Lisa Stüttler (8)
Das Geheimnis der drei Mädchen
Einst segelte eine Piratin mit ihrem großen, mächtigen
Schiff über das Meer. Eines Tages kam ganz plötzlich
ein riesiger Sturm auf. Die Wellen peitschten auf und nieder,
der Himmel wurde dunkel und es schüttete Wasser wie aus Kübeln
aufs Deck. Plötzlich kam eine riesige Welle, höher noch
als ein Wolkenkratzer, erwischte das Schiff auf der Seite und
begrub es unter sich. Durch die Gewalt der Welle wurde der Mast
in Stücke gebrochen und alle Dinge, die an Deck lagen, von
Bord geschleudert. Die kluge Piratin jedoch war am Steuerrad festgezurrt,
weshalb sie nicht mit der Welle in das tosende Meer gespült
wurde. Als sich der Sturm legte, trieb das Schiff auf eine große
Stadt zu. Die Piratin wusste zwar nicht, wo sie sich befand, sie
war jedoch glücklich, das Unwetter überlebt zu haben.
Sie beschloss, in ihrem Lagerraum nach ihren Schätzen zu
sehen. Einige davon wollte sie verkaufen, dazu gehörten:
ein goldenes Schwert, Silberbesteck, eine Hand voll Perlen und
ein Kästchen aus Elfenbein, das mit Edelsteinen verziert
war.
Sie ging los, um sich nach einer Möglichkeit umzusehen, ihre
Schätze zu Geld zu machen. Nachdem sie lange durch die Gassen
der Stadt herumgeirrt war, fand sie einen großen Basar,
in dem die Menschen lautstark Handel trieben. Die Einwohner der
Stadt waren sehr an ihren Schätzen interessiert. In kürzester
Zeit hatte sie alles verkauft und genug Geld, um darum Wasser
und Lebensmittel zu kaufen und ihr Schiff reparieren zu lassen.
Bald hatte es sich in der ganzen Stadt herumgesprochen, dass
eine Piratin auf einem mächtigen Schiff vor Anker lag. Alle
bewunderten die Piratin, die allein über die sieben Weltmeere
segelte, besonders aber zwei Mädchen, die ungefähr im
selben Alter wie sie waren.
Als die Piratin gerade an Bord gehen wollte, liefen die zwei Mädchen
an den Steg heran und riefen: »Halt, warte!«
»Was ist los?«, fragte die Piratin.
Die Mädchen fragten sie, ob sie mit ihr mitsegeln dürfen.
Die Piratin antwortete: »Na, dann aber los! An Bord mit
euch! Beeilt euch, die Reise beginnt!«
Die zwei Mädchen, die Lisa und Joana hießen, fragten,
wo sie hinfahren würde. »Hmmm. Mal sehn, worauf
der Wind und wir Lust haben. Ich plane meine Reisen selten so
genau und meistens erlebt man so die besten Abenteuer«,
meinte die Piratin. Die zwei Mädchen halfen der Piratin,
den Anker zu lichten, und winkten ihren Familien zu, die aber
bald nicht mehr zu sehen waren. Das Meer wurde in rötliches
Licht getaucht, als die Sonne unterging.
Als es wieder Morgen wurde, und das Schiff der Piratin bereits
weit entfernt vom Land auf hoher See war, bastelten Lisa und Joana
Geschenke für die Piratin. Sie nähten ein Kleid und
fertigten eine Kette für die Piratin an. Sie bewunderten
die mutige Piratin sehr, und außerdem wollten sie ihr dafür
danken, dass sie mitkommen durften.
Währenddessen guckte die Piratin gespannt über das weite
Meer, ob sie Land entdecken würde. Sie spürte ein lustiges
Kribbeln in ihrem Bauch, das sie immer hatte, wenn ein neues Abenteuer
auf sie zukam. Ein frischer Wind kam auf. Als sie unter Deck ging,
überreichten ihr die zwei Mädchen ihre Geschenke.
Die Piratin freute sich riesig und bedankte sich: »Vielen,
vielen Dank. Ich habe zwar Gold und Edelsteine, aber noch nie
habe ich so schöne Geschenke bekommen.«
Sie umarmte die Mädchen und gemeinsam gingen sie wieder an
Deck, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.
Plötzlich sahen sie in weiter Ferne eine Gruppe von Delfinen.
Auf dem ersten Delfin ritt eine junge Frau. Als sie näher
kam, bemerkten sie, dass diese weinte.
Die Piratin fragte: »Was ist dir denn passiert?«
Die Frau antwortete: »Die böse Hexe Zigana hat mich
verzaubert. In Wirklichkeit bin ich eine Meerjungfrau. Nur wenn
drei Mädchen zusammen drei Prüfungen bestehen, bekomme
ich meinen Fischschwanz zurück.«
»Drei Mädchen sind wir ja genau! Vielleicht können
wir dir helfen!«, rief die Piratin voll Mitleid mit der
armen Meerjungfrau.
Die Meerjungfrau sagte: »Als erstes müsst ihr die Melodie
des Meeres finden. Die zweite Aufgabe werdet ihr finden, sobald
ihr die erste gelöst habt.«
Lisa meinte: »Wir sollten nicht mehr lange herumstarren,
sondern aufbrechen und der Meerjungfrau helfen.«
»Wie werden wir dich wieder finden?«, fragte Joana.
Die Meerjungfrau antwortete: »Meine Freunde, die Delfine,
werden euch finden, sobald ihr alle Prüfungen bestanden habt.«
Die Mädchen winkten der Meerjungfrau zum Abschied und
nahmen Kurs auf die nächste Insel. Sie dachten an die bevorstehenden
Abenteuer und packten Proviant ein für ihre Expedition.
»Was kann das nur sein, was die Meerjungfrau gemeint hat?
Wie kann man die Melodie des Meeres finden?«, fragte die
Piratin.
Lisa meinte: »Es gibt tausende Melodien im Meer: das Blubbern
der Fische, das Rauschen der Wellen, das Tosen der Brandung, das
Quieken der Delfine und weiß Gott noch alles.«
Ratlos, aber voller Zuversicht legten die Mädchen an der
Insel an.
In einem halben Tag hatten sie die Insel schon fast umrundet,
als sie auf einen wunderschönen Platz kamen, der von Palmen
umgeben und von Lianen verwachsen war. Sie fanden dort eine riesige
Muschel, die aussah wie ein Horn und in allen Farben des Regenbogens
schillerte. Doch um an diese Muschel heranzukommen, musste man
sehr geschickt sein, denn sie lag auf einem hohen Felsen, der
von einem Wassergraben umgeben war. Als wenn das nicht genug wäre,
schwammen im Wasser fünf hungrige Krokodile.
»Wollen wir es versuchen, da rüber zu kommen?«,
fragte Lisa.
Joana zögerte ein bisschen. Vielleicht war das doch zu gefährlich
für Kinder? Das Zögern dauerte jedoch nicht lange. Schließlich
sollte die Meerjungfrau doch den Fischschwanz wieder zurückbekommen!
Lisa, die sehr gut mit Tieren umgehen konnte, lenkte die Krokodile
ab. Währenddessen sprang die Piratin über den Wassergraben
und kletterte auf den Felsen. Bald hatte sie die Muschel erwischt
und nahm den Weg retour zu den Mädchen. Was aber nun tun
mit der Muschel? Sie hielten die Muschel ans Ohr und hörten
das Rauschen des Meeres. Das allein nützte jedoch nichts.
Joana, die gut Trompete spielen konnte, hatte plötzlich eine
Idee. Sie blies in die Muschel und heraus kamen Töne, die
die Mädchen noch nie zuvor gehört hatten. Töne,
die das Rauschen der Brandung, die Laute von Walhaien und Delfinen
und alle sonstigen Melodien des Meeres in sich vereinten.
Während die Mädchen noch über die seltsame Musik
diskutierten, erforschte die Piratin die Muschel genauer und fand
ganz tief drinnen im Muschelgehäuse eine Schatzkarte versteckt.
Sofort rief sie: »Lisa, Joana! Kommt schnell her und schaut
euch das an! Vielleicht ist das unsere nächste Aufgabe!«
Lisa und Joana rannten zu ihr und betrachteten aufmerksam die
Entdeckung. Dann machten sie sich auf den Weg und folgten den
Anweisungen der Schatzkarte bis zu einem großen Tor, das
von Schlingpflanzen fast zugewachsen war.
»Das sieht ja aus wie ein Labyrinth! Wie merken wir uns
den Weg und finden wieder heraus?«, wollte Joana wissen.
Lisa wurde ganz still und überlegte. Dann holte sie ein Seil
aus der Tasche und verknotete das eine Ende an einem Baum und
das andere Ende band sie sich um den Bauch.
»Sehr schlau!«, sagte die Piratin, »So können
wir einfach am Seil entlang wieder zurückfinden.«
Sie machten sich auf den Weg hinein in den Irrgarten. Manchmal
landeten sie in Sackgassen, dann konnten sie zum Glück am
Seil zurückgehen und einen anderen Weg auswählen. Joana
dachte schon, dass sie den richtigen Weg in diesem verfluchten
Labyrinth nie finden würden. Plötzlich spürten
sie schleimigen, glitschigen Boden unter den Füßen.
Sie durchwateten den Sumpf und ab und zu fiel eine in das glitschige,
stinkende Grün. Da glitzerte etwas durch den Nebel, der vom
Boden aufstieg. In etwa zwei Metern Entfernung lag auf einer hohen
Säule eine halb geöffnete Truhe, aus der ein helles
Glitzern kam. Schnell sausten die Mädchen zu der Truhe hin
und öffneten den schweren Holzdeckel. Darin lag ein glitzernder,
türkisblauer Stein. Er glänzte so sehr, dass die Mädchen
die Augen zumachen mussten. Flink klappten sie den Deckel zu,
verschlossen ihn und trugen die Truhe den Weg zurück, den
sie gekommen waren.
Kaum waren sie aus dem Irrgarten heraus, hörten sie plötzlich
über sich eine krächzende Stimme. Die Mädchen blickten
hinauf und sahen einen Papagei auf einem Baum sitzen.
Er sagte: »Die ersten zwei Aufgaben habt ihr gelöst.
Die dritte wird aber etwas schwieriger sein. Damit die Meerjungfrau
ihren Fischschwanz zurückbekommt, müsst ihr einen Zaubertrank
mischen. Die Zutaten müssen genau stimmen, sonst wirkt er
nicht.«
»Und welche Zutaten sollen das sein?«, fragte Lisa.
Der Papagei sagte: »Ihr müsst drei Löffel Mandelkraut,
sieben Löffel Meerjungfrauenpflanze, drei Hände Kokosnusssplitter
und eine Flasche voll mit Salzwasser vermischen. Zum Schluss müsst
ihr den Edelstein, den ihr gefunden habt, hinzufügen.«
Schon schossen die Mädchen mit der neuen Aufgabe davon. Die
Zeit drängte, denn es dämmerte schon und bei Nacht würden
sie die Pflanzen nicht suchen können. Das Mandelkraut wollten
sie als Erstes suchen. Sie suchten hinter Büschen und Bäumen,
bis sie an eine Lichtung kamen. Dort erblickten sie als Erstes
eine sehr komische Pflanze, in deren Blüten Mandeln waren.
»Das muss das Mandelkraut sein!«, rief die Piratin.
Als Nächstes sahen sie eine ebenfalls sehr auffallende Pflanze,
deren blaue Blüten wie Muscheln geformt waren und unübersehbar
waren. »Und das wird ja wohl die Meerjungfrauenpflanze sein,
oder?!«, meinte Joana. Während die Piratin und Joana
die Pflanzen einsammelten, kletterte Lisa auf eine Kokospalme
und holte eine Kokosnuss.
Sie packten alles in den Rucksack und liefen zurück zum Schiff.
Als nächstes zerstampfte Joana die Kokosnüsse zu Splittern,
die Piratin füllte eine Flasche mit Meerwasser und Lisa zerrieb
die Pflanzen zu Pulver. Genau, wie der Papagei es gesagt hatte,
füllten sie alle Zutaten in eine Schüssel und gaben
zum Schluss den Edelstein dazu. Plötzlich war ein tobendes
Gewitter und aus dem Meer erschien die Meerjungfrau mit ihren
Delfinen.
Sie winkte den Mädchen zu, aber diesmal nicht mit der Hand,
sondern mit ihrem Fischschwanz: »Danke, ihr Lieben, dass
ihr mir geholfen habt. Als Dank dafür könnt ihr mich
jederzeit in meiner Unterwasserwelt besuchen. Meine Delfine werden
euch den Weg zeigen. Ihr müsst mir allerdings versprechen,
dass ihr nie jemandem den Weg verraten werdet und auch niemandem
von mir erzählt.«
»Hab keine Sorge. Das wird für immer unser Geheimnis
bleiben«, riefen die Mädchen und winkten der Meerjungfrau
zum Abschied zu.
Diese sprang mit ihren Delfinen noch einmal aus dem Wasser und
tauchte dann in den Fluten unter.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Joana.
»Ihr habt mich am Anfang wegen meines Mutes bewundert, aber
ihr habt mindestens genauso viel Mut bewiesen wie ich. Nur gemeinsam
haben wir es geschafft, die drei Aufgaben zu lösen. Wollt
ihr vielleicht für immer an Bord bleiben? Es ist bestimmt
lustiger, mit Freundinnen um die Welt zu segeln«, sagte
die Piratin und sah die beiden Mädchen aufgeregt an.
Lisa und Joana erröteten leicht, freuten sich aber sehr.
»Da fragst du noch!?«, riefen sie.
Sie setzten das Segel und nahmen laut singend Kurs auf das nächste
Abenteuer. Aber vorerst spielten sie einmal Barbie, denn zwischendurch
wollten sie auch einmal ganz normale Mädchen sein.