Matthäus Uitz (10)
Der weiße Tiger von Mangalur
Es war vor zirka 200 Jahren in Indien in der Provinz Maharashtra. Damals gab es noch viele unberührte Urwälder, in denen noch zahlreicher als heute majestätische Königstiger umherstreiften. Es gab auch einige weiße Tiger dort, eine besonders seltene Farbvariante des Königstigers. Doch in Mangalur erregte solch ein weißer Tiger besonderes Aufsehen. Dieses Tier verhielt sich einfach ganz anders als seine Artgenossen. Von klein an hat dieser besondere Tiger im Gegensatz zu seinen Verwandten die Nähe der Menschen gesucht. Oft lag er verborgen im Grasland und beobachtete die Menschen bei ihren Tätigkeiten. Als er größer wurde, zeigte er sich auch der einheimischen Bevölkerung, aber da er immer einen gewissen Abstand eingehalten und sich immer friedlich verhalten hat und nie jemandem was zuleide tat, hatten die Menschen zwar Respekt vor ihm, verfolgten ihn aber nicht. Ja, irgendwie fassten sie zu ihm Vertrauen.
Umso erstaunter waren sie daher, als der Tiger sein Verhalten
änderte.
Eines Tages, es war im Juli des Jahres 1800, drang der Tiger nachts
während eines Unwetters in das Haus einer fünfköpfigen
Familie ein. Unter lautem Gebrüll jagte er die Bewohner des
Hauses ins Freie. In wilder Panik stürmten die Menschen davon
und versteckten sich im Urwald. Gerade als der Tiger aus dem Fenster
sprang, schlug ein katastrophaler Blitz in das Haus ein. Das Haus
begann sofort lichterloh zu brennen. Als die Menschen das sahen,
waren sie dem Tiger dankbar dafür, dass er sie aus dem Haus
gejagt hatte.
Ein weiterer Vorfall ereignete sich im August des Jahres 1802.
Ein Bauer war mit Frau und Kind auf seinem Feld, um Reis anzubauen.
Neben dem Feld war ein friedlicher Fluss. Die Frau und das Kind
des Bauern waren gerade dabei, sich an dem Fluss zu erfrischen,
als mit lautem Gebrüll der weiße Tiger vor ihnen stand.
Er öffnete sein Maul, fletschte die Zähne, schlug mit
den Pranken und flößte ihnen entsetzliche Furcht ein.
Die Frau und das Kind rannten zurück zum Feld. Doch der Tiger
war weiter hinter ihnen her. Zusammen mit dem Bauern flohen sie
zu einem nahe gelegenen Haus, um sich dort zu verbarrikadieren.
Im gleichen Augenblick erfüllte ein ungeheures Krachen das
Tal. Der Staudamm war gebrochen und unter tosendem Rauschen näherte
sich eine rasend schnelle und große Flutwelle, die das ganze
Feld überflutete. Hätte der weiße Tiger die Menschen
nicht im letzten Moment vertrieben, hätte sie die Flutwelle
mit sich gerissen. Sie wären alle hilflos ertrunken.
Immer wieder hörte man von solchen und ähnlichen Begegnungen des weißen Tigers. In der Provinz Mangalur gab es niemanden, der nicht von ihm gehört hätte, ja bald war er in ganz Indien bekannt und berühmt. Viele glaubten schon, dass es sich um keinen wirklichen Tiger, sondern um einen Geist oder einen heiligen Tiger handeln könnte.
Doch wie es der Zufall wollte, kam etliche Jahre später
ein reicher Tourist nach Indien, um Tiger zu jagen. Leider hörte
auch er von dem geheimnisvollen weißen Tiger und der Mann
setzte sich in den Kopf, gerade dieses Tier zu jagen, da er sein
prachtvolles Fell mit nach Hause nehmen wollte. Die Bevölkerung,
die den weißen Tiger wegen seiner zahlreichen Rettungsaktionen
verehrte und zum Volkshelden ernannt hatte, war über dieses
Vorhaben sehr empört, denn der Tiger hatte es nicht verdient,
erschossen zu werden. Sogar der Bürgermeister von Mangalur
flehte den Jäger an, nicht gerade diesen Tiger zu erschießen.
Der reiche Mann wollte aber nicht auf die Einheimischen hören
und war wild entschlossen, auf Jagd zu gehen.
Wochenlang streifte er mit seinen Treibern und Elefanten durch
den Dschungel, ohne den weißen Tiger auch nur einmal zu
Gesicht bekommen zu haben. Ab und zu sah er andere Königstiger,
die er jedoch am Leben ließ. Eines Tages verirrte sich der
reiche Mann während der Treibjagd und stand schließlich
allein im unwegsamen Gelände. Plötzlich hörte er
ein leises Rascheln aus dem Gebüsch hinter sich. Der weiße
Tiger sprang hervor und landete genau vor dem Mann. Noch bevor
er sein Gewehr zücken konnte, schlug der weiße Tiger
es ihm aus der Hand. Er legte die Ohren an, fletschte die Zähne,
fauchte und knurrte furchterregend. Dabei kam er langsam auf den
Jäger zu. Der Mann bekam Todesängste, er war mutterseelenallein
im Urwald und stand unbewaffnet einem Tiger gegenüber. Der
Jäger dachte, seine letzte Stunde hätte nun ganz gewiss
geschlagen. Doch so unerwartet wie es gekommen war, verschwand
das Tier mit einem mächtigen Satz im Dschungel. Der Mann
war so verwundert, dass er wie angewurzelt stehen blieb. Nach
einer Weile wurde er von seinen Treibern wiedergefunden und gelangte
unversehrt in sein Lager zurück. Allen Menschen, die ihm
begegneten, erzählte der Mann diese Geschichte. Nach diesem
Erlebnis war ihm die Lust zu jagen für immer gründlich
vergangen. Er schmiss sein Gewehr in den nächsten Fluss und
flog wieder nach Hause zurück, wo er noch sehr lange lebte.
Sein Erlebnis mit dem weißen Tiger hat er aber nie vergessen.
Der weiße Tiger von Mangalur wurde aber nie wieder gesichtet. Er blieb für immer wie vom Erdboden verschwunden.
Heute noch erzählen sich die Menschen in der Gegend von
Mangalur die unglaublichen Geschichten über den geheimnisvollen
weißen Tiger, der den Menschen nie ein Leid angetan, sondern
sie vielmehr vor Unglücksfällen gewarnt hat. Ob er wirklich
nur ein gewöhnlicher Tiger war?