Anton Deicher (11)

Das neue Schachbrett

Stefan begann zu erzählen: »In den Weihnachtsferien sind wir Ski gelaufen. Es war sehr lustig. An Weihnachten bekam ich viele Geschenke, zum Beispiel ein neues Spiel, ein Buch, echte Schienbeinschützer, …«

Es war der erste Schultag nach den Weihnachtsferien, und alle Kinder in meiner Klasse erzählten davon. Viele Kinder waren Skilaufen gewesen, und alle Kinder hatten viele Geschenke zu Weihnachten bekommen – alle bis auf Mahmoud, einem Jungen aus Ägypten, der erst hierher eingewandert war, und deshalb nur schlecht Deutsch sprechen konnte. Mahmoud trug nur zerschlissene Hosen, die ihm um einiges zu klein waren, und immer dieselbe Jacke. Wahrscheinlich hatten seine Eltern nicht genug Geld. Er sparte schon lange für eine neue Schultasche, denn seine alte würde sich bald auflösen. Seit Kurzem wohnte Mahmoud in unserer Nachbarschaft, aber ich hatte kaum Kontakt zu ihm, denn er ging sehr früh zur Schule, und in der Klasse sprach er mit keinem von uns ein Wort. Er verstand wohl auch nicht so gut deutsch, sodass er nicht gut in der Schule war und öfter einmal gehänselt und ausgeschlossen wurde. Keiner wollte mit ihm etwas zu tun haben. Doch dies sollte sich ändern.

Eines Morgens traf ich Mahmoud auf dem Schulweg. Mahmoud erzählte mir mit glänzenden Augen, dass er von seinen Eltern zum Geburtstag ein neues Schachbrett bekommen hatte. Er freute sich sehr darüber, denn er spielte oft Schach mit seinem Bruder. Sein altes Spiel sei schon recht abgenutzt gewesen, und außerdem fehlte ein Bauer. Ich konnte ihn recht gut verstehen und war erstaunt darüber, wie gut er jetzt schon deutsch sprach. Er hatte wohl gehört, dass ich selber gerne Schach spielte, und so hatte er auf die Gelegenheit gewartet, mir von seinem Geschenk erzählen zu können. In der Schule traute er sich vielleicht nicht, mich deswegen anzusprechen. Ich war immer mit meinen Freunden zusammen.

Kurze Zeit später begann in der Schule eine Sammlung für Kinder in Rumänien. Im Unterricht besprachen wir die Lebensbedingungen der Kinder dort, und es beeindruckte uns alle, von Gleichaltrigen zu hören, die weder Computer, Fernseher noch Spiele und nur wenige Bücher hatten. Zu Hause sortierte ich drei Bücher und zwei Brettspiele aus und trug sie zu der Sammlung. In der Klasse gaben einige mehr als ich, andere weniger ab. Patrik, der immer mit seiner Playstation angab, wollte ein neues, aber langweiliges Computerspiel verschenken, doch Stefan wies ihn daraufhin, dass die Kinder in Rumänien wohl kaum eine Playstation zur Verfügung hätten. Mahmoud fiel mir auf, weil er die Berichte über die Kinder in Rumänien sehr angespannt verfolgt hatte. Ich glaubte, dass er sich dabei an seine eigene Heimat erinnerte.

Am nächsten Morgen sah ich, wie Mahmoud zu der Sammlung ging. Überrascht folgte ich ihm. Dort angekommen, packte Mahmoud vorsichtig sein neues Schachbrett aus. Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: »Dieses Schachbrett hatte Mahmoud doch zum Geburtstag bekommen. Er hatte mir doch so begeistert davon erzählt.« Traurig trennte sich er sich nun von seinem Brett. Erstaunt meinte ich zu ihm: »Dies ist doch dein neues Schachbrett! Willst du es wirklich spenden?« Mahmoud sah mich kurz an, antwortete mir aber nicht. Er schluckte, schaute zu Boden und ging dann eilig davon. Ich merkte, wie schwer es ihm fiel, sich von seinem Schachbrett zu trennen.

Am Nachmittag dachte ich viel über Mahmoud nach. Ich entdeckte, dass wir Mahmoud noch gar nicht richtig kennen gelernt hatten. Er hatte sich in das Leben der Kinder in Rumänien hineinversetzt, sich vielleicht auch an seine eigene Vergangenheit erinnert und sein nagelneues Schachbrett großzügig verschenkt. Wir hatten ihn alle unterschätzt. Morgen würde ich ihn auf eine Partie Schach auf seinem alten Brett einladen. Den fehlenden Bauer würden wir mit einer »Mensch-ärgere-dich-nicht«-Figur ersetzen.