Clara Koss (12)

Sieben Steine – Sieben Wächter

Luna starrte mit verträumtem Blick zur Tafel und hörte überhaupt nicht zu, was Frau Jansenberger über die negativen und positiven Zahlen laberte. »Warum muss die immer so viel Blödsinn erzählen«, dachte Luna sich, »ich will heute noch in die Bibliothek kommen.« Endlich läutete es. Luna sprang auf und packte hastig ihre Schulsachen zusammen, mit einem kurzen »Tschüs« zu ihrer Freundin Tina flog sie aus dem Klassenzimmer und hinaus zur Bushaltestelle.

Als sie wenig später vor einem alt aussehenden Gebäude mit verstaubten Fenstern stehen blieb, musste sie lächeln. Wer es nicht wusste, hätte nicht gedacht, dass in diesem Haus eine Bibliothek untergebracht war. Luna öffnete die Tür und betrat einen etwas verstaubten Raum, der von oben bis unten mit Büchern aller Art und Größe vollgestopft war. Sie stellte ihre Tasche gleich neben der Tür ab und schlenderte dann die Regalreihen entlang. In einer Ecke, die noch verstaubter aussah als der Rest – was fast unmöglich war – blieb sie neugierig stehen. Sie streckte die Hand nach einem der Bücher aus, zog es aus dem Regal und klappte den Buchdeckel auf. Vor Schreck hätte sie es fast fallen gelassen. Das Buch hatte keine Blätter! Stattdessen lag ein Kästchen darin, das mit sieben sehr merkwürdigen Symbolen verziert war. Luna streckte die Hand nach dem Kästchen aus, und als sie dieses berührte, sprang der Deckel des Kästchens auf. Es war vollkommen leer! Verwirrt tastete Luna die Innenseite des Kästchens ab, aber da war nichts zu finden. Kein Blatt Papier, kein Stein, ja nicht einmal ein Kugelschreiber lag darin.
Da fragte plötzlich eine sehr hohe und zugleich sehr barsche Stimme hinter Luna: »Macht es Spaß, in den Sachen anderer herumzuwühlen? Warum hast du mich eigentlich aufgeweckt?«
Luna zuckte zusammen und schaute um sich. Hinter ihr schwebte eine kleine Gestalt. Diese sah fast aus wie ein Mensch, einmal davon abgesehen, dass sie Flügel am Rücken hatte, die aussahen wie Engelsflügel, und dass sie ungefähr fünfzehn Zentimeter groß war. Das Wesen starrte Luna aus zwei dunkelgrünen Augen an und wiederholte dann die Frage: »Warum hast du mich aufgeweckt?«

Luna hatte sich schon ein wenig gesammelt und antwortete: »Ich wollte dich wirklich nicht stören. Aber warum regst du dich so auf, in dem Kästchen ist ja gar nichts?«
Das Wesen erstarrte und vergaß für einen Augenblick, mit den Flügeln zu schlagen. »Nein, das ist nicht dein Ernst, sie sind nicht alle weg! Das kann nicht sein!«, schrie es und flatterte aufgebracht an Luna vorbei in das Kästchen. Dann wandte es sich wieder an Luna. »Du warst die Letzte, die das Buch in den Händen hatte. Also, wo sind sie?«, blaffte das Geschöpf Luna an.
»Wo ist was?«, fragte Luna, »ich weiß einfach nicht, was du meinst.«
Die Gestalt schien fast zu explodieren. Sie plusterte sich auf, der Umfang wurde doppelt so groß und auch die Farbe veränderte sich. »Wo sind die sieben magischen Steine?«, rief sie außer sich vor Wut.
Luna schaute das Wesen fragend an, machte große Augen und legte dabei den Kopf leicht schief.
Mit etwas ruhigerer Stimme sprach das Geschöpf weiter. »Mir scheint, du weißt wirklich nicht, was ich meine. Na gut, ich werde es dir erklären. Aber vorher muss ich noch etwas wissen. Warum kannst du mich überhaupt sehen?«
Luna starrte das Wesen an und antwortete etwas zaghaft: »Du bist zwar klein, aber zum Übersehen bist du auch wieder nicht, schon gar nicht hier. Oder kann man dich normalerweise nicht sehen?«
Die Gestalt nickte heftig mit dem Kopf: »Normalerweise bin ich für alle Menschen unsichtbar. Aber hör mir gut zu, denn es geht dich ab jetzt auch etwas an. Vor langer Zeit lebten die Menschen, die Feen, wie ich eine bin, und die Zauberer und Hexen friedlich nebeneinander. Doch dann kam einmal ein Menschenkönig, der seine Soldaten anwies, alle magischen Geschöpfe zu töten. Doch die Feen und Zauberer waren nicht so dumm, sich töten zu lassen. Sie versteckten sich in einem besonderen Wald, den man in unserer Sprache ›Du Weldenvarden‹ nennt, was ›der unsichtbare Wald‹ bedeutet. Um zu verhindern, dass die Menschen den Wald finden, erschufen sie die sieben magischen Steine. Diese tragen jeder ein Zaubererelement in sich. Diese Steine wurden dann in dieses Buch gesperrt und ich wurde als ihre Wächterin auserwählt. So, und jetzt kommst du ins Spiel! Der Zauber, der mich an das Buch fesselt, macht mich unsichtbar und er kann nur gebrochen werden, wenn die Steine aus dem Buch genommen werden. Aber es ist so, dass mich auch ohne Zauber nur Wesen sehen können, die magische Fähigkeiten besitzen. Und da du mich sehen kannst, bedeutet das, dass du eine Hexe oder etwas Ähnliches sein musst! Und, du musst mir helfen und musst die Steine wiederfinden!« Die kleine Fee sank leicht in sich zusammen, ließ die Schultern hängen und machte ein Hilfe suchendes Gesicht.
Luna wollte gerade etwas erwidern, als ein lauter Knall ertönte.

Wie aus dem Nichts tauchte eine weitere Gestalt direkt vor Luna und der kleinen Fee auf. Sie war von oben bis unten grün, und kaum, dass sie die beiden bemerkt hatten, hob die Gestalt die Arme und sagte etwas, was aber weder Luna noch die kleine Fee verstanden. Schon schossen dicke Ranken über den Boden, fesselten Luna am Boden und an den Regalen fest, die links und rechts von ihr standen.
»Du musst den Stein aus dem Kopf herausholen!«, rief die Fee, die verzweifelt versuchte, den Ranken auszuweichen, die sie fangen wollten.
»Na, wie den?«, rief Luna verdutzt.
»Benutze deine magischen Kräfte!«, antwortete die Fee.
»Toll, und wie, bitte, soll ich das machen?«, dachte Luna und zog ganz fest an ihren Fesseln. »Wie soll ich meine magischen Kräfte benutzen, wenn ich doch gar nicht weiß, wie man zaubert?«, dachte sich Luna. Da flatterte plötzlich die kleine Fee vor ihren Augen vorbei und warf Luna eine Kette zu. Die Kette war nur ein Lederband, an dem ein Anhänger hing, der die Form eines Schlüssels hatte. Aus irgendeinem Grund wusste Luna, was sie nun tun musste. Sie schloss den Anhänger fest in die rechte Hand ein und sagte mit fester Stimme: »Magischer Schlüssel, entfessle deine Kraft!« Dabei starrte sie gebannt auf den Anhänger. Dieser begann zu glühen und Luna fühlte, wie sie sich veränderte. Ihr Haar, welches sowieso schon sehr lang war, wurde blitzschnell noch länger und aus ihrem Rücken wuchsen Flügel, ähnlich wie die der Fee. Auch ihre Kleidung änderte sich: Sie trug nun einen fließenden Rock, der ihr bis zu den Knien reichte, ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln und Stiefel, die bis über die Knie reichten und vorne spitz zuliefen. Alle Teile ihrer Kleidung waren violett, sogar die beiden Bänder, die ihre Haare zu zwei Zöpfen zusammenbanden. Luna hob eine Hand, die in einem Handschuh steckte, der die Fingerspitzen frei ließ und ebenfalls violett war. »Magische Flamme, zerstöre dieses Wesen!«, rief Luna.
Eine Flamme sprang aus ihrer Hand, setzte das grüne Wesen in Brand und mit einem lauten, spitzen Schrei löste es sich in Luft auf. Die Ranken fielen von Luna und der kleinen Fee ab. Luna starrte verwirrt an sich hinunter. Gerade wollte sie fragen, was da passiert wäre, und wie man es wieder rückgängig machen könne, als mit einem weiteren lauten Knall ein Geschöpf auftauchte, das ganz in Rot gekleidet war. Sogar die Haut und die Haare waren rot wie die Glut von Kohle.
Die Fee, die sich inzwischen auf Lunas Schulter gesetzt hatte, sagte: »Die Wächter der Steine treten immer zu zweit auf und immer die beiden, wo der eine den anderen besiegen kann!«
»Na toll, und was mach’ ich jetzt? Ich weiß nicht, wie ich das grüne Wesen vernichtet habe«, sagte Luna, während sie sich langsam rückwärts von dem roten Geschöpf entfernte.
»Du musst das magische Wasser rufen, so wie du das Feuer gerufen hast«, sagte die Fee und versuchte sich in Lunas Haaren zu verstecken.
»Gut«, dachte Luna, »na dann los«. Aber bevor sie den Mund öffnen konnte, schossen über den Boden Flammen auf sie zu. Erschrocken versuchte sie den Flammen auszuweichen, war jedoch viel zu langsam, sodass sie die Flammen an ihren Stiefeln emporschnellen fühlte. »Ich muss zuerst die Flammen löschen«, fiel ihr blitzschnell ein, »erst dann kann ich das Wesen besiegen.« Luna überlegte schnell und murmelte: »Flamme verschwinde, geh zurück, von wo du kamst, sonst wirst du spüren wie du …« Die Flammen zogen sich zurück. Nun konnte sich Luna wieder auf die Gestalt konzentrieren. »Magisches Wasser, ich rufe dich! Vernichte das Wesen mit Regen und Gischt!«, rief sie laut und deutlich. Eine hohe Flutwelle schwappte über das rote Wesen und als sie wieder verschwunden war, war auch das rote Geschöpf verschwunden.
In Lunas Kopf ging es zu, als ob Zahnräder einrasten würden. Nun verstand sie, was geschehen war. Als sie den Schlüsselanhänger berührt hatte, waren Kräfte in ihr entfesselt worden, die eindeutig mit Magie zu tun hatten.
Die kleine Fee flatterte nun vor Lunas Augen und sagte mit würdevoller Stimme: »Luna, du bist die Wiedergeburt der legendären Zauberin Leandra. Sie war eine der Zaubererinnen, die die Steine erschufen, und sie war die einzige, die die Steinwächter besiegen konnte. Nun bist du unwiderruflich an die Steine gebunden. Du musst sie jetzt alle zurückholen. Zwei hast du schon, die liegen dort am Boden.«
Luna trat vor, bückte sich und hob einen grünen und einen roten Stein auf. Sie legte sie in das Kästchen, klappte das Buch zu und wandte sich anschließend an die kleine Fee. »Ach, liebe Fee, kannst du mir sagen, wie ich die Steine finden soll? Wer kann mir helfen und wie kann ich mich wieder zurückverwandeln?«, fragte sie.
Die Fee lächelte, schlug ein paar Mal mit den kleinen Flügeln, um in Augenhöhe vor Luna zu erscheinen. »Die Wächter werden dich suchen, du musst nur an sie denken.«
Dabei machte sie eine kreisende Bewegung in der Luft, es blitzen kurz viele kleine Sterne auf und Luna hatte wieder ihre normale Gestalt. Kurz hatte sie das Gefühl, als ob sie das Ganze nur geträumt hätte. Sie rieb ihre Augen, schaute sich in ihrer Umgebung um und war zufrieden, wieder in der »Wirklichkeit« zu sein. Nur, da war immer noch die kleine Fee.
»Wie ist eigentlich dein Name?«, fragte Luna und schaute mit weit geöffneten Augen die Fee an.
»Ich heiße Wyrda. Das bedeutet die Schützerin. Du kannst mich aber Wyrr nennen, das tun alle meine Freunde. Nun zu deiner Frage. Niemand kann dir helfen und außerdem darfst du niemandem etwas erzählen. Es ist sozusagen ein Geheimnis«, antwortete die kleine Fee.
Luna nickte kurz, ging dann durch das düstere Zimmer, steckte das Buch unauffällig in ihre Tasche und trat durch die verstaubte Türe auf die Straße. Wyrr schlüpfte rasch noch hinter Luna durch die Türe und setzte sich auf Lunas Schulter, von wo aus sie einen schönen Ausblick über die Umgebung hatte. Kurz überlegte Luna, ob nicht jeder der vorbeiging, Wyrr sehen könnte, doch dann fiel ihr wieder ein, dass ja nur sie die Fee sehen konnte.

Als Luna zu Hause ankam, wollte sie zuerst das Buch in ihr Zimmer bringen, um dann Wyrr ihr Bett zu zeigen. Aber Lunas großer Bruder versperrte den Weg. Er war zwei Jahre älter und leider auch viel größer, sodass Luna nicht so einfach an ihm vorbei konnte.
»Wo warst du so lange?«, fragte er, sichtlich etwas entnervt. »Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht und Mutter auch!«, meinte er und schaute Luna mit strengem Blick vom Kopf bis zu den Zehen genau an.
»Ich war doch in der Bibliothek«, antwortete Luna, so gleichgültig wie möglich. »Würdest du mich jetzt bitte vorbeilassen, ich muss noch Hausaufgaben machen«, fügte sie hinzu und schob sich an dem großen Bruder vorbei.
»Wer war das denn?«, fragte Wyrr, kaum dass die Zimmertür ins Schloss gefallen war.
»Ach, niemand Besonderes, nur mein Bruder Jim«, antwortete Luna, zog das Buch aus der Tasche und schloss es in das Geheimfach in ihrem Schreibtisch ein.
Dann nahm sie ihre Mathesachen und begann mit ihren Hausaufgaben. Beim Abendessen saß Wyrr auf ihrer Schulter und betrachtete neidisch das Stück Fleisch auf Lunas Teller. »Ich nehme dir etwas mit ins Zimmer«, versprach Luna ganz leise und musste dabei ein wenig vor sich hinlächeln. Luna ging früh ins Bett, denn, obwohl morgen ein Feiertag war und sie sich ausschlafen könnte, wollte sie doch früh aus den Federn, um in den Reitstall zu fahren und einen Ausritt mit ihrem Lieblingspony Colorado zu machen.

Leider war dann die Nacht nicht ganz so erholsam, wie Luna sich das wünschte. Kaum war sie eingeschlafen, als sie auch schon von einem lauten Knall wieder geweckt wurde. Sofort sprang sie aus dem Bett und rannte zum Fenster. Draußen, auf der Straße, stand ein großes Wesen, das von oben bis unten blau war. Luna wusste sofort, dass dieses Wesen ein Steinwächter war. Sie zog den Anhänger aus ihrem Kragen. Zum Glück hatte sie sich die Kette um den Hals gehängt. Den Anhänger schloss sie fest in die Hand ein und rief: »Magischer Schlüssel, entfessle deine Kraft!« Wieder verwandelte sich Luna in das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar und dem violetten Gewand. Luna riss das Fenster auf und sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Straße.
»Das muss der Wächter des Wassers sein. Aber, wie besiege ich ihn?«, überlegte Luna. Was kann Wasser besiegen?
»Wasser leitet Strom!«, rief Wyrr nur für Luna hörbar vom Fensterbrett hinunter auf die Straße.
»Ja, richtig! Das haben wir ja auch schon in der Schule gelernt. Jetzt kann es ja nicht mehr so schwer sein«, dachte sich Luna. Sie hob die Hand, um die magischen Worte zu sprechen. Doch es gelang ihr nicht. Das blaue Wesen hob ebenfalls beide Hände und eine gewaltige Flutwelle schwappte auf Luna zu. Sie versuchte schnell ins Haus zu flüchten, aber die Türe wurde durch einen Türstopper versperrt. Da hatte die Welle Luna auch schon mit sich gerissen. Luna war eine gute Schwimmerin, aber eine miserable Taucherin. Verzweifelt versuchte sie wieder an die Oberfläche zu gelangen. Sie strampelte so lange, bis ihr einfiel, dass sie ja Flügel hatte. »Für irgendetwas müssen die ja auch gut sein!«, dachte sie und fing an, mit ihnen zu schlagen. Sie durchbrach die Wasseroberfläche und stieg in die Höhe. Erschreckt musste sie feststellen, dass Wyrr nicht mehr auf ihrer Schulter saß. Suchend schaute sie ins Wasser. »Wyrr, wo bist du?«, rief sie immer wieder. Da entdeckte sie Wyrr an der Wasseroberfläche treiben. Sofort flatterte Luna los, stürzte in Richtung Wyrr, streckte ihre Hand im Flug ins Wasser und konnte gerade noch Wyrrs Ärmel ergreifen. Keine Sekunde länger hätte die Rettung dauern dürfen, denn im selben Augenblick warf das blaue Wesen eine riesige Hand voll Wasser nach Luna. Diese musste sich hinunterbeugen, um nicht getroffen zu werden. Vorsichtig legte Luna Wyrr in die Regenrinne, weil dies der einzige trockene Ort war. Dann hob sie beide Arme und rief, wobei jeder ihren Zorn in der Stimme hören konnte: »Magischer Blitz, fließe durch die Adern dieses Wesens und zerstöre es!« Ein greller, gelber Blitz traf das blaue Geschöpf und es explodierte mit einem lauten Knall. Das Wasser zog sich gleichzeitig zurück. Dabei sah man, dass es Mistkübel und Briefkästen mit sich gerissen hatte.

Wyrr hob den Kopf aus der Regenrinne und starrte zuerst auf die Verwüstung am Boden und dann auf Luna, die pitschnass immer noch in der Luft hing.
Wyrrs Augen weiteten sich erschrocken und sie rief mit zitternder Stimme: »Luna, pass auf! Hinter dir!«
Luna blickte sich nach allen Seiten um und schwebte nun direkt auf den Wächter des Blitzes zu. Aug’ in Aug’ schwebten die beiden sich nun gegenüber. Der Wächter hob beide Arme und packte Luna. Dabei fuhr ein heftiger Stromschlag durch ihren Körper. Leicht benommen schwebte sie in der Luft. »So einfach gebe ich nicht auf! Kampflos gebe ich mich nicht geschlagen!« Luna versuchte nun auch ihre Hände zu heben, rief mit leicht zittriger Stimme: »Magischer Stein, begrabe dieses Wesen unter dir. Möge es nie wieder die Gelegenheit bekommen, Unheil anzurichten!« Ein riesiger Felsbrocken fiel vom Himmel. Luna war jedoch vom Blitz noch so geschwächt, dass sie nicht gut gezielt hatte. Der Felsbrocken verfehlte sein Ziel und krachte auf die Straße, wo er ein tiefes Loch hinterließ. Luna zuckte bei diesem Lärm zusammen. Das Blitzwesen allerdings nicht. Es hob erneut eine Hand und schleuderte einen Blitz nach Luna. Diesem konnte sie nur um Haaresbreite ausweichen. Dadurch wurde Luna nun endgültig wach und sie konnte sich wieder gut konzentrieren. Sie wiederholte den Zauber und dieses Mal traf sie. Mit einem hellen Feuerball löste sich der Wächter des Blitzes auf. Luna sank langsam zu Boden, um die beiden Steine, den blauen und den gelben, aufzuheben. Wyrr setzte sich langsam auf Lunas Schulter und machte es sich wieder bequem.
»Das hast du wirklich gut gemacht!«, sagte sie ganz stolz.
»Naja, ich weiß nicht so richtig«, entgegnete Luna, »schau dich doch einmal um. Wie sollen wir denn das alles erklären, ohne zugeben zu müssen, dass das mit Magie zu tun hat?«
»Gar nicht. Wir tun einfach so, als ob wir nichts bemerkt hätten, und den Rest macht die Polizei und die Presse. Die finden sicher eine Erklärung«, kicherte Wyrr und klopfte Luna dabei anerkennend auf die Schulter.
Luna musste ihr Recht geben. Wenig später lag Luna wieder in ihrem Bett und starrte an die Decke. Wyrr saß im Schneidersitz in einer Art Seifenblase, wo sie schlief. Luna schloss die Augen und im Nu wurde ihr Atem tief und gleichmäßig. Auch sie war eingeschlafen.

Am nächsten Tag fuhr Luna, Wyrr in ihrer Umhängetasche, zum Reitstall. Sie freute sich schon auf einen langen Ritt durch die Wälder und auf die Hügel der Umgebung mit ihrem Lieblingspony Colorado. Luna holte das Pony von der Weide. Eigentlich hatte sie gleich losreiten wollen, doch natürlich musste Colorado wieder Mätzchen machen. Er wollte sich einfach nicht einfangen lassen. Als Luna ihn endlich am Putzplatz angebunden hatte, war das Theater aber noch lange nicht vorbei. Das größte Problem war ja eigentlich Wyrr. Sie hatte ja noch nie ein Pferd gesehen, geschweige denn gehört, wie man mit ihm umgeht. Sie war furchtbar aufgeregt und flatterte ständig rund um Colorado herum, was diesen total nervös machte. »Wyrr, entweder du hörst sofort auf, hier zu flattern, oder du wirst in die Tasche gesperrt und ich lasse dich einfach hier im Stall hängen!« Luna setzte noch ein paar Flüche dahinter, leise, denn eigentlich wollte sie ja Wyrr zeigen, wie schön es in den Wäldern auf einem Pferderücken sein kann. Wyrr setzte sich auf Lunas Schulter und war ganz still. Erst als sie im Gelände waren, bewegte sie sich wieder. Luna genoss den Ausritt. Colorado war total munter und aufgekratzt. Im zügigen Tempo ging es voran und Luna vergaß all den Ärger, den das Buch mit dem Kästchen und das Auftauchen von Wyrr verursacht hatten. Die Vögel rund um sie herum sangen ihre Lieder, ein sehr kleiner Vogel flog ein Stück mit ihnen mit und sang ein Lied, das Luna ein wenig bekannt vorkam. Schon bald gab es für Luna nur noch Colorado unter ihr und die Vögel neben ihr und dieses Lied. Sie begann mitzupfeifen und mit der Zeit fiel ihr ein Text zu diesem Lied ein. Ein Text in einer anderen Sprache. Aber obwohl sie diese Sprache noch nie gehört hatte, kannte sie den Inhalt dieses Liedes.

»Ein Licht am Horizont, so hell und rein,

es leuchte nur für diesen Augenblick, darum hol es dir.

Lass es nicht entkommen, denn es kehrt nie zurück,

ergreif es und du wirst es nie verlieren.

Doch denk daran, es wird niemals nur dir gehören,

denn es leuchtet nicht nur für dich.

Wenn du es teilst, wird es nie vergehen,

und es wird stets zu dir stehen.«

Luna sang dieses Lied leise vor sich hin, während sie durch ein Wäldchen ritt. Als sie wieder auf eine Wiese kam, schnalzte sie mit der Zunge, nahm die Zügel in die Hände und galoppierte mit Colorado los. Ihre Haare wehten in der Luft. Wyrr hatte nicht mit diesem Tempo gerechnet und konnte sich gerade noch an einer Haarlocke festhalten. Colorado wieherte laut auf und freute sich, dass er nun so richtig zeigen konnte, wie schnell er laufen konnte. Auf einmal wurde Colorado unruhig. Er wurde noch schneller und versuchte umzukehren.
»He!«, rief Luna, »Was ist los?«
Colorado warf den Kopf hoch. Ein sicheres Zeichen, dass er etwas witterte, was ihm Angst machte. Colorado hatte, wie alle Pferde, einen siebenten Sinn für Dinge, die merkwürdig oder seltsam waren.
Luna wusste zwar nicht, was Colorado so beunruhigte, aber was auch immer es war, sie wollte es herausfinden. Im Trab ritt Luna weiter über die Wiese. Da hörte sie ein vertrautes Geräusch. Päng!
Sofort war Luna ganz klar im Kopf und ihr fielen wieder all die gefährlichen Situationen, die sie den letzten Tag mit Wyrr erlebt hatte, ein. »Nicht schon wieder, wollen die einen Rekord aufstellen und alle paar Stunden nerven?«, dachte sich Luna und drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Doch anstatt eines weiteren Wächters sah sie nun einen Jungen. Er war gut einen Kopf größer als sie, hatte strohblonde Haare und trug einen langen schwarzbraunen Mantel.
Luna hielt Colorado an und beobachtete den Jungen aus sicherer Entfernung.
Dieser kam langsam auf das Pferd und Luna zu.
»Wer bist du? Was machst du hier und warum hast du eine Fee bei dir?« Der Junge stellte die Fragen so schnell und bestimmt, als ob es ihn nicht kümmerte, ob Luna nun verwirrt war oder nicht.
Woher weiß er etwas von Wyrr? Luna starrte den Jungen erstaunt an.
»Bist du taub?«, fragte dieser barsch, »Oder sprichst du nicht mit jedem? Kannst du kein Deutsch?«
»Natürlich verstehe ich dich«, Lunas Antwort war etwas patzig, »aber, woher weißt du von Wyrr? Ich dachte, du kannst sie nicht sehen?!«
Der Junge lachte laut auf. Es war ein seltsames, freudloses Lachen und Luna lief es kalt über den Rücken. »Wie nennst du Wyrda?«, fragte der Junge neugierig, und er schien sich zu amüsieren.
Wyrr kletterte Unheil ahnend aus der Tasche und erschrak, als sie den Jungen erblickte. »Esmael!«, kam es ganz schwach über ihre Lippen. Sofort wollte sie sich wieder in die Tasche verkriechen, doch Luna packte sie, hielt sie fest und stellte Wyrr zur Rede.
»Wer ist Esmael! Woher kennt ihr euch? Was wird noch alles geschehen? Wer kommt noch und will etwas Unmögliches von mir?«, all diese Fragen brachen auf einmal aus Luna heraus.
Sie war merklich genervt und verunsichert. Sie hatte eigentlich von dem ganzen Zauber schon lange genug. Warum konnte sie nicht einmal mehr einen Ausritt mit Colorado durch die tolle Natur wagen? Den schönen Tag genießen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen und, auf Colorados Rücken liegend, dem Zug der Wolken nachschauen. Warum? Luna begann mit offenen Augen zu träumen.

»Esmael ist ein Diener des Eisernen Wächters und offizieller Feenjäger des Königs«, sprach da eine Stimme. Ach ja, das war Wyrr, die Luna aus ihren Träumen riss.
»Feenjäger«, dachte Luna, »das heißt ja, er ist wirklich gefährlich. Ich sollte lieber so rasch wie möglich hier verschwinden.« Luna nahm die Zügel in die Hand, gab Colorado ein Zeichen und wollte gerade losgaloppieren, als Esmael seine Peitsche durch die Luft wirbeln ließ. Blitzschnell hatte er Colorados Beine gefesselt. Das Pony wieherte erschrocken auf und stürzte zu Boden. Luna sprang gerade noch rechtzeitig vom Rücken des Pferdes, um nicht bei dem Sturz verletzt zu werden.
Gerade wollte sie zu Fuß in den Wald flüchten, als zwei weitere Gestalten ihr den Weg versperrten. Die eine Gestalt war grau-braun, das andere Wesen himmelblau. Es waren der Wächter des Steines und der Wächter der Luft. Viel Zeit zum Nachdenken blieb Luna nun nicht mehr. Immerhin waren diese Wesen zu dritt und sie? – Bisher hatte Wyrr ihr nicht sehr geholfen! Sie musste handeln! »Okay, einen Schritt nach dem anderen!«, sagte sich Luna. Die größte Bedrohung geht von den Wächtern aus, also muss ich mit diesen beginnen. Luna suchte den Anhänger, aber, oh Schreck, er war nicht mehr da!
»Dreifacher Kometenmist!«, fluchte sie laut, »Wo ist das Ding?«
»Suchst du das?«, Esmael hielt den magischen Schlüssel an seinem Lederband in die Luft.
»Wie ist er an den Anhänger herangekommen?«, überlegte sich Luna, »Ich trage ihn doch immer um meinen Hals. Auch egal, irgendwie muss ich den Anhänger zurückbekommen.« Einfach loszulaufen war ja dumm. Viel Zeit zum Überlegen hatte Luna nicht. Wyrr, das ist die Lösung, schoss es ihr durch den Kopf.
»Nein, das kannst du vergessen!«, sagte Wyrr und schüttelte dabei heftig den Kopf.
Wyrr konnte auch Gedanken lesen, das wusste Luna nun auch. Mit bestimmter Stimme und zusammengezogenen Augen fauchte Luna: »Doch, jetzt bist du an der Reihe!«
Wyrr reagierte zwar widerwillig, jedoch flatterte sie blitzschnell los. Esmael war so verwirrt, dass er ganz vergaß, Luna im Auge zu behalten. Er setzte Wyrr nach und ließ dabei den Anhänger fallen. Luna schnappte ihn und schon hatte sie sich verwandelt.
Allerdings war das auch ein Fehler, denn die Wächter, die vorher nur einfach dagestanden hatten, wurden nun lebendig. Schon warf der Wächter des Steins einen Stein nach Luna und diese war gezwungen, wahre Ballettkunststücke zu vollführen, um nicht getroffen zu werden. Der andere Wächter entfachte einen wahren Tornado und schleuderte Luna damit in der Luft herum, als ob sie ein Blatt im Herbstwind sei.
Luna durchforstete ihren Kopf. Ihr war bereits eingefallen, dass sie immer einen Wächter mit einem Zauber besiegte und dieser Zauber gab dann den nächsten Wächter vor. Das hieß in diesem Fall, dass sie mit dem Steinwächter beginnen musste, um anschließend den anderen Wächter mit Luft bekämpfen zu können. Aber wie sollte sie kämpfen, wenn sie hilflos in der Luft hing?
Wie auf ein Stichwort ließ der Sturm augenblicklich nach. Luna sammelte sich rasch und landete sanft auf dem Boden. Dann sah sie sich um. Der Grund für den plötzlichen Abbruch des Angriffs war tatsächlich, dass Esmael immer noch nach Wyrr jagte und unabsichtlich den Luftwächter angerempelt hatte. Diesen kleinen Fehler nützte Luna natürlich aus. Schon hob sie beide Arme und deutete mit den Fingerspitzen auf den Wächter des Steins: »Magischer Sturm, du sollst nun beenden, was nie hätte anfangen sollen. Blase diesen Wächter fort, zurück in die Welt, aus der er gekommen war!«, rief sie mit fester Stimme. Ein Windstoß erfasste den Wächter des Steins und hob ihn in die Luft. Mit einem leisen Plopp verschwand er und außer einem Stein blieb nichts von ihm zurück.
Anschließend dachte sich der Wächter der Luft: »Was du kannst, kann ich auch«, denn schon wurde Luna von einem heftigen Windstoß erfasst und hoch in die Luft geschleudert. Luna schloss die Augen, damit ihr nicht schwindlig wurde, und ließ ihre Gedanken schweifen. Wie soll ich den Luftwächter besiegen? Eisen ist der letzte Wächter, also muss Luft mit Eisen besiegt werden. Aber wie soll Luft nur besiegt werden, schließlich kommt sie überall hin und auch überall hinaus. Es sei denn, ich schließe den Wächter in einem Behälter ein, der so stabil und dicht ist, dass sicher keine Luft entweichen kann. Das hatte nur einen Haken. Wie sollte sie jemanden angreifen, der sie ohne Weiteres, im wahrsten Sinne des Wortes, in die Luft schlagen konnte. Luna öffnete die Augen, konzentrierte sich und stellte sich so gut wie möglich vor, wie der Wächter der Luft in eine Eisenkiste gesperrt und dort sich in Nichts auflöste. Wieder erhob sie ihre Stimme. »Magisches Eisen, sperre dieses Wesen ein und lass es nie wieder frei!« Etwas Glänzendes, Silbernes umschloss den Wächter und drückte ihn ganz fest zusammen. Plötzlich sprang der Deckel der Eisenkiste wieder auf und ein kleiner hellblauer Stein lag darin.
Nun wandte Luna sich Wyrr und dem Feenjäger zu. Das war auch gerade der richtige Augenblick, denn Wyrr wurde sichtlich müde. Sie konnte nun nicht mehr so geschickt den Angriffen Esmaels ausweichen und die Anzahl ihrer Flügelschläge wurde auch immer weniger. So kam Esmael Wyrr gefährlich nahe. Luna hob eine Hand, um einzugreifen, doch aus einem Grund, den sie selbst nicht verstand, konnte sie Go-Tank nicht angreifen. »Er ist ein Feind!«, schalt sie sich, »Er würde auch nicht zögern, dich zu vernichten. Aber, vernichten muss ich ihn ja nicht«, fiel ihr plötzlich ein. »Ich kann ihn ja auch nur einsperren!« Wieder hob sie ihre Hände und sagte: »Ein magischer Käfig soll dich umhüllen und dich in deine Welt zurückschicken!« Sie wies auf Esmael und schon wurde er von einem Eisengitter umstellt. Anschließend wurde er langsam immer unsichtbarer, bis er schließlich nicht mehr zu erkennen war.

Zufrieden holte Luna die beiden Steine, befreite Colorado, der immer noch gefesselt am Boden lag, und machte sich dann, mit Wyrr in der Tasche, auf den Weg zurück zum Reitstall und anschließend nach Hause. Dort legte sich Luna auf ihr Bett und starrte zur Decke. Im Gedanken ließ sie den Tag noch einmal vorbeiziehen. »Warum konnte ich Esmael nicht angreifen? Er hätte mich ja auch sofort vernichten, wenn er es geschafft hätte. Das ergibt einfach keinen Sinn!«
»Doch!«, sagte eine tiefe Stimme in ihrem Kopf, »Du magst ihn! Du willst es nur nicht zugeben!«
»Das glaub ich nicht, er ist ja mein Feind«, sagte Luna laut.
»Wovon redest du?«, fragte da plötzlich Lunas Bruder Jim, der in der Zimmertüre stand. Jim blieb fragend in der Türe stehen, während Luna krampfhaft nach einer verständlichen Erklärung suchte.
»Das geht dich nichts an«, murmelte Luna, da ihr nichts Besseres einfiel. »Würdest du bitte mein Zimmer verlassen. Und außerdem, du hast ja gar nicht angeklopft!«
Ihr Bruder schaute sie kurz an, zog seine Schultern in die Höhe, drehte sich um, zischte »Zicke!« und schloss hinter sich die Türe.
»Wer ist dein Feind?«, fragte nun Wyrr, die sich vorher nicht getraut hatte, sich in das Gespräch einzumischen.
»Dieser Feenjäger«, antwortete Luna, »er ist doch mein Feind!«
»Ja, ist er! Und nimm dich bitte in Acht vor ihm!«, betonte Wyrr mit bestimmter Stimme.
Luna antwortete nicht, denn sie war schon längst wieder in ihren Gedanken versunken, die sie in eine andere Galaxie versetzten.

Am nächsten Tag, es war Sonntag, machte Luna mit ihrer Familie einen Ausflug. Natürlich war Wyrr auch dabei. Luna hoffte, dass nicht wieder ein Wächter oder etwas Ähnliches auftauchte, denn schließlich wollte sie ja niemandem etwas von ihrem Geheimnis erzählen. Doch kaum war die Familie auf einer Wiese angekommen und breitete gerade eine Decke für ihr gemeinsames Picknick aus, tauchte ER auch schon auf. Wie aus dem Nichts erhob sich ein Junge aus der hohen Wiese. Neben sich hatte er seinen Mantel liegen. Es war Esmael, der Feenjäger. Wie versteinert blieb Luna plötzlich stehen und starrte den Jungen mit großen Augen an.
»Na, ist was? Gefällt dir dieser etwas eigenartig ausschauende Junge? Ich gebe zu, wirklich etwas eigenartig, aber harmlos!«, versuchte Jim nun Luna ein wenig aus ihrer Reserve zu locken.
Luna dachte nur: »Falsch geraten! Da irrst du dich gewaltig! Der ist alles andere als harmlos, der ist ganz schön gefährlich.« Um sich nicht zu verraten, sagte Luna nun lieber nichts und hoffte, von Esmael noch nicht entdeckt worden zu sein.
Doch leider war das falsch. Esmael hatte sie natürlich schon längst bemerkt, wartete jedoch ab. Die wichtigste Regel eines Feenjägers ist: Gebe dich nie, auch nicht in Gefahr, einem nicht magischen Wesen zu erkennen! Und Lunas Familie war ja nun einmal nicht magisch! So musste er abwarten. Esmael war es jedoch gewöhnt zu warten. Er war geduldig und so blieb er gelassen und wartete auf die passende Gelegenheit.

Luna wollte sich nicht von ihrer Familie entfernen, doch leider musste sie ganz dringend aufs Klo, und das geht ja wohl wirklich schlecht in der Nähe. So lief sie schnell hinüber zum Waldrand. Luna rechnete damit, dass Esmael ihr folgte, doch da irrte sie. Er erwartete sie bereits am Waldrand und, oh Schreck, er war nicht allein. Bei ihm war eine junge Frau. Sie war vom Kopf bis zu den Zehenspitzen in ein silberglänzendes Gewand gehüllt und sogar ihre Haut und ihre langen Haare waren silbern. Luna brauchte gar nicht zu fragen, wer das sei. Eindeutig, das ist die Wächterin des Eisens. Trotzdem war Luna etwas erstaunt, denn sie hatte nicht geahnt, dass der letzte und stärkste Wächter eine Frau wäre. Für Sekundenbruchteile standen sich die vier, denn Wyrr war Luna gefolgt, gegenüber. Blitzschnell griff die Wächterin an. Luna bemerkte sofort, dass sie viel zu langsam reagierte, denn Wyrr hatte sie aufgeklärt, dass die letzte Wächterin besonders schnell war. Innerlich wappnete Luna sich bereits gegen den Schlag, der nun unweigerlich kommen musste, doch er blieb aus. Schuld daran war Esmael. Er war gleichzeitig losgelaufen, doch statt Luna anzugreifen, stellte er sich seiner Herrin in den Weg. Sowohl die Wächterin als auch Luna waren verwirrt.
Esmael schien dies egal zu sein. Mit fester Stimme fragte er: »Ich dachte, ihr wolltet fair miteinander kämpfen?«
Luna verstand die Anspielung und schon rief sie: »Magischer Schlüssel, entfalte deine Macht!« Die bereits vertraute Verwandlung vollzog sich.
Nun war auch Luna bereit, doch sicherer oder stärker fühlte sie sich jetzt auch nicht. Die Wächterin jedoch wirkte zufrieden und griff erneut an. Diesmal bekam Luna keine Hilfe, aber verwandelt war sie viel schneller. Im letzten Moment konnte sie durch einen Seitwärtssprung dem Angriff ausweichen. Doch die Wächterin des Eisens war nicht dumm und änderte ihre Taktik. Sie hob eine Hand und ein silbergraues Netz umschloss Luna schlagartig. Luna versuchte sich verzweifelt zu wehren, doch das Netz zog sich immer fester, sodass sie sich nun nicht mehr bewegen konnte. »Das wäre der Moment, wo in all den Comics und Geschichten die starken Helden erscheinen und das Mädchen retten«, dachte sich Luna. Doch die Wirklichkeit schaute anders aus. Niemand kam Luna zu Hilfe und niemand wollte sie retten. Einen Moment dachte sie, dass es Schluss wäre, Ende der Vorstellung – das war also die Geschichte von Luna der Magierin.

In dem Augenblick, als Luna eigentlich bereits aufgegeben hatte, lockerte sich das Netz. Luna nutzte den Moment aus. Sie sammelte ihre Kräfte, und mit einem kräftigen Ruck am Netz brach sie aus. Sie sah nach der Wächterin und stellte sofort fest, was diese abgelenkt war. Wyrr! Sie flatterte dicht um den Kopf der Wächterin und konnte so diese aus ihrer Konzentration bringen. Luna hob schon ihre Hände, um den Kampf rasch zu beenden, doch da wollte sie die »Rechnung ohne den Wirt« machen – Esmael. Im selben Moment knallte die Peitsche und schlang sich um einen von Lunas Fußknöchel. Mit aller Kraft versuchte sie die Fesseln abzuschütteln, doch Esmael war sehr geübt im Umgang mit seiner Waffe. Gleichzeitig versetzte die Wächterin des Eisens Wyrr mit der Hand einen Schlag, der sie in die Baumkrone einer Eiche katapultierte. Rasch wandte sich die Wächterin Luna wieder zu, und schon schoss ein Netz in Lunas Richtung. Mit einer flinken Bewegung konnte sie sich von der Peitsche befreien und durch einen Looping auch dem Netz entkommen. Und dann begann eine Hetzjagd quer durch den Wald. Doch leider war Luna die Gehetzte! So schnell sie konnte, floh sie vor Esmael und seiner Herrin, und fast genauso schnell folgten die beiden. Eine Felswand tauchte plötzlich vor Luna auf. Die Wand war so hoch, dass Luna nicht über die Felskante schauen konnte. Luna überlegte schnell, welche Chancen sie hätte. Sie konnte ja fliegen, doch da war auch noch Esmael mit seiner Peitsche und die Wächterin war auch nicht zu verachten. Einen Augenblick zu lange hatte Luna überlegt, schon schlang sich wieder der Lederriemen um ihren Fuß und das Netz kam geflogen. Die Peitsche lockerte sich ein wenig, Luna nützte die Gelegenheit und riss sich los, um gleich in die Höhe zu steigen. Die Wächterin stand mit wütendem Gesichtsausdruck neben Esmael und schien ihn anzuschreien. Luna konnte die Sprache nicht verstehen, aber sie ähnelte der Sprache des Liedes, welches sie auf dem Ausritt gehört und gesungen hatte. Hatte Esmael etwas falsch gemacht? Für Luna wurde die Situation bald klar. Esmael wollte ihr helfen! Er hatte die Peitsche gelockert, damit sie dem Netz entkommen konnte. Er hatte sich seiner Herrin in den Weg gestellt, damit Luna sich verwandeln konnte. Und er ließ sich nun anschreien, damit die Wächterin lange genug ablenkt war, damit sie die Wächterin besiegen konnte.
»Du musst Hitze erzeugen, die heißer ist als einfaches Feuer!«, hörte Luna eine Stimme. Esmael sah zu Luna auf.
Diese verstand im ersten Moment nicht, war jedoch dankbar für diesen Hinweis. Wer oder was ist heißer als Feuer, überlegte sie – Lava! Nichts war heißer als Lava, natürlich damit muss die Wächterin besiegt werden können. Luna hob beide Hände, konzentrierte sich und rief mit lauter, fester Stimme: »Magische Lava, fließe über dieses Wesen und schmelze es ein, bis nur noch der Wächterstein übrig bleibt!« Doch diesmal war nichts so einfach. Luna fühlte, wie der Zauber all ihre Energie und Kraft aus ihr herauszog. Verzweifelt wollte Luna den Zauber aufhalten. Aber wenn die Magie einmal gerufen wurde, musste sie auch ihren Befehl ausführen. Luna sah noch, wie sich glühende Lava über die Wächterin ergoss, dann aber wurde es schwarz um sie.

Luna hörte eine Stimme, die sie noch nie gehört hatte:
»Luna, du bist gekommen! Aber noch ist es zu früh, es ist noch nicht der richtige Augenblick!«
Luna versuchte die Augen zu öffnen, aber es gelang nicht.
Da meldete sich noch einmal die unbekannte Stimme: »Luna, du musst zurück. Du hast hier noch nichts verloren! Öffne die Augen und kehre in deine Welt zurück!«
Luna schlug die Augen auf und lag mit dem Rücken auf dem Waldboden. Einen Augenblick dauerte es, bis die Erinnerung wieder zurückkam. Sie setzte sich auf und sah sich suchend nach der Wächterin um.
»Sie ist fort!«, sagte eine ihr bekannte Stimme, »du hast sie besiegt!« Esmael lehnte an einem Baum, die Arme vor seiner Brust verschränkt. Er schaute Luna nur an und sagte nichts weiter.
Da tauchte Wyrr auf und umschwirrte Luna aufgeregt: »Was war los?«, fragte sie, »Warum bist du nicht aufgewacht? Wir haben uns furchtbare Sorgen gemacht!«
»Wir?«, fragte sich Luna. »Meint Wyrr etwa auch Esmael?« Suchend drehte sich Luna um und sah ihn gerade noch zwischen den Bäumen verschwinden. »Warte, wohin willst du?«, rief sie schnell und rannte in seine Richtung.
Esmael blieb stehen und als er sich umdrehte, sah Luna, dass er sehr traurig aussah.
»Danke! Danke für alles!«, rief sie schnell.
Esmael wandte sich wieder ab. Luna kämpfte mit sich. Ein Teil von ihr meinte, lass ihn gehen! Der andere Teil aber sagte, halt ihn auf, er hat dir bewiesen, dass er dich mag. Zum Glück nahm Esmael ihr die Entscheidung ab, indem er sich doch noch einmal umdrehte und sagte: »Danke auch dir! Ohne dich wäre es mir wahrscheinlich wie meiner Herrin ergangen.«
Luna sah wieder diese Traurigkeit in seinen Augen und fragte ihn: »Warum bist du so traurig? Du bist doch jetzt frei.«
»Ja, da hast du schon recht. Aber dafür habe ich jetzt das Gefühl …« Er brach den Satz ab, so als ob er nicht wüsste, wie er dieses Gefühl erklären sollte.
Luna konnte das gut verstehen. Sie wusste, was Esmael fühlte, und sie wusste auch, wie schwer es zu beschreiben war. Für Sekunden sahen sie sich an. Sie spürten, dass sie das Gleiche dachten und empfanden. Doch diesen Gedanken sprach keiner aus. Esmael sah Luna noch kurz tief in die Augen. Luna war total erstaunt und zugleich froh darüber. Dabei bückte er sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr zu: »Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Ich werde warten, egal, wie lange es dauert.«
»Ganz sicher!«, antwortete Luna und ein kleiner Knödel belegte ihre Stimme.
Dann ging Esmael zwischen den Bäumen in den Wald und Luna sah ihm noch lange mit gemischten Gefühlen nach. Wyrr zupfte sie am Ärmel und rutschte dabei in ihren Hosensack.

Luna wandte sich um und ging langsam zu ihrer Familie zurück. Jim setzte sein breites Grinsen auf, machte große Augen und fragte mit sarkastischer Stimme: »Wo warst du so lange. Wir glaubten schon, du hättest dich verlaufen, oder so?«
Luna antwortete nicht.
Sie ließ sich ins Gras fallen, schaute in den blauen Himmel, betrachtete die Wolken und dachte: »Wenn du wüsstest, was ich in den letzten Tagen erlebt habe! Du würdest noch viel größere Augen machen. Aber du hast ja keine Ahnung! Und das ist wohl gut so. Es wird wohl immer mein Geheimnis bleiben!«