Isabella Mattasits (13)
Geheimnis des Überlebens
Sie war allein.
Neyathriel war eine Kwey. Sie hatte, wie jeder Kwey, weiße
Haut mit verschlungenen Symbolen darauf. Auf ihrer linken Wange
befand sich ein großer Triskel, der bis zu ihrem Auge reichte.
Ihre glatten, schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten und
ihr Gesicht hatte sanfte Züge, doch war es ausdruckslos.
Nichts an ihr zeigte, dass sie jemals geliebt haben könnte.
Sie war schlank und hatte etwas von einer kalten Schönheit.
Jeder junge Kwey wäre ihr nachgelaufen, wäre sie nicht
so kaltherzig gewesen. Es gab verschiedenste Gerüchte über
Ney. Beispielsweise, dass sie bereits ohne Liebe geboren worden
war, oder, dass sie dem hintersten Winkel der Welt entsprungen
sei. Alles Lügen. Ich kenne die Wahrheit, ihr Geheimnis,
und ihr habt ein Recht darauf, es zu erfahren.
»Ney! Ney, wo bist du?«, hörte Neyathriel
die Stimme ihres kleinen Halbbruders Kwayon über die Felder
rufen. »Ney? Komm raus, Mutter braucht dich.«
»Ich will aber nicht. Es ist mir egal, ob sie mich braucht!«
Ney trat aus dem Schatten eines Baumes am Feldrand hervor.
»Aber
aber
«
»Kway, hör mir zu. Deine Mutter soll mir erst mal etwas
Gutes tun, bevor sie etwas von mir verlangt.«
»Das hat sie doch schon, sie hat dich aufgezogen. Sie ist
deine Mutter!«
Ney seufzte. Schließlich sprach sie weiter: »Ich werde
dir jetzt etwas erzählen. Du musst gut aufpassen, denn du
wirst es kein zweites Mal hören. Von niemandem, hörst
du?«
Kway nickte.
»Ich bin nicht deine richtige Schwester, Kleiner. Ich bin
nur deine Halbschwester. Meine richtigen Eltern sind schon lange
tot. Weißt du, wir beide haben den selben Vater, doch der
ist bereits nicht mehr am Leben. Meine Mutter starb, als ich ungefähr
in deinem Alter war. Danach heiratete mein Vater deine Mutter
und du wurdest geboren. Ein Jahr später starb unser Vater
unter seltsamen Umständen, aber das erkläre ich dir
später. Schließlich heiratete deine Mutter, den Mann,
der sich für unseren Vater ausgibt. Alles verstanden?«
Der neunjährige Junge sah sie aus riesigen Augen an.
Sie fügte noch schnell hinzu: »Du darfst das aber niemandem
verraten!«
Langsam und bedacht nickte Kway. Ney war erleichtert, da sie sich
auf seine Versprechen bis jetzt immer hatte verlassen können.
Für eine Sechzehnjährige war es schwierig, ihrem Halbbruder
zu erklären, dass sie nicht seine richtige Schwester war.
Vor allem, wenn der Junge erst neun Jahre alt war.
»Ach ja, sag deiner Mutter bitte, dass ich eine Verabredung
habe und nicht kommen kann.«
Ohne auf eine Antwort zu warten drehte sie sich um und verschwand
wieder im Schatten der Bäume. Diese Antwort würde die
Mutter ihres Bruders zufriedenstellen. Sie wollte Ney sowieso
so schnell wie möglich mit einem Jungen verkuppeln, damit
sie auszog. Das Mädchen hatte noch nicht einmal gelogen,
sie hatte eine Verabredung. Allerdings gab sie ihrem Verehrer
(er war wirklich einer ihrer vielen Verehrer, nur wusste sie das
zu diesem Zeitpunkt noch nicht) nur Unterricht im Schwertkampf.
Jedermann im Dorf wusste, dass Ney die unangefochtene Meisterin
im Schwertkampf war. Sie zog ihr glänzendes Langschwert Traskir
aus der Scheide und wartete. Nach einer Weile sah sie hinter den
Feldern eine Gestalt auftauchen. Vîr war ein großer,
schlanker und eigentlich sehr fescher Junge. Sein Haar war ebenso
schwarz wie Neys. Wie immer, begann Ney: »Hallo Vîr,
hast du dein Schwert mit?«
Er nickte nur.
Nicht besonders gesprächig, wie immer, dachte Ney.
»Zieh.«
Er zog.
»Ein Schritt rechts.«
Er machte einen Schritt nach rechts.
»Wenn ich einen Schritt nach links mache, um auszuweichen,
machst du einen Schritt nach rechts, um mir entgegenzukommen.«
Er machte einen weiteren Schritt nach rechts.
»Gut. Links, rechts, links, links
ARGH!« Das
hätte Ney nicht erwartet. Beinahe hätte er sie erwischt.
Nur ihre Abwehrtechniken hatten sie gerettet.
»Ich habe dich wohl unterschätzt. Du hast gut geübt.«
Vîr nickte wieder nur. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal
sprechen gehört und das war sehr lange her. Damals hatte
er seinem verletzten Bruder gut zugeredet. Seine Stimme war sanft
und fließend. Für Ney allerdings musste er nicht sprechen,
es reichte ihr, wenn er gehorchte, und er gehorchte immer. Sie
nahm es zwar nicht zur Kenntnis, aber jedes Mal, wenn sie ihm
einen Befehl zurief, sah er sie mit verträumtem Blick an.
Sie kämpften weiter. Ney gab natürlich nicht 100 Prozent,
aber Vîr war gegen seine starke Gegnerin außerordentlich
gut.
Nachdem sie einige Stunden trainiert hatten, meinte Ney: »So,
ich denke, es ist genug für heute. Morgen machen wir weiter.«
Vîr nickte, doch diesesmal sah Ney ihm in die Augen und
erstarrte. Sie hatte noch nie bemerkt was für wundervolle
Augen er hatte. Sie waren eisblau und so klar wie das Wasser eines
Baches. Nun wusste Ney, warum er nie sprach. Er hatte es nicht
nötig. Dieser Blick, mit dem er sie ansah, sprach Romane.
Romane in Rätseln. Ney war das einzige Lebewesen, das unfähig
war, diesen Blick, diesen Gesichtsausdruck, zu verstehen.
Sie kam nach Hause, ging in ihr Zimmer und zerbrach sich den Kopf
über diesen Blick. Was will er mir mit diesem Blick sagen?
Warum sieht er mich so an?
So ging es Monat für Monat. Jeden Abend nach dem Training
mit Vîr dachte sie über diese beiden Fragen nach. Nie
kam sie auf die Idee, dass er sie liebte, und wenn sie darauf
kam, so verscheuchte sie diesen Gedanken, bevor er sich in ihrem
Gehirn einnisten konnte.
Eines Tages drei Tage nach ihrem siebzehnten Geburtstag
kam er wieder zum Training. Nun war er bereits so weit
fortgeschritten, dass sie ohne Bedenken 90 Prozent ihres Könnens
geben konnte. Als sie wieder ein paar Stunden geübt hatten,
verabschiedete sie sich wie üblich: »Gutes Training,
du wirst immer besser, aber jetzt ist genug für heute.«
»Gut.«
Ney sah auf. Er hatte sie angesprochen. Seine Stimme war noch
viel sanfter und beruhigender, als sie es in Erinnerung hatte.
Sie sah in seine herrlichen Augen und sah den selben Blick wie
immer, nur viel leidenschaftlicher. Sie sah den selben Gesichtsausdruck
wie immer, nur viel wärmer. Oder kam es ihr nur so vor? Einen
Augenblick lang, der der jungen Kwey wie eine Ewigkeit vorkam,
sahen sie sich gegenseitig tief in die Augen. Ney in Vîrs
eisblaue, und Vîr in Neys smaragdgrüne. Nun verstand
Ney, was er ihr sagen wollte, aber nicht konnte. Er liebte sie
und ihr wurde klar, dass sie dieses Gefühl erwiderte. Ganz
leise, kaum vernehmbar sagte sie: »Ich liebe dich
«
»Ja
«, das war alles was er sagte, doch mehr
war nicht nötig.
Ney reichte es schon, seine Stimme zu hören, um glücklich
zu sein.
Die beiden verlobten sich, hielten es jedoch geheim. Vîrs
Eltern mochten Ney nicht. Sie war ihnen unheimlich und zu stark
für eine junge Frau. Auch von den Übungsstunden hatte
Vîr ihnen nie erzählt.
Zu dieser Zeit begann der Krieg der drei Völker. Menschen,
Zentauren und Kwey hatten sich noch nie leiden können, doch
war es nie so schlimm gewesen wie nun. Eine junge Zentaurin war
entführt worden, und die Zentauren beschuldigten die Kwey
der Tat.
Die Menschen, die sich schon immer in alles eingemischt hatten
und den Krieg nicht scheuten, hatten sich dem Kampf angeschlossen.
Die Soldaten der Kwey kamen und gingen. Das kleine Dorf der Kwey
hatte bereits begonnen, zu hoffen, dass niemand von ihnen in den
Krieg ziehen müsse.
Doch es kam, wie es kommen musste. Sie kamen bei Nacht, schwer
bewaffnet, um jeglichen Widerstand auszuschließen.
Ney saß gerade an ihrem Schreibtisch unter dem Fenster und
zündete sich eine Kerze an. Ihre Gedanken waren, wie so oft,
bei Vîr, und ihr Blick hing an einem dünnen Ring an
ihrer linken Hand, der aus Fristhar, dem Metall, welches nur die
Kwey verarbeiten konnten, bestand. Es war ihr Verlobungsring,
den Vîr eigenhändig für sie hergestellt hatte.
Auf dem dünnen Band des Ringes saß ein kleiner, unscheinbarer,
grüner Stein. Er war nicht wertvoll, doch für Neyathriel
war er eines der wichtigsten Dinge in ihrem Leben.
Mit ihrem feinen Gehör vernahm sie plötzlich das Geräusch
klirrender Rüstungen und sprang auf. Sie brauchte nur einen
kurzen Blick aus dem Fenster zu werfen, um zu wissen, was dort
draußen geschah. Ruhig ließ sie den Ring in eine kleine
Tasche an ihrer leichten Lederrüstung gleiten. Flink und
unbemerkt schlich sie aus dem Haus. Ihre Stiefeltern hätten
ihr niemals erlaubt hinauszugehen.
Vor dem Haus angelangt, konnte sie eine Gruppe von Soldaten, die
einen vierzehnjährigen Jungen aus dem Haus zerrten, und seine
weinende Mutter sich an den Familienvater klammern sehen. Er gab
ihr noch einen letzten Kuss und ging schließlich zu den
Soldaten. Ney schüttelte den Kopf und wandte sich wieder
ihrer Aufgabe zu. Sie musste Vîr finden und ihn warnen,
denn sie wollte nicht riskieren, dass ihm im Krieg etwas zustoße.
Endlich war sie vor der Hütte, die seiner Familie gehörte,
angelangt, und sah ihn draußen stehen. Er war allein. Sein
Vater war schon zu alt für den Kriegsdienst, und sein Bruder
war noch zu jung. Ney war froh, dass ihr eigener Halbbruder erst
zehn war.
Leise schlich sie sich von hinten an ihn heran und berührte
seine Schulter. Er drehte sich langsam und bedacht um, und wirkte
erleichtert, als er Ney sah. Sie gab ihm schnell einen Kuss und
flüsterte dann: »Die Soldaten sind da, was sollen wir
tun?«
»Nichts, ich werde mit ihnen gehen und kämpfen, wie
du es mir beigebracht hast
«
Ney war schockiert. Sie hatte erwartet, dass er sich den Soldaten
verweigern würde, dass er gegen sie kämpfen würde.
Seine Antwort jedoch versetzte ihr einen Stich.
»Ich kann dich nicht gehen lassen, ich werde nicht riskieren,
dass du stirbst!«
»Es tut mir leid, Ney. Ich kann mich den Soldaten nicht
widersetzen, aber eines verspreche ich dir: Ich werde zurückkehren
und wir werden heiraten und glücklich miteinander werden.«
»Ich komme mit
«
Vîr machte ein so verwirrtes Gesicht, dass Ney laut losgelacht
hätte, wäre die Situation nicht so ernst gewesen. Dann
meinte er: »Hör auf mit den Scherzen, der König
nimmt keine Frauen in seine Armee auf.«
»Ich scherze nicht. Du kennst mich, ich scherze nie. Der
König wird mich aufnehmen, und ich sage dir auch, warum:
Er wird nicht auf mich verzichten können.«
Vîr konnte nicht widersprechen, dafür kannte er ihre
Fähigkeiten zu gut. Schließlich flüsterte er kaum
verständlich: »In Ordnung, aber du musst gut auf dich
aufpassen.«
Ney nickte, und die beiden warteten auf die Soldaten.
Der Hauptmann war groß und dürr. Er hatte rotbraune,
kurze Haare und ein kantiges Gesicht. Über sein rechtes Auge
zog sich eine lange, schnurgerade Narbe, was ihm ein unheimliches
Aussehen gab. Er wandte sich an Vîr.
»Mitkommen
«
Vîr nickte und ging Seite an Seite mit Ney zu ihm. Der Hauptmann
lachte laut auf: »Ihr wollt die Frau doch nicht mitnehmen?«
»Ich gehe freiwillig mit«, wandte Ney ein.
»Ha! Wir können keine Frauen gebrauchen. Ihr seid zu
schwach. Ich nehme an, dass Ihr noch nicht mal so was führen
könnt.« Er zog eine lange Schwertklinge aus der Scheide
an seinem Gürtel und zeigte damit auf Ney.
Funken stoben, als Neys Klinge Traskir auf das Schwert des Hauptmanns
traf. Sie lächelte.
Er steckte sein Schwert zurück, und grummelte: »Ihr
könnt nun einmal nicht mitkommen, Ihr seid eine Frau.«
»Verurteilt mich nicht, nur weil ich nicht so stark bin
wie Ihr.«
»Wollt Ihr mich etwa herausfordern?«
»Wenn es sein muss, um in der Armee aufgenommen zu werden.«
Der Hauptmann zog wieder sein Schwert, und ging auf einen freien
Platz zu. Ney folgte ihm. Der Kampf dauerte nicht lange. Keine
zwei Minuten und der Hauptmann war entwaffnet, Traskir an seiner
Kehle.
Ney zog das Schwert zurück und fragte beiläufig: »Bin
ich gut genug für die königliche Armee?«
»Na gut
«, stöhnte der Hauptmann.
Tage und Wochen vergingen im Ausbildungslager und Ney amüsierte sich köstlich, während Vîr lächelnd dastand und zusah, wie sie die Soldaten der Reihe nach fertig machte. Jeder von ihnen dachte, allein vom Zusehen ihre Techniken durchschauen zu können. Als sie dann jedoch vor ihr standen, konnten sie sie keine fünf Minuten in Schach halten. Aber auch Vîr schlug sich so gut durch, dass er und Ney zu Ausbildern befördert wurden. Nachdem die erste Gruppe Kampfanfänger, die Ney zugeteilt wurde, am nächsten Morgen kampfunfähig war, wurde sie zu den Fortgeschrittenen beordert, während Vîr ihre Gruppe übernahm. Er hatte die ganze Nacht kichern müssen, da er sich daran erinnerte, wie es gewesen war, als er mit Neys Unterricht angefangen hatte. Seine Eltern hatten immer nachgestichelt, weshalb er immer Muskelkater hatte, und warum er mit blauen Flecken überseht war.
Der Tag der Schlacht kam. Es war für Ney ein seltsames
Gefühl, ihre Lederrüstung anzulegen, wie sie es jeden
Morgen tat. Nur wusste sie diesmal, dass sie, als neue Heerführerin,
eine Gruppe von jungen Leuten in den Tod führen würde.
Noch dazu vertraute diese Gruppe der Kwey ihr vollkommen. Sie
hatte einige Gespräche am Lager belauscht. »Ich bin
mir sicher, dass wir siegen. Und wenn nicht, dann werden wir zumindest
überleben. Unsere Heerführerin ist die Größte«,
hatte ein alter Kriegsveteran zu seinen weitaus jüngeren
Kameraden gesagt.
Ney fühlte sich furchtbar. Diese Kwey würden sterben,
weil sie IHR vertrauten. Sie war immer sehr selbstsicher gewesen,
doch an diesem Tag und am Abend zuvor war sie wohl
die einzige, die sich nicht vertraute.
Die Plane ihres Zeltes wurde einen Spalt hochgeschlagen und Vîr
huschte herein. Sein Anblick verscheuchte Neys Selbstzweifel.
In seiner Lederrüstung, mit dem glänzenden Langschwert
an der Seite, sah er so stolz aus, dass Ney dachte, allein sein
Blick könnte Armeen vernichten. Sie fiel ihm in die Arme
und sie küssten sich.
»Du weißt, dass wir alle unsere Freunde und Untergeordneten
in den Tod führen«, stellte Ney fest.
»Ja.«
Ney lächelte. »Nein, sie werden nicht sterben.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Weil du bei mir bist
und weil du in der Schlacht
bei ihnen sein wirst.«
Diesmal war es an Vîr zu lächeln. Er machte den Mund
auf, um zu widersprechen, überlegte es sich dann jedoch anders,
da er wusste, dass er seine Geliebte nicht umstimmen konnte.
Draußen wurden Kriegshörner geblasen und die beiden
mussten sich aus ihrer Umarmung lösen, um ihren Pflichten
nachzugehen
doch nicht ohne einen Abschiedskuss.
Der Staub, den die Hufe der Zentauren aufwirbelten, versperrte
ihnen die Sicht auf den Rest der Armee der Pferdemenschen, doch
sie wussten, das es hunderte waren. Hunderte mehr, als ihre eigene
Armee umfasste.
Der Boden war rot. Noch nicht vom Blut, doch bald würde es
so sein. Rote Erde, rotes Blut. Die Sonne war im Aufgehen und
verbreitete rotes Licht. Rotes Licht, rotes Blut.
Und das Blut floss. Der Krach, als die beiden Armeen aufeinanderprallten,
war so ohrenbetäubend laut, dass Neys empfindliches Gehör
einen Moment lang aussetzte. Sie blinzelte kurz, sah sich die
Situation an und zog Traskir. Ein Zentaur mit durchstochenem Pferdeherz,
einer mit durchbohrtem Rumpf und einer, den sie geköpft hatte.
Sie hatte drei Zentauren getötet und eine gewaltige Armee
vor sich. Die Zentauren überrannten die Kwey teilweise einfach.
Ney stürmte durch ihre Armee, wie ein Berserker. Mal duckte
sie sich unter einem Schwerthieb durch, mal schrie sie Befehle
durch die Gegend, ohne darauf zu achten, ob sie ausgeführt
wurden oder nicht.
Um die Situation besser einschätzen zu können, zog sie
sich auf einen kleinen Hügel zurück, umgeben von denen
ihrer Leibwächter, die noch am Leben waren. Nachdem sie festgestellt
hatte, dass sie sich zurückziehen mussten, um nicht alle
getötet zu werden, hielt sie Ausschau nach Vîr. Trotz
ihrer guten Augen konnte sie ihn nirgends finden. Allerdings wollte
sie nicht glauben, dass er tot sein könnte, sondern dachte:
Er wird wohl bald hier auftauchen. Ich lasse einfach zum Rückzug
blasen.
Sie veranlasste alles Nötige, und die zusammengeschrumpfte
Armee der Kwey drehte sich auf dem Absatz um und verließ
das Schlachtfeld. Es schien im ersten Moment so, als ob die Zentauren
ihnen folgen wollten, doch auch bei ihnen wurde ein Horn geblasen
und sie zogen sich langsam und vorsichtig zurück. Ney seufzte
erleichtert auf, als sie sah, das auch die gegnerische Armee beträchtlich
zusammengeschrumpft war. Jetzt erst bemerkte sie den langen Schnitt
über ihren Rippen. Es brannte fürchterlich, doch sie
riss sich zusammen und unterdrückte den Schmerz. Sie drehte
sich wieder zum Schlachtfeld um, und wartete auf Vîr. Als
sie sah, das er nicht zurückgekehrt war, fragte sie alle
Überlebenden, ob sie ihn gesehen hätten. Ihr Vorgesetzter
ließ einen Suchtrupp zusammenstellen, von dem ein Teil
was man Ney natürlich nicht sagte nach seiner Leiche
suchte. Ney saß stundenlang in ihrem Zelt und machte sich
Sorgen. Ihrer Meinung nach mussten die Zentauren ihn entführt
haben. Das er tot sein könnte, kam für sie nicht in
Frage. Als der Suchtrupp nach fünf Stunden intensiver Suche
ohne Vîr zurückkehrte, begab sich Ney in das Zelt des
Komandanten, Telflor. »Sir, ich bitte darum, meinen Verlobten
suchen zu dürfen.«
Telflor seufzte auf und sagte mit trauriger Stimme: »Es
tut mir furchtbar leid, Lady Neyathriel. Wir können Euch
nicht dort hinausgehen lassen, nicht allein. Und wir brauchen
hier jeden Mann. Vor allem aber brauchen wir Euch. Ihr seid nicht
nur unsere geschickteste und beste Schwertkämpferin, sondern
Ihr seid auch diejenige, die den Männern den Mut gibt, weiterzukämpfen.«
»Ich bitte Euch untertänigst, mich gehen zu lassen,
Sir.«
»Nein. Es tut mir leid.«
Ney nickte stumm und verließ mit einer Verbeugung das Zelt.
Wieder in ihrem Zelt angelangt, brach sie in Tränen aus.
Es war etwas ganz Neues für sie. Sie hatte seit ihrem vierten
Lebensjahr nicht mehr geweint und an dieses eine Mal konnte sie
sich kaum erinnern.
Die Nacht kehrte in das Lager ein und alle bereiteten sich auf
den nächsten Tag vor. Auch am nächsten Tag sollte eine
Schlacht stattfinden. Ney hätte gerne geholfen, doch ihre
Gefühle für Vîr waren stärker. So zog sie
sich die Kapuze ihres Umhanges über das Gesicht und huschte
an den Lagerfeuern der Wachen vorbei, auf das Schlachtfeld zu.
Die weite Ebene wurde von einem Wald umrahmt. Ihr Ziel war genau
dieser Wald, denn dort waren die Zentauren hergekommen.
Als sie vor dem Wald stand, sah es aus, als könnte man das
dichte Unterholz nicht durchdringen, doch als sie am Waldrand
entlang ging, fand sie einen Trampelpfad, der groß genug
für die Pferdemenschen war. Diesem Pfad folgte sie bis zu
einem großen Tunnel. Zwischendurch hatte sie auch andere
Spuren gesehen, die sie als die von Vîr identifizieren konnte.
Der Tunnel sah düster und unheimlich aus, doch das schreckte
Ney nicht im geringsten ab. Sobald sie den Tunnel betreten hatte,
umgab sie völlige Dunkelheit. Ein Zauber der Finsternis,
erkannte sie. Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang,
bis sie fand, was sie suchte. Eine Spalte in der Wand verriet
ihr, das es irgendwo einen Ausgang geben musste. Gerade als sie
ihre Hand in die Spalte stecken wollte, um zu sehen, was sich
dahinter befand, hörte sie etwas hinter ihr knacken. Schnell
wirbelte sie herum und zog Traskir. Nun knackste etwas neben ihr
und sie hörte ein leises Kichern, welches nur von einem Goblin
stammen konnte. Sie wendete sich ihm zu, bereit zuzuschlagen.
Im selben Moment fiel ein anderer Goblin sie von hinten an und
schlug ihr gegen die Schläfe.
Noch während sie zu Boden stürzte, glitt sie in die
Dunkelheit der Ohnmacht.
Zwei tellergroße, graue Augen. Das Erste, was Ney sah,
als sie wieder zu sich kam, waren zwei riesige graue Augen. Sie
zuckte so heftig zusammen, dass das kleine Geschöpf zurückwich.
Ney setzte sich auf und sah sich das Wesen vor ihr an. Die riesigen
Augen saßen in einem schelmisch wirkenden, rothäutigen
Gesicht. Allein eines der beiden Augen schien größer
zu sein als der gesamte Kopf. Ney fiel jedoch auf, dass dies nicht
sein konnte und dass es nur zur Abschreckung der Gegner dienen
sollte. Der kleine rothäutige Körper lies auf eine Verwandtschaft
mit Goblins schließen. Nun wusste Ney, wen sie vor sich
hatte. Ein Fax. Diese Wesen waren die gutmütigen und lustigen
Brüder der Goblins. Goblins!
Nun fiel Ney wieder ein, weshalb sie sich überhaupt in einem
schmutzigen kleinen Kerker befand.
»Hallo.«
Ney drehte sich um. Der Fax hatte sie angesprochen.
»Hallo.«
»Wie dein Name?«, der Kleine beherrschte die Gemeinsprache
wohl nicht besonders gut.
»Ney. Und deiner?«
»Flirk Fax. Zu Diensten dein.«
»Wo sind wir?«
»Kerker von bösen Brüdern
«
Flirk ließ traurig den Kopf mit den riesigen Augen hängen.
»Hey, gib bloß nicht auf! Wir kommen schon irgendwie
hier raus.«
Der Fax tat Ney leid. Jeder wusste, dass man Faxe nicht ihrer
Freiheit berauben durfte. Der Kleine sah so traurig aus, dass
Ney sich fest vornahm, ihm eine Freude zu machen, wenn sie erst
mal draußen waren.
Plötzlich polterte eine Goblinwache in Rüstung die Kerkertreppe
herunter und sperrte ihre Zelle auf. Er winkte Ney zu sich, und
sagte mit hoher Goblinstimme: »Mein König wünscht
Euch zu sprechen.«
Ney ging zu ihm und Flirk wollte ihr folgen, doch der Wachmann
hielt ihn auf.
»Du bleibst hier.«
Flirk ließ sich auf seinen Hosenboden fallen und Tränen
traten aus seinen großen Augen, während Ney mit dem
Wachmann die Treppe hinauf verschwand.
Ney musste die Augen zukneifen, da sie sich inzwischen an die
Dunkelheit im Kerker gewöhnt hatte. Für ein Goblinversteck
war es ungewöhnlich hell. Goblins bevorzugten normalerweise
dunkle und stickige Höhlen, doch die Luft hier war sehr frisch.
Sie befanden sich in einem großen Saal, der auf den ersten
Blick komplett leer erschien, doch Ney fiel ein kleiner Thron
am einen Ende des Saales auf, auf dem ein außergewöhnlich
großer Goblin saß. Auf seinem Kopf saß eine
viel zu kleine Krone, für einen Goblin von seiner Größe.
Der Wachmann schubste Ney vor sich her, bis zu seinem König.
Dort verbeugte er sich und wechselte mit dem übergroßen
Goblinkönig ein paar leise Worte in der Sprache der bösartigen
Kreaturen. Dann sprach der Goblinkönig Ney an.
»Seid gegrüßt. Wer seid Ihr, dass Ihr es Euch
erlaubt, unseren Tunnel zu betreten?«
»Wer will das wissen?«
»Oh, verzeiht meine Unhöflichkeit, ist eine schlechte
Angewohnheit von mir. Ich bin Gongark der Dritte, König der
Goblins.«
»Mein Name ist Neyathriel. Ich habe Euren Tunnel auf der
Suche nach einer Armee von Zentauren betreten.«
»Die Zentauren dürfen unsere Tunnel nur betreten, weil
sie zu groß und zu stark sind, als dass wir sie bekämpfen
könnten.«
»Ah, ich verstehe. Was werdet Ihr nun mit mir anstellen?«
König Gongark lächelte. Es war ein böses Lächeln.
Ney hatte vergessen, dass es Goblins die größte Freude
bereitete, zu sehen, wie andere schmerzvoll und leidgeplagt starben.
Er wandte sich der Wache zu und sagte in der Gemeinsprache: »Führe
sie in die Todeskammer.«
Die Todeskammer war die grausamste Art, ein Lebewesen umzubringen.
Die Goblins hatten geschworen, jeden, der diese Kammer überlebte,
nicht nur einfach gehen zu lassen, sie würden ihn verehren
und ihm jeden Wunsch erfüllen.
Genau aus diesem Grund hatten die Goblins nicht zugelassen, dass
irgendjemand diese Kammer überleben konnte. Bis jetzt hatten
sie immer Erfolg gehabt.
Die Tür wurde geöffnet und Ney trat ein. An der Wand
hingen diverse Folterwerkzeuge. Die ganze Kammer war gefüllt
mit den schlimmsten Folterinstrumenten, die die Welt je gesehen
hatte. Die Goblins wollten Ney zu Tode foltern. Sie wurde an eine
Stange gefesselt und ein maskierter Goblin schlug mit einer Peitsche
auf sie ein. Die nietenbesetzte Peitsche zerschlug die Lederrüstung,
bis sie schließlich an Neys Fleisch drang. Unbeschreiblicher
Schmerz drang in Neys Körper ein. Er fraß sich in sie
hinein, bis er schließlich ihre Seele erreichte. Dort stieß
er an einen Gedanken. Ich muss leben. Ich muss Vîr retten.
In diesen Teil von Ney konnte kein Schmerz der Welt eindringen.
Vor dem nächsten Peitschenschlag dachte sie mit all ihren
übrigen Kräften an Vîr. Es schmerzte nicht einmal
halb so sehr, wie sie erwartet hatte. Ein flüchtiges Lächeln
huschte über ihr Gesicht. Ihr Geist hatte die Qualen überstanden.
Ihr Körper jedoch nicht ganz so gut. Nun, da sie losgebunden
war und die Prozedur beendet, wurde ihr bewusst, wie lange man
sie gefoltert hatte. Ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen,
und so sank sie zu Boden. Alles drehte sich, so dass sie die Augen
schließen musste. Der Schmerz kam und verging wieder. Sie
spürte, wie einige Goblins sie hochhoben und grob auf einen
großen Holztisch legten. Als ihr gepeinigter Rücken
das schlecht bearbeitete Holz berührte, zuckte sie heftig
zusammen. Jeder Nerv in ihrem Körper schien verletzt zu sein.
Keuchend lag sie da und wartete auf den nächsten Abschnitt
der Todesfolterung. Doch er kam nicht. Anscheinend wollten die
Goblins ihr ein wenig Ruhe gönnen.
Die Pause dauerte nicht lange. Der Foltermeister kam zurück
und nahm einen spitzen Dolch von der Wand. Ney nahm all ihre Kraft
zusammen und dachte an Vîr. Seine eisblauen Augen, die nur
für sie da waren. Seine melodische, sanfte Stimme, die nur
für sie sprach.
Der Dolch fuhr in ihre linke Schulter. Sie spürte nichts.
Der Dolch fuhr in ihre rechte Schulter. Für sie fühlte
es sich an wie ein leichtes Kitzeln. Der Goblin stach noch einmal
in die offene Wunde an der rechten Schulter, um den Schmerz zu
steigern. Ney rührte sich nicht. Er vertiefte den Schnitt
über ihren Rippen. Ein kurzer stechender Schmerz, doch nichts
weiter. Schließlich ließ der Foltermeister von ihr
ab und suchte nach weiteren Foltermethoden.
So ging es Stunde um Stunde, Tag um Tag. Jedes Mal, wenn Ney die
Augen wieder öffnete, spürte sie den Schmerz, der sie
jedoch nicht umbrachte. Irgendwann stellte sie fest, dass sie
diesen Schmerz einfach ertragen musste, allein um Vîr zu
retten.
Drei Tage waren nun vergangen, seit Gongark der Dritte, Ney in
die Todeskammer gesperrt hatte. Der Foltermeister war bereits
vollkommen verzweifelt und einem Tränenausbruch nah. Nichts,
was er versucht hatte, vermochte die junge Kwey umzubringen. Messerstiche,
Peitschenhiebe, die Knochenbrechermaschine
Nichts. Rein gar nichts.
Ney wurde seit drei Tagen gequält. Ohne Wasser und Nahrung.
Zum Weinen war sie nicht mehr imstande. Ihr Rücken war mit
Peitschenhieben überseht, überall an ihrem Körper
fand man Messerstiche, ihr linker Arm und die Hälfte ihrer
Rippen waren gebrochen. Sogar einen vergifteten Dolch hatte sie
schon im Rücken stecken gehabt. Es war ein Wunder, dass sie
noch nicht verblutet oder an dem Gift verreckt war. Der Foltermeister
war der Ansicht, dass sie göttliche Kräfte besäße.
Das war natürlich Unsinn. Es war einfach ihr Wille zu leben.
Ihr Wille, Vîr zu retten.
Nun lag Ney auf dem Foltertisch und wartete auf einen weiteren
Messerstich. Der Foltermeister warf sein bestes Messer in eine
schmutzige Ecke, ließ sich auf einen Stuhl sinken und schluchzte:
»Bringt sie hier raus! Ich kann nicht mehr! Sie ist
ein Monster, bringt sie weg!!!«
Einige kräftige Goblins hoben die inzwischen vor Schmerz
ohnmächtige Ney vom Tisch und trugen sie aus dem stickigen,
dunklen Raum.
Das gleißende Licht, welches Ney sah, als sie die Augen
öffnete, blendete sie derart, das sie einige Minuten lang
nichts sehen konnte. Sie lag auf einem weichen Bett mit weißen
Laken, dass in einem Raum stand, dessen Wände mindestens
genauso weiß waren wie die Bettwäsche. Sie fühlte
sich elend. Man hatte ihre Wunden und Brüche zwar versorgt,
doch noch waren sie nicht völlig verheilt. Jede Bewegung
schmerzte. Auf einmal drängte sich etwas in ihre Gedankengänge.
Ich habe es geschafft. Ich habe die Todeskammer überlebt.
Ich werde Vîr befreien!
Die Tür wurde geöffnet. Gongark der Dritte stampfte
missmutig herein vollführte eine so tiefe Verbeugung, dass
Ney glaubte, er müsse jeden Moment mit der Nase am Boden
anstoßen. Ney nickte ihm, so gut es ging, zu und er begann
zu sprechen.
»Mylady, so darf ich Euch doch nennen?«
Ney nickte. Ihr gefiel der Respekt des Goblinkönigs.
»Also gut. Mylady, Ihr seid die Erste, die unsere Folterkammer
überlebt hat. Damit habt Ihr bei uns göttlichen Status
erreicht. Ihr könnt bei uns bleiben bis zu Eurer vollkommenen
Genesung.«
»Danke, das ist sehr freundlich von Euch, aber ich werde
diesen Ort verlassen, sobald ich wieder laufen kann.«
Die höfliche Art des Königs überraschte Ney. Zuvor
hatte er noch sarkastische Bemerkungen gemacht, doch nun erwies
er ihr größten Respekt. Sie fügte noch schnell
hinzu: »Ich hätte noch eine Bitte. In Eurem Kerker
befindet sich zurzeit ein Fax. Ich möchte, dass Ihr ihn freilasst.
Er wird mich begleiten.«
»Wenn Ihr es so wünscht, Mylady.«
Mit diesen Worten verschwand der König und ließ einen
eingeschüchterten kleinen Goblin da, der Neys Wunden weiterversorgte.
Die nächste Woche über lag Ney im Bett und erholte sich.
Ihr neuer Freund Flirk kam sie jeden Tag besuchen und schlenderte
den Rest der Zeit bei den Goblins frei umher.
Nach genau einer Woche stand Neyathriel auf und beschloss, Vîr
suchen zu gehen. Ihre Knochen waren noch nicht vollständig
geheilt, doch diese Tatsache vergaß sie schnell. Kurz vor
ihrer Abreise kam der König zu ihr.
»Mylady, ich hoffe, Ihr werdet eine gute Reise haben
es tut mir furchtbar leid, dies zu sagen, aber es muss sein.«
»Was denn?«
»Kein Lebewesen außer Faxen und Goblins darf diesen
Ort ohne ein Andenken verlassen. Ein schmerzvolles Andenken.«
Er hielt ein kleines Gerät in der Hand und hob es hoch, bis
es auf Neys Augenhöhe war. Ein kleiner Blitz zuckte hervor
und die Kwey schrie kurz auf. Ihre Sicht wurde unscharf. Vor ihren
Augen begann alles zu flimmern und große, schwarze Flächen
breiteten sich über ihr Sichtfeld aus, bis alles schwarz
war. Sie war blind.
»Wozu?«, flüsterte sie in schmerzvollem Ton.
»Wie gesagt, es tut mir leid.«
Die nächsten Tage vergingen schnell. Flirk führte
Ney und brachte sie in die Hauptstadt der Faxe, Faxel. Ihr Leben
lang war es eines von Neys Zielen gewesen, diese Stadt zu sehen.
Nun war ihr dies nicht mehr möglich. Also ließ sie
es sich von Flirk beschreiben, so gut er es konnte.
»Das da links sein Haupthaus. Viele groß und klein
Faxhaus drumrum.«
Ney lächelte, auch wenn man es unter der Kapuze des Mantels,
den sie sich umgeworfen hatte, nicht sehen konnte. Sie hatte den
kleinen Kerl lieb gewonnen.
»Kannst du mich in das Haupthaus führen?«
»Japs, japs
«
Sie wollte den Herrscher der Faxe fragen, ob er Vîr gesehen
hätte. Gerade dachte sie über die Beschreibung nach,
die sie dem Oberfax geben wollte, als Flirk sie in dessen Büro
führte.
Flirk begann in seiner Sprache heftig mit dem Oberfax zu diskutieren.
Plötzlich ging die Tür auf und eine Stimme erklang hinter
Ney.
»Sir, ich muss gehen. Ich muss mich auf die Suche nach meiner
Geliebten machen.«
Ney wirbelte herum. Diese Stimme hätte sie selbst unter Wasser
erkannt. Trotzdem fragte sie zögernd: »Vîr?«
»Ney?«
Er lief auf sie zu und schloss sie in die Arme. Tränen schossen
aus Neys blinden Augen. Tränen der Freude, die sich in Tränen
des Schmerzes verwandelten. Vîr drückte sie so fest
an sich, dass ihre verletzten Knochen schmerzten. Sie zuckte zusammen
und Vîr ließ sie erschrocken los.
»Was ist mit dir geschehen?«, fragte er.
»Ich bin den Goblins in die Falle gegangen. Sie
sie
haben mich in die Todeskammer geworfen.«
»Du hast es überlebt?«
»Sieht man doch. Ich werde nun von ihnen göttlich verehrt,
doch ich musste einen Preis zahlen
«
Obwohl sie es nicht sehen konnte, wusste Ney, dass Vîr sie
erschrocken ansah.
»W
was für ein Preis?«
Er fragte, trotz seiner Angst vor ihrer Antwort.
Ney schluckte und fasste allen Mut zusammen. Schließlich
flüsterte sie: »Sie haben mir mein Augenlicht genommen
«
Der starke Krieger nahm seine Verlobte erneut in den Arm, doch
diesesmal viel sanfter und vorsichtiger. Er erzählte ihr,
dass er von den Zentauren gefangen genommen worden war, sich jedoch
hatte befreien können. Die Faxe hatten ihm schließlich
Unterschlupf gewährt und er hatte sich eng mit ihnen angefreundet.
Vîr und Ney beschlossen, nach alledem, was geschehen war,
bei den Faxen zu bleiben. Sie erlernten deren Sprache und heirateten
nach deren Bräuchen. Nur von ihrem Besuch in der Todeskammer
sollte Ney sich nie wieder erholen.
Nun bin ich fertig. Neyathriels Geschichte ist erzählt. Ihr fragt nach dem Geheimnis an der Sache? Ich werde es euch verraten. Habt ihr euch nie gefragt, wie Ney all das überleben konnte, was nie zuvor ein Lebewesen überlebt hatte? Ihr Geheimnis: Liebe.