Sibylla Windisch (12)

Otto, Papa und das Dreimeterbrett

»Ob auch alles klappt?«; fragt Mama. »Ob euch auch nichts passiert?«
Sie steht mit Papa und Otto vorm Haus. Ihre Koffer hat sie ins Auto gepackt. Einmal im Jahr macht Mama ihre Mamatage. Dann bleibt Papa zu Hause bei Otto. Otto freut sich. Und Papa freut sich auch.
»Keine Angst, wir machen das schon«, sagt er. »Tschüss, Maja!«
Er gibt Mama einen Kuss.
Dann steigt Mama ins Auto. Der Wagen flitzt um die Ecke. Hui! Papa und Otto winken.
»Uns passiert doch nichts«, sagt Papa. »Uns doch nicht.«
»Leider«, sagt Otto, »bei uns passiert nie etwas! Wenn doch endlich mal was los wäre, so richtig was mit Einbrechern, Türknacken und Räubern!«
»Bloß nicht«, sagt Papa, »da hätte ich Angst.«
»Ich nicht«, sagt Otto, »supertoll wäre das. So bang, bang würde ich den Einbrecher über die Schulter kippen. Wie im Fernsehen!«
»So, so«, sagt Papa.
»Und dann würde ich ihn packen und die Polizei rufen. »Echt«, sagt Otto und rückt die Brille zurecht. »Toll wäre das. Pickepacke toll!«
»Quatsch mit Soße«, sagt Papa, »so was passiert uns doch nicht.«
Am nächsten Morgen weckt Papa den Otto.
»Welcher Tag ist heute?«, fragt Otto und wird blass: Freitag – Schwimmtag – Bauchschmerzentag – Angsttag! Weil der Willy lacht und der Olly, und die Paula und auch der Ali. Otto traut sich nämlich nicht, vom Dreimeterbrett zu springen. Er traut sich einfach nicht. Die anderen schreien dann: »Angsthase, Pfeffernase, Angsthase; Pfeffernase!« Und Otto steht oben auf dem Dreimeterbrett und schaut und schaut. Drei Meter sind riesig hoch. Und sie werden beim Schauen höher und höher. Ottos Bauch wummert, der Kopf wummert. Die Hände sind feucht.
»Vielleicht bleibst du besser hier«, sagt Papa.
»Ja«, sagt Otto.
»Gott sei Dank«, denkt er und streckt sich im warmen Bett aus. Die Angst ist sofort weg. Pickepacke schnell ist sie weg.
Da kommt Papa zurück ins Zimmer. Er will um Ottos Bauch einen Umschlag machen gegen das Wummern.
»Ist schon in Ordnung«, sagt Otto.
»Dann kannst du ja doch zur Schule gehen«, sagt Papa.
Otto erschrickt. Sofort ist das Wummern wieder da. Klar. »Hast du schon mal …«, fängt Otto ganz langsam an. Er stottertet »Hast … du … schon mal …«, sagt er noch mal und zieht sich die Bettdecke langsam bis ins Gesicht.
Papa setzt sich ans Bett. »Was ist denn heute nur mit dir los? Wirst du nun krank oder nicht?«
»Ich weiß nicht.«
In genau diesem Augenblick schaut Papa auf die Uhr. »Höchste Zeit für die Schule«, sagt er.
Da zieht Otto sich die Bettdecke ganz einfach über den Kopf. »Blöder Papa«, murmelt er unter der Bettdecke. »So einem blöden Papa kann man doch nichts erzählen.«
Papa sitzt und wartet. Er schaut nicht mehr auf die Uhr. Stattdessen streicht er über die Bettdecke mit Otto darunter.
Da steckt Otto seinen Kopf heraus. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und sagt laut: »Ich habe nämlich Angst vor dem Dreimeterbrett. So!« Dann verschwindet er blitzschnell wieder unter der Decke.
Papa sagt nichts. Er denkt nach. Lange. »Angst vorm Dreimeterbrett haben doch viele«, sagt er schließlich ganz langsam.
Da schaut Otto vorsichtig an der Seite aus dem Bett. »Echt?«, fragt er und schaut Papa an.
Papa sitzt immer noch und wartet. Er streicht über die Decke. Und dann erzählt er von früher, als er so alt war wie Otto.
Otto steckt den Kopf wieder aus dem Bett und schaut Papa an.
»Da sollte ich von einem Brett springen«, sagt Papa, »das ganz hoch war. Und jedes Mal, wenn ich da oben stand, hatte ich zehn Meter Angst. Ich stieg ’runter und alle lachten.«
»Und wann bist du gesprungen?«
»Als Maja kam.«
»Das ist doch Mama!«
»Ja«, sagt Papa. »Sie hat zu mir gehalten, und dann sind wir zusammen gesprungen. Da konnte ich es auf einmal.«
»Hui«, sagt Otto, »und seitdem bist du in Mama verliebt?«
»Fast«, sagt Papa, »eine Dreimeterbrettliebe.«
»Toll«, sagt Otto, »pickelpackeltoll. So machen wir das auch.«
»Auja«, sagt Papa.
»Nur, wir beide sind nicht verliebt«, sagt Otto.
»Aber dafür bin ich dein Papa.«
Für die Schule ist es jetzt viel zu spät. Aber am Nachmittag wollen sie los, Otto und Papa, ins Schwimmbad. Papa schwimmt. Otto schwimmt. Pickelpackelleicht. Papa taucht. Otto taucht. Otto kommt wieder hoch. Papa kommt gar nicht runter.
»Schwer«, sagt Otto.
»Pickelpackelschwer«, sagt Papa.
Danach wollen sie springen.
Papa geht zur Leiter.
Otto geht zur Leiter.
Papa guckt ’rauf.
Otto guckt ’rauf.
»Ziemlich hoch«, seufzt Papa.
»Riesenhoch«, murmelt Otto.
Er klettert hinter Papa hoch. Eine Stufe, noch eine Stufe, noch eine Stufe … ganz viele Stufen. Bis oben. Drei Meter hochklettern ist hoch. Drei Meter heruntergucken ist noch viel höher.
Papa guckt und wird blass.
Otto guckt und wird blass.
»Heute nicht«, lächelt Papa.
»Heute nicht«, sagt Otto. »Ja, morgen bestimmt«, sagt Otto.
Zu Hause sucht Otto etwas in seinem Zimmer.
»Was suchst du«, fragt Papa.
Otto will es nicht sagen.
Er sucht Bubu, sein Gummitier. Mit Bubu war Otto früher immer in der Badewanne. Bubu ist ein Schwimmhund und ein Tauchhund, vielleicht auch ein Springhund. Und wenn man auf ihn drückt, machte Bubu früher »Pfpfpf«. Aber als er älter wurde, machte er nur noch »Bububu« und blies Blasen ins Badewasser. Seitdem heißt er Bubu.
»Doch, du springst«, sagt Otto.
»Ich will aber nicht, ich will aber nicht!«, schreit Bubu.
Natürlich nicht echt. Und Bubu hat einen ganz roten Gummikopf, einen Tomatenkopf.
»Das ist, wenn man Angst hat«, tröstet Otto das Gummitier. »Das ist ein Angst-Tomatenkopf.«
Da muss Bubu lachen. »Bububu«, lacht er und hat einen roten Tomaten-Bauch.
»Wir fangen mit einem Einmeterbrett an«, sagt Otto.
»Quatsch mit Soße«, sagt Bubu und: »Bububu.«
Aber dann springt er doch. Erst springt er nur einmal, dann zweimal, dann dreimal. »Hui, das macht sogar Spaß!« Bubu ist sehr stolz. Der Kopf ist wieder ganz rot, aber jetzt vor Freude.
»Ein Freudentomatenkopf!«, sagt Otto. Und dann springt er immer höher. »Hur, schließlich drei Meter.« Das ist der Badewannenrand.
»Was ist denn da los?«, fragt Papa entsetzt. »Das kommt einem ja bis in den Flur entgegen!« Papa steht an der Tür.
»Oh!«, sagt Otto, mehr sagt er nicht.
Denn er sieht erst jetzt, dass der Fußboden voller Wasser ist. Und die Badematte ist pitschnass. Otto kratzt sich mit der einen Hand am Kopf, in der anderen ist immer noch Bubu. Er schaut Bubu an.
Papa schimpft: »Du hättest wirklich aufpassen können!«
Da geht Otto in sein Zimmer. Er knallt die Tür hinter sich zu. Otto ist sauer. Er schaut aus dem Fenster, sitzt pitschnass da und hat Wut. Und Bubus Sprung hat Papa gar nicht gesehen.
»So ein blöder Papa!«, knurrt Otto. Aber jetzt knurrt auch Ottos Magen. Leise öffnet er die Tür zum Flur, geht in die Küche, doch da sitzt Papa am Tisch, während er seine Zeitung liest. Otto macht sich ein Brot und sagt: »Du Papa!«
,,Ja!«, sagt Papa und liest einfach weiter.
»Magst du mich noch?«, fragt Otto.
»Natürlich«, sagt Papa und schaut hoch. »Aber Überschwemmungen im Bad mag ich überhaupt nicht.«
Otto greift sich an den Kopf und schiebt seine Brille zurecht.
Am nächsten Tag wollen Papa und Otto zusammen üben, wie es Otto und Bubu zuvor getan haben. Aber Paula und Olly sind auch im Schwimmbad und lachen schon, als sie Otto erblicken. Aber mit Papa fühlt er sich stark. Otto und Papa gehen zum Dreimeterbrett. Papa sagt: »Wir schaffen das!« Sie gehen hinauf, schließen die Augen und auf einmal springen sie zusammen hinab.
Am Abend brennt in Ottos Zimmer noch sehr lange das Licht. »Du musst schlafen!«, sagt Papa. Er hält sein Ohr an die verschlossene Tür. »Bububu!«, ertönt es da drinnen. Sonst hört er nichts, schließlich ist geheim ja immer noch geheim! Aber dann kommt Otto aus seinem Zimmer und fällt Papa um den Hals. Er sagt: »Hui!«, dann bemerkt Papa Ottos Hals. Dort hängt jetzt eine Halskette mit einem Tomatenbauch.
»Und was ist das?«, fragt Papa verwundert.
»Eine Medaille, eine Dreimetermedaille! Wirklich echt in Gold angestrichen!«, sagt Otto.