»Woher weißt du das?«, fragte Alex verdutzt und folgte ihr aus dem Dorf zu den Pferden.

»Ich weiß so einiges«, kicherte sie.

Gemeinsam waren sie gerade ein Stück auf die Grasebene getreten, da stieß Many einen Laut aus, der dem Schrei eines Adlers ähnelte. Als Antwort drang ein lautes Wiehern an Alex Ohr, und über das Gras näherte sich ihnen ein Pferd. Ein Pferd, das mystisch und geisterhaft wirkte, so unwirklich, wie es, wie von Geisterhand geführt, zu ihnen lief. Alex hatte es die Sprache verschlagen. Die Grundfarbe des Pferdes war goldbraun mit einem leichten Übergang ins Cremefarbene. Darauf war, nur auf der Brust, ein Fleck, der grau schimmerte. So, als wäre dem Fellzeichner die Farbe ausgegangen. Der Fleck hatte die Form eines Vogels, den man im Flug betrachtete. Die Mähne und der Schweif waren so goldfarben wie das Fell des Körpers. Ein Stück vor ihnen blieb das Pferd plötzlich stehen und schien sie zu beobachten. Alex konnte seine Augen gut sehen, erschrak jedoch, als er bemerkte, dass es blind war.

»Das ist Luana. Sie ist mein Pferd!«, sagte Many mit großem Stolz in der Stimme. Sie rief leise noch einmal den Namen. Die Ohren der Stute drehten sich in Manys Richtung. Sie senkte den Kopf und trabte auf Many zu. Diese streckte die Hand aus und streichelte Luana.

»Sie ist blind, oder?«, fragte Alex, als er seine Stimme wieder gefunden hatte.

Many nickte. »Deshalb wird sie auch der ›Blinde Adler‹ genannt! Als ich sie bekommen hatte, war sie noch ein Fohlen. Alles, was sie kann, habe ich ihr beigebracht! Und sie ist die Beste und Gescheiteste!«, antwortete Many nicht ohne Stolz. Sie umfasste Luana Hals und legte ihren Kopf an den langen Hals des Pferdes. Dabei leuchteten Manys rote Haare noch schöner in der Sonne.

»Aber wenn sie blind ist, wie findet sie dich?«, fragte Alex, der sich nicht vorstellen konnte, wie ein blindes Pferd nützlich für den Menschen sein konnte.

»Mach die Augen zu«, antwortete Many, und als Alex seine Augen geschlossen hatte, rief sie: »Wo bin ich jetzt? Kannst du mich finden?«

Alex dachte nach und versuchte die Richtung, aus der Manys Stimme kam, zu orten. Mit ausgestrecktem Arm deutet er ein wenig links neben Many.

»Fast, aber gar nicht so schlecht«, lachte sie und sprang vom Stein, den sie erklommen hatte.

»Soll das heißen, dein Pferd sieht mit den Ohren?«, fragte Alex ungläubig.

»Mehr oder weniger«, erklärte sie. »Ich würde eher sagen, sie sieht mit den Beinen und Hufen. Luana kann über den Boden Vibrationen spüren, die jedes Objekt durch Bewegung erzeugt.«

»Aber Steine bewegen sich nicht«, entgegnet Alex.

»Da hast du recht, aber sie unterbrechen die Schwingungen, wie bei Fledermäusen. Das geht jedoch nur dort, wo Luana sich auskennt.«

Alex zog seine Augenbraun in die Höhe und sah Many mit weit geöffneten Augen an. »Woher weißt du eigentlich, dass sie so ihre Umgebung wahrnimmt?«, wollte er wissen.

Many war inzwischen ganz ins Streicheln von Luana versunken und hörte Alex Frage nur vom Weiten. »Weil ich die gleiche Methode anwende, wenn es dunkel ist!«, antwortete sie leise und flüsterte dabei liebevoll Luana etwas ins Ohr. Die Stute wieherte leise, schnaubte dann, spitzte ihre Ohren und drehte diese in die andere Richtung.

Ein junger Mann trat aus dem Wald, steuerte auf die drei zu und hatte so ein leichtes Grinsen um seinen Mund. »Many, ist das dein ›Nicht Freund‹?«, rief er ihnen auf Spanisch entgegen.

Many drehte sich zu dem jungen Mann um und sah ihn mit einem so vernichtenden Blick an, dass Alex lieber nicht in der Haut dieses Mannes stecken wollte. Gleich lichtete sich der finstere Blick Manys, sie grinste und blinzelte mit ihren Augen. »Ja, das ist Alex«, und Alex stellte sie den jungen Mann vor: »Das ist mein großer Bruder, Aled.«

Der Indianer grüßte, indem er die Hand mit ausgestreckten Fingern in die Höhe hob.

Alex hatte noch nie darüber nachgedacht, wie ein richtiger Indianer aussah, konnte, zumindest an der Kleidung, nichts Ungewöhnliches feststellen. Sein Gewand war aus dem gleichen Material wie Manys Kleid, nur trug er Schuhe. Diese waren aus Leder und hatten eine bunte Perlenstickerei. Die Gesichtszüge, Haarfarbe und Hautfarbe waren jedoch ganz anders. Er hatte dunkle, mandelförmige Augen, blauschwarze, glänzende Haare, und seine Haut leuchtete bronzefarben in der Sonne. Einen Bogen oder Köcher mit Pfeilen trug er nicht bei sich, so wie Alex sich das aus den Geschichten, die er schon gelesen hatte, vorstellte. Nur ein Messer steckte im Gürtel. Dieses ließ ihn ein wenig gefährlich aussehen.

»Bist du jetzt bald fertig mit Anstarren? Dann könnte ich dir vielleicht einige deiner Fragen beantworten, die sind dir ja richtig ins Gesicht geschrieben! Aled weiß sicher etwas über deinen Zaun«, kicherte Many und hielt dabei ihre Hand vor den Mund.

Alex fühlte, wie seine Gesichtsfarbe dunkelrot anlief. »Wie peinlich«, dachte er und wandte sofort seinen Blick zu Boden.

Aled tat, als ob er nicht wüsste, wovon seine Schwester sprach.

Diese hatte sich in der Zwischenzeit ins Gras gesetzt und stellte eine bunt bemalte Schachtel aus Holz vor sich hin. In ihr befanden sich Farbtiegel. »Ist dir schon aufgefallen, dass unsere Pferde alle frei herumlaufen? Sie gehorchen auf Worte und Laute, daher ist ein Zaun nicht notwendig. Buben aus unserem Dorf zerlegten euren Zaun. Sie können nicht verstehen, warum ihr diese Tiere so schlecht behandelt und sogar einsperrt«, erzählte Many.

»Wir wollen, dass ihr so lebt wie wir. Dass ihr unsere Gesetzte achtet«, brach es jetzt fast aus Aled heraus. »Im Grunde sind wir uns sehr ähnlich!«

Many gab einen leisen pfauchenden Ton von sich: »Viele wollen das, nicht alle. Aber keiner möchte nachgeben.«

»Wenn die Dickschädel von ihren Standpunkten abrücken würden, hätten wir eine Chance, dass wir miteinander auskommen könnten!«, überlegte Alex laut, und Aled schien damit einverstanden.

»Leider schaffen es beide Seiten nicht, einen Kompromiss zu finden«, meldete sich Aled zu Wort.

Many nickte zustimmend mit dem Kopf und tunkte ihren Finger in eine der Farben. Sie malte einen Kreis aufs Gras. In den Kreis malte sie ein Dreieck.

»Das bedeutet: Du sollst die Hoffnung nie aufgeben«, erklärte sie ihre Zeichnung.

Alex wurde immer nachdenklicher. Wie konnte er zumindest seine Familie davon überzeugen, dass die Indianer ihnen nichts Böses wollten, dass sie auch ein Recht, auf ihre Art zu leben, hatten? Und, vielleicht gab es einiges, das die »Bleichgesichter« von den »Rothäuten« lernen konnten?

»Warum quält ihr die Pferde so?«, fragte plötzlich Many und schaute dabei frontal in Alex’ Gesicht. »Ihr zwingt sie, Dinge zu tun, die sie von Natur aus niemals tun würden, und eine Belohnung bekommen sie auch nicht dafür!«, platzte es förmlich aus ihr heraus.

Alex war momentan sprachlos, doch er hatte so eine Idee. Mit Many wollte er jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt darüber sprechen.

»Warum hast du die Farben eigentlich bei dir?«, fragte er rasch, um das Thema zu wechseln.

»Weil ich sie für alle möglichen Dinge verwende, auch für das Zeichen auf deiner Stirn. Schon vergessen? Es bedeutet übrigens ›Freund‹«, gab sie noch rasch eine Zusatzinformation.

Luana hob auf einmal den Kopf. Ihre Ohren waren gespitzt und nach vorne gerichtet. Ihr Blick richtete sich zum Indianerlager, ohne etwas sehen zu können. Eine Gruppe Indianer kam auf die kleine Gruppe zu. Jeder hatte Bogen und Pfeile bei sich. Alex fiel auf, dass manche der Federn, die in den Bändern in ihren Haaren befestigt waren, besondere Merkmale aufwiesen. Eine war vollständig rot gefärbt, eine andere wies nur einen roten Punkt auf, und wieder einer anderen fehlte die Spitze. Als Alex Many danach fragen wollte, zog diese ihn auf seine Beine und stupste ihn zur Seite. Die Indianergruppe ging an ihnen vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen.

Kaum, dass sie vorbei waren, gewann Alex seine Stimme wieder und fragte: »Wer und was war das? Warum waren manche der Federn angemalt oder so gezackt?«

»Das waren unsere Krieger«, erklärte Many ehrfürchtig.

Langsam machte sie sich auf den Weg in Richtung Waldrand, und Alex hastete hinter ihr her. Jetzt war er neugierig und wollte eine Antwort auf seine Frage.

»Die Federn zeigen bestimmte Dinge an, die dem Träger im Kampf zugestoßen sind. Die rote Feder bedeutet eine Verwundung des Trägers. Nur ein roter Punkt zeichnet einen Krieger für seine Tapferkeit aus. Er hat einen Feind getötet. Und Zacken auf der Feder zeigen, dass viele getötet wurden. Wenn der Träger jemandem die Kehle durchgeschnitten hat, so hat seine Kopffeder ein Loch. Den Skalp hat er auch mitgenommen.«

Alex war entsetzt, und doch unterbrach er Many: »Was ist ein Skalp?«

»Das ist ein Teil der Kopfhaut, der heruntergeschnitten wird, die Haare bleiben dabei dran«, erklärte Many unbeeindruckt.

»Das ist ja ekelhaft!«, rief Alex, und seine Schritte wurden schneller. Ihm kam der Gedanke, jemand könnte auch ihm die Kopfhaut abziehen wollen.

»Jetzt machen wir das ja nicht mehr, aber früher! Es galt als begehrte Trophäe und steigerte das Ansehen des Trägers!«, vervollständigte Many rasch ihre Geschichte.

Den nächsten Teil des Weges gingen sie schweigend nebeneinander. Eine fast unangenehme Stille breitete sich aus. Alex dachte über all die Neuigkeiten, die er heute erfahren hatte, nach.

Langsam verstand er einige Schwierigkeiten, und dass der Konflikt nicht leicht zu lösen war. Er konnte sicher nicht viel verändern, doch alleine, wenn seine Familie und die Bewohner des Indianerdorfs mehr Verständnis füreinander hätten, könnte das schon ein Anfang für den Frieden sein. Dieser Gedanke gefiel ihm. Als sie aus dem Wald traten und die erste Koppel der Sienda in Sicht war, stieß Bengal ein lautes Pfeifen aus, und Many blieb stehen.

»Das letzte Stück musst du alleine gehen, und vergiss dein Versprechen nicht!«, erinnerte sie Alex noch.

Dieser nickte, sah hinüber zur Koppel, wo sich Bolero befand. Sein Pferd wieherte in ihre Richtung und lief auf sie zu.

»Das ist dein Pferd!«, stellte Many fest. Sie streckte ihre Hand aus und streichelte den Braunen. Bolero tänzelte hin und her, da Many anders roch als die Menschen, die er sonst kannte. Vorsichtig kletterte sie über den Zaun. Wieder zog sie eine der Farbschachteln aus ihrer Tasche. Mit weißer Farbe malte sie fünf kleine Flecken auf die Flanke des Braunen.

»Was bedeutet das?«, wollte Alex wissen, denn er ahnte schon, dass alle Zeichen eine wichtige Bedeutung hatten.

»Viel Glück!«, antwortete Many, schob die Schachtel zurück in ihre Tasche, kletterte rasch wieder über den Zaun und huschte in den Wald, wo sie sofort wieder verschwand.

»Wo bist du den ganzen Tag gewesen bist?«, fragte eine strenge Stimme. Es war Alex Vater.

Alex erschrak, da er in seine Gedanken versunken war, und zuckte mit den Schultern. Er war sich noch nicht sicher, ob er seinen Vater schon in seine Ideen einbeziehen sollte oder konnte. Nach einer kurzen Pause meinte er betont lässig: »Ich war bei den Indianern, und es war nicht der ganze Tag.«

»Du warst wo?«, fragte sein Vater ungläubig. »Was in Gottes Namen hast du dort verloren, und wie bist du hingekommen? Du hast ja keine Ahnung, wie gefährlich das ist! Auf dich muss man aufpassen wie auf ein kleines Kind! Dabei willst du immer wie ein Erwachsener behandelt werden!« Er bebte vor Zorn.

Am liebsten hätte Alex nichts mehr gesagt, doch vielleicht war das seine einzige und letzte Chance, mit seinem Anliegen auf ein offenes Ohr zu treffen.

»Stell dir vor, ich habe mir angeschaut, wie die Indianer leben, und hingekommen bin ich mit einem Indianermädchen, das ich schon kenne. Die hat mich eingeladen«, begann Alex zu erzählen. Gleichzeitig hatte er Angst, dass sein Vater gleich einen seiner gefürchteten Wutanfälle bekommen würde.

»Welchen Zweck soll dieser Besuch denn haben?«, kam auch gleich die nächste Frage.

Alex kam sich allmählich wie ein Verbrecher vor, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. »Ich will verstehen, woran es liegt, dass sich Indianer und Bleichgesichter nicht leiden können. Ich konnte jedenfalls nur Unterschiede feststellen, die für unser Leben sicher sehr hilfreich wären.«

»Ach Alex, du weißt nur einen kleinen Teil!«, versuchte der Vater, ein wenig einzulenken.

In diesem Moment betrat Pedro das Vorzimmer und sah die beiden Streithähne an. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte er etwas vorsichtig.

Alex Vater nickte mit dem Kopf: »Wusstest du, dass Alex seine Nachmittage neuerdings mit den Indianern verbringt?«

Pedro hatte ein schlechtes Gewissen, schließlich war er derjenige, der Alex sagte, was der Kirchturm war. Er hatte sich so etwas ja schon gedacht.

Alex Vater hatte Pedros Schweigen längst richtig gedeutet. »Na schön!«, sagte er, »wenn sich hier niemand mehr die Mühe macht, mir etwas zu sagen, kann ich ja gehen!«, schnaubte er vor Zorn und ging in sein Arbeitszimmer.

»Tschuldigung«, murmelte Alex hinter seinem Vater her. Er wollte ja seinen Vater nicht verärgern, und Pedro wollte er auch keine Probleme machen.

Pedro versuchte, Alex gut zuzureden: »Dein Vater wird sich schon wieder einkriegen. Hast du wenigstens etwas Interessantes herausgefunden?«

Alex fasste seinen Mut zusammen und erzählte fast alles. Aber die Sache mit Manys blindem Pferd oder dass sie Bolero angemalt hatte, behielt er lieber für sich.

Pedro hörte aufmerksam zu. »Klingt ja spannend, doch dein Vater mag die Indianer nicht. Jetzt haben sie schon wieder den Zaun kaputt gemacht, und die Reparatur kostet Geld. Außerdem wurde ein Pferd gestohlen«, fügte Pedro der Geschichte hinzu.

Das wunderte Alex. Er beschloss, mit Many darüber zu sprechen.

Pedro versuchte, in Alex’ Gesicht zu lesen. »Na, eine Erklärung gefunden, warum deine Freunde dich oder deinen Vater bestehlen?«

Alex begann zu lächeln und meinte nur: »Wir werden sehen!«, und lief in sein Zimmer.

Alles hing von Many ab.

»Vergiss es! Da mach ich sicher nicht mit!«, rief Many empört, als Alex ihr von seiner Idee erzählte.

Sie trafen sich wieder an der Flussbiegung. Many saß auf einem großen Stein im Wasser und beobachtete die Fische, die an ihr vorbeiflitzten. Alex stand am Ufer. Er hatte sie gebeten, den Grund für die Zaundemontage seinem Vater zu erklären.

»Da müsste ich ja verrückt sein!«, schrie sie Alex zu.

»Ach, komm schon! Ist ja nicht so eine große Sache! Mir hast du es ja auch erklärt. Du musst ihm ja nicht alles sagen, zumindest nicht gleich!«, versuchte Alex, Many zu bearbeiten.

Sie schüttelte nur den Kopf. Dabei hüpfte ihre rote »Mähne« auf und ab. »Keine Chance. Wenn dein Vater dir schon nicht zuhört, dann wird er auch sicher mir nicht zuhören!«, ergänzte sie ihren Satz.

Alex wollte nicht locker lassen. »Dir wird er eher zuhören, er wartet ja auf eine Entschuldigung«, fügte er hinzu.

Many hob ihren Kopf, weitete ihre Augen und setzte einen trotzigen Gesichtsausdruck auf: »Ich bin ja nicht beklopft! Ich halte von deiner Idee gar nichts. Das bringt auch sicher nichts!«, stellte sie fest.

»Ach, komm schon, es ist doch einen Versuch wert. Bitte, nur ein einziges Mal! Ich bleibe auch die ganze Zeit bei dir!«, versuchte es Alex ein letztes Mal.

Manys nebelfarbene Augen zogen sich zusammen, ihre Pupillen verengten sich zu Schlitzen wie bei Katzen. »Weißt du, warum man mir im Dorf viel mehr Respekt zeigt als anderen Mädchen?«, fragte sie plötzlich. »Weil ich einmal Häuptling werde, und das will ich nicht aufs Spiel setzen. Doch wenn ich es mir genau überlege, könnten wir ja den Anfang für einen Frieden machen. Du hast recht, einen Versuch ist es wert.«

Alex nahm diese Botschaft gelassen auf, zumindest nach außen. Innerlich jubelte er und würde Many am liebsten umarmen. »Super, danke!«, hauchte er, mehr brachte er nicht heraus.

Noch am gleichen Tag ging er zu seinem Vater und schaffte es, ihn zu einem Treffen zu überreden.

Alex begleitete seinen Vater zur Koppel, wo Bolero stand. Many saß bereits auf dem Zaun, und Bengal hockte auf ihrer Schulter.

»Ein Mädchen?«, rutschte es Alex’ Vater aus dem Mund.

Many überging diese Beleidigung, lächelte, und ihr Blick aus ihren nebelfarbenen Augen wanderte über die herannahenden Gestalten. »Haben Sie damit ein Problem?«, fragte sie schmunzelnd, als Alex und sein Vater bei ihr angekommen waren.

Einen Augenblick war Alex’ Vater verwirrt über die Situation, dann fing er sich wieder und schüttelte rasch den Kopf. »Natürlich nicht«, sagte er hastig. »Was haben Sie mir denn mitzuteilen, mein Fräulein?«, versuchte er, höflich zu sein.

Many schmunzelte noch tiefer in sich hinein, in ihren Augen flackerte jedoch etwas auf, was Alex nicht richtig einordnen konnte. »Zunächst, Ihr Pferd wurde von unserem Volk wiedergefunden und auf Ihre Koppel gebracht. Ja, und übrigens, wir hatten es nicht gestohlen, denn wir haben unsere eigenen Pferde!«, begann sie sehr überzeugend. Ohne auf eine Reaktion zu warten, sprang Many vom Zaun und schrie wie ein Adler.

Am Waldrand tauchte Luana auf. Die Ohren der Stute waren in die Richtung der Gruppe gedreht. Die blinden Augen blickten zu Many, die der Stute entgegenging, um ihren Namen zu rufen. Als sie Luana erreichte, streichelte sie die Stute sanft.

Alex’ Vater starrte die beiden verwundert an. »Das Pferd läuft einfach frei herum?«, fragte er erstaunt.

Many hob ihren Blick nicht von Luana, antwortete aber freundlich: »Natürlich, alle unsere Pferde machen das. Sie brauchen keinen Zaun und keine Peitsche. Auch keinen Sattel und schon gar kein Zaumzeug, das fänden sie ja nur störend.« Währenddessen streichelte sie zärtlich die Stelle zwischen den Nüstern, dort, wo die Pferde seidenweich sind.

Luana prustete Luft durch ihre Nüstern und legte freundschaftlich und zufrieden ihren großen Kopf auf Manys Schulter.

»Wir bitten unsere Pferde um Gehorsam und anderes. Wenn sie es tun, bekommen sie eine Belohnung dafür, dass sie uns ihren Dienst erweisen«, erklärte Many und strahlte nun Alex Vater an.

Dieser meinte kurz: »Das dauert doch ewig, auf das kann man nicht warten!«

Many aber entgegnete ruhig: »Aber dafür lohnt es sich. Unsere Tiere machen es freiwillig und mit Freude. Sie sind unsere Freunde und Wegbegleiter. Die Pferde haben ein Recht darauf, dass sie frei leben dürfen. Und sie erkennen, dass die Partnerschaft für beide Seiten gut ist. Luana möchte Aufgaben von mir bekommen, da sie sich auf eine Belohnung freut. Sie will mit mir ein Abenteuer bestehen, auf mich Acht geben, denn auch ich will, dass es ihr gut geht, und ich tue alles dafür. Das ist unser Geheimnis.«

Alex Vater hörte aufmerksam zu. Seine Stirn, die anfangs in Falten gelegt war, glättete sich zunehmend. Seine Augen waren auf Luana gerichtet. Diese stand ganz ruhig neben Many, und ihre Ohren waren gespitzt, so als ob sie jedes Wort des Mädchens verstanden hätte.

Die Worte Manys hatten ihn beeindruckt. »Nun, ich gebe zu, dein Pferd ist wirklich besonders. Wir sollten es versuchen, vielleicht klappt es auch auf unserer Sienda. Unsere Pferde sollen nicht nur für uns Arbeiten verrichten, sie sollen auch Freude daran haben. Many, bitte zeige Alex und Pedro, wie du die Sprache der Pferde verstehen gelernt hast und wie die Pferde eure Sprache lernen.«

Pedro, der zur Gruppe gestoßen war und das Gespräch verfolgte, blickte zu Alex und stieß ihn freundschaftlich sanft in die Körpermitte.

Alex setzte einen Grinser auf und wäre am liebsten seinem Vater um den Hals gefallen – doch dies würde sein Vater sicher nicht gutheißen. Many und er hatten es geschafft! Sein Vater hatte erkannt, dass das Volk von Many ihm und seinen Leuten etwas beibringen konnte.

Gleich am nächsten Tag wurde mit Bolero trainiert. Many war eine gute Lehrerin, und Alex, Pedro und Bolero waren aufmerksame Schüler. Jeden Tag ging es besser, denn schnell zeigte sich ein Erfolg nach dem anderen. So trainierten sie bald auch andere Pferde der Sienda.

Many und Alex hatten viel Spaß mit ihrer Arbeit, denn sie waren sich sicher, einen großen Schritt in die Zukunft mit einem Verständnis für beide Völker gemacht zu haben, zumindest als direkte Nachbarn. Auch wenn die Unterschiede nicht ganz zu überwinden waren, waren sich doch beide einig, besser gemeinsam den Weg zu gehen als sich zu bekämpfen.