Lena Keresztes (8)

Das tanzende Skelett

»Und es soll wirklich tanzen? Ein Skelett, das tanzt?«
»Ja, so erzählt man es sich mindestens. Es soll oben im Kerker der alten Ruine tanzen.«
»Was für Tänze tanzt es denn?«
»Das ist ganz verschieden. Ich würde es wirklich gerne tanzen sehen. Du auch?«
»Irgendwie schon, ich finde es aber ein bisschen unheimlich in der alten, verlassenen Ruine. Und ein tanzendes Skelett gibt es dort auch noch, da krieg’ ich eine Gänsehaut, wenn ich nur dran denke.«
»Du bist ein Angsthase, Paul!«, spottet Lisa.
»Selber Angsthase!«, ruft Paul. »Ich gehe heute um Mitternacht zur Burg. Traust du dich mitzugehen?«
»Ja natürlich!«, antwortet Lisa. »Dann sehen wir uns ja später, sagen wir, um elf vor der Kirche.«
Paul kommt nach Hause. »Lisa hat es gut«, denkt er sich. »Die kann einfach aus dem Haus schleichen, ihre Mutter ist am Abend nicht zu Hause, und ihr Vater ist die ganze Woche verreist. Ich hingegen muss aufpassen, dass mich niemand erwischt.«
»Was gibt es zu essen?«, fragt er seine Mutter.
»Erbsensuppe und danach Fisch.«
»Mir wird schlecht«, denkt sich Paul. »Ich esse ein Butterbrot«, sagt er, und holt sich eine Scheibe Brot aus dem Brotkorb.
Dann geht er in sein Zimmer und macht die Hausaufgaben. Am Abend stellt er den Wecker auf zehn Minuten vor elf Uhr. Dann verkriecht er sich unter seiner Decke und schläft ein.
Genau zehn Minuten vor elf Uhr läutet der Wecker und Paul wacht auf. »Kommt es mir nur so vor, oder bin ich nicht eben erst eingeschlafen?«, murmelt er verschlafen und schaut aus dem Fenster. »Draußen ist es ja noch ganz dunkel«, wundert er sich. Dann schaut er auf die Uhr. »Zehn Minuten vor elf? Ach ja, das Treffen mit Lisa!« Rasch schlüpft er in seine Kleidung und schleicht aus dem Haus.
Lisa erwartet ihn schon vor der Kirche. »Da bist du ja endlich! Hast du eine Taschenlampe mitgenommen?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet Paul.
»Dachte ich es mir doch«, sagt Lisa, »Deswegen habe ich dir eine mitgebracht.« Sie überreicht ihm die Taschenlampe. »So und jetzt lass uns endlich gehen.«
Als die Kinder oben bei der Burg angekommen sind, sagt Lisa: »Paul, meine Taschenlampe funktioniert nicht!«
»Das macht doch nichts, Lisa, meine funktioniert doch«, antwortet Paul. Mit diesen Worten stößt er die Türe auf.
Die beiden gehen gemeinsam über den alten Burghof. Dann kommen sie zu einer Wegabzweigung.
»Hier müssen wir uns anscheinend trennen«, sagt Lisa.
»Ich gehe nach links«, sagt Paul schnell. »Dann bleibt mir nur mehr rechts über«, meint Lisa.
Dann verabschieden sich die Kinder voneinander. Nach einiger Zeit kommen sie wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
»Und, hast du etwas entdeckt?«, fragt Lisa.
»Nein«, sagt Paul, »und du?«
»Nein – äh, das heißt schon.«
»Was denn?«
»Das Kerkerloch. Doch weil ich keine Taschenlampe hatte, konnte ich nicht hineinsehen.«
»Dann gehen wir eben noch einmal hin«, meint Paul.
Schon bald haben die beiden den Kerker gefunden. Paul leuchtet mit der Taschenlampe in das Loch.
»Da haben wir unser Skelett!«, ruft Paul.
Lisa bekommt kein Wort heraus.
Im Loch liegen ein paar Knochen. Doch lange können sie sich nicht mehr ärgern, denn die Sonne geht langsam auf, und wenn sie nicht erwischt werden wollen, müssen sie jetzt nach Hause.
Nach einigen Wochen haben die zwei das Erlebnis auf der Burg schon fast vergessen. Am Tag von Halloween reden alle aus ihrer Klasse über Spuk.
Lisa sagt zu Paul: »Die glauben alle noch an das tanzende Skelett.«
Melanie sagt: »Ich werde mich als Hexe verkleiden. Als was wirst du dich verkleiden, Lisa?«
»Auch als Hexe«, antwortet Lisa.
»Und du, Paul?«, fragt Melanie.
»Als Vampir«, erwidert Paul.
»Ich werde als Skelett gehen«, sagt Erik.
»Treffen wir uns und gehen gemeinsam auf Beutezug?«, schlägt Melanie vor.
»Gerne«, sagen Lisa und Paul, »wir treffen uns am Hauptplatz, so ungefähr um sieben Uhr.«
»Ich gehe noch schnell auf das Klo, bevor ich aufbreche«, ruft Lisa ihrer Mutter zu.
Lisa schaut aus dem Klofenster. »Fledermäuse?«, denkt sie. »Seit wann wohnen hier in der Nähe Fledermäuse? Das muss ich unbedingt Paul erzählen.«
»Lisa! Was machst du denn da drinnen so lange?«
»Ich komme ja schon.«
»Fledermäuse hier in der Gegend?«, wundert sich auch Paul, als Lisa ihm alles erzählt. »Wohin sind die denn geflogen?«
»Zur Burg.«
»Zur Burg? Das verstehe ich nicht. Am Abend müssten die doch aus der Burg kommen, nicht zur Burg fliegen. Ich glaube, wir sollten der Burg noch einmal einen Besuch abstatten. Ich hole nur noch meine Taschenlampe.«
Zehn Minuten später machen sich die beiden auf den Weg zur Burg. Als sie die Türe aufmachen, trauen sie ihren Augen nicht: Da stehen oder sitzen überall Geister, Hexen, Vampire und andere Spukgestalten. Schnell macht Paul die Tür wieder zu.
»Lisa, das gibt es doch nicht. Ich dachte, Gespenster und Geister wären nur erfunden.«
»Das dachte ich auch«, sagt Lisa. »Doch wie wir gerade gesehen haben, sind sie das nicht.«
»Sieht ganz so aus, als hätten die da ein Treffen veranstaltet. Vielleicht ist das tanzende Skelett auch dabei.«
»Und wenn sie uns entdecken?«, meint Lisa unsicher.
»Aber wir sind doch verkleidet«, versichert Paul. »Also lass uns jetzt ’reingehen.«
Dann betreten sie das alte Gemäuer und setzen sich auf einen Stein.
Ein ganz besonders dickes Monster mit einem Megafon in der Hand steht ganz vorne und sagt: »Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie monsterlich zu unserer diesjährigen Gespenstershow. Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung. Am Anfang wird der Mann ohne Kopf uns etwas auf seiner Geige vorspielen. Er hat lange geprobt und hofft, dass ihm das Stück gelingt.« Dann tritt ein Kopfloser in die Mitte des Raumes und beginnt auf einer alten Geige zu spielen. Nach dem Spiel kommt wieder das dicke Monster und sagt: »Ich bitte um einen Applaus für unseren Geigenspieler!« Die Monster klatschen. Dann kommen viele kleine Monster und einer springt dem anderen auf die Schultern, bis sie einen hohen Turm gebildet haben.
»Und jetzt kommen wir zu unserer Hauptattraktion: Das tanzende Skelett namens Sirmius!«
Paul stößt Lisa in die Rippen: »Jetzt wird es spannend«, flüstert er.
»Das habe ich selbst schon gemerkt«, sagt sie und gibt den Rippenstoß zurück.
Da kommt ein Skelett und tanzt wilde Tänze.
Paul ist überaus glücklich. »Endlich haben wir unser Skelett gesehen.«
Lisa sagt gar nichts. Am Weg nach Hause aber fragt sie: »Paul, warum tanzt das Skelett eigentlich?«
»Das habe ich mir noch nicht überlegt«, gesteht Paul. »Wir könnten ja morgen in der Bibliothek nachschauen, ob wir das Geheimnis des tanzenden Skeletts lüften können.«
»Einverstanden«, sagt Lisa, »treffen wir uns um drei vor der Bibliothek«.
»Wo warst denn du so lange?«, fragt Lisa, als Paul kommt. »Lass uns jetzt endlich hineingehen!« »Du suchst die rechte Seite ab, ich die linke«, bestimmt Lisa.
Nach einiger Zeit treffen sie wieder aufeinander.
»Hast du etwas gefunden?«, fragt Paul.
»Nein, und du?«
»Ich auch nicht. Aber wir haben ja noch eine größere Bibliothek im Ort. Dort gibt es mehr Bücher als hier. Gleich morgen könnten wir dorthin gehen.«
Am nächsten Tag treffen sich die Kinder vor der anderen Bibliothek.
Nach einiger Zeit ruft Paul nach Lisa: »Lisa, Lisa, komm schnell!!«
»Was schreist du denn so herum?«
»Ich habe was gefunden, was uns weiter bringen könnte. Sieh dir das an!« Er deutet auf ein uraltes, staubiges, dickes Buch.
»Ein Sagenbuch«, flüstert Lisa ganz aufgeregt, »hat das was mit dem tanzenden Skelett zu tun?«
»Ja schon, sieh mal hier!«, und er deutet auf die Inhaltsangabe.
»Die Geschichte des tanzenden Skeletts, Seite 230« war da zu lesen. Aufgeregt beginnen die Kinder in dem Buch zu blättern. Doch eine Seite 230 finden sie nicht. Nach der Seite 228 folgt die Seite 237. Dazwischen sieht man, dass Seiten herausgerissen wurden.
»Wer, bitte, reißt Seiten aus einem Buch?«, entrüstet sich Paul, »So etwas tut man doch nicht!«
Achselzuckend meint Lisa: »Wenn wir uns darüber aufregen, kommen die Seiten deswegen auch nicht wieder.«
Betrübt verlassen die beiden die Bibliothek.
Weihnachten und Ostern ziehen vorbei, ohne dass den Kindern etwas einfällt, das sie weiterbringen könnte. Anfang Mai verstaucht sich Lisas Mutter den Fuß. Deshalb muss sich Lisa um das Familiengrab kümmern. Sie bittet Paul um Hilfe. Als die beiden mit der Arbeit fertig sind, schauen sie sich noch ein wenig auf dem Friedhof um.
»Schau mal, Paul! Die hier hat Mechthild geheißen. Ich bin froh, dass ich nicht so heiße. Und der da drüben: Sirmius Watschmeier.«
»Sirmius? Dieser Name ist mir doch schon einmal untergekommen.«
»Mir auch«, meint Lisa.
»Sirmius, das tanzende Skelett heißt so!«, ruft Paul aufgeregt.
»Du hast Recht, Paul. Wir könnten den Priester nach diesem Toten befragen. Vielleicht kann er uns etwas sagen.«
Gleich am nächsten Tag gehen Lisa und Paul zum Priester. »Können Sie über den Tod des Sirmius Watschmeier etwas erzählen?«
»Warum wollt ihr das denn wissen?«
»Wir müssen für die Schule einen Aufsatz schreiben«, schwindelt Lisa.
»Warum schreibt ihr nicht über das Grab eurer Großeltern?«, wundert sich der Priester.
»Es soll ein Aufsatz über einen Toten mit einem außergewöhnlichen Namen werden. Und Sirmius scheint mir ein guter Name für so einen Aufsatz zu sein.«
»Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich über die Namen der Toten lustig zu machen«, meint der Priester plötzlich unfreundlich. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen geht er davon.
»Von dem können wir uns keine Hilfe erwarten«, sagt Lisa enttäuscht, »aber wir werden auch ohne ihn das Geheimnis lüften.«
»Ja«, meint Paul entschlossen, »das werden wir tun! Gleich morgen Früh werden wir das Grab genau untersuchen.«
Auf einmal macht Lisa eine Bemerkung: »Ein Skelett besteht doch nur mehr aus Knochen. Das heißt: Wenn unser Skelett hier ein Grab hat und in der Nacht oben auf der Burg herumspukt, dann muss es in der Früh wieder in sein Grab zurückkehren. Am besten, wir legen uns auf die Lauer und warten auf das ins Grab zurückkehrende Skelett.«
Vor Sonnenaufgang wartet Paul am Friedhofseingang ungeduldig auf Lisa. Endlich ist sie da. Als sie eine Weile hinter einem Busch gewartet haben, hören sie Schritte. »Das Skelett kommt«, flüstert Lisa. Doch das ist nur der Friedhofsgärtner. Er ist spindeldürr, das Gewand ist ihm viel zu groß. Erschöpft sieht er aus und zum Umfallen müde. Da muss er niesen: »Haaatschi!« Schnell hält er sich die Hand vor den Mund. Dabei löst sich ein Finger und fällt zu Boden, genau vor den Busch, hinter dem die Kinder sich verstecken. Die Kinder sind zu Tode erschocken und ihre Herzen klopfen ihnen bis zum Hals. Sie trauen sich kaum zu atmen. Der Friedhofsgärtner greift nach seinem Finger.
»Huch!«, ruft er, als er die Kinder entdeckt. Erschrocken fährt er zurück.
Die Kinder fangen an zu zittern. »Wir, wir sagen niemandem ein Wort«, stottern sie.
»Nachdem ihr das jetzt schon erfahren habt, werde ich euch den Rest auch noch erzählen«, seufzt der Gärtner. »Ich habe mein Geheimnis noch keinem lebendigen Wesen erzählt. Ich war einmal ein berühmter Tänzer. Ich musste stets von einem Auftritt zum nächsten. Eines Tages war ich auf dem Weg zu einem Ort in der Nähe. Als es Abend und dunkel wurde, brach ein Gewitter los. Ich suchte Schutz in der alten Burg. Ich setzte mich nieder und wartete und wartete, dass das Unwetter endlich aufhört. Dabei bin ich eingeschlafen. Im Schlaf bin ich in das Kerkerloch gefallen und habe mir das Genick gebrochen. Als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass ich nur mehr aus Knochen bestand. ›Oh nein!‹, rief ich, ›So kann ich doch nicht zu meiner Aufführung gehen!‹ Um mich herum standen nette Gespenster, die boten mir an, für sie zu tanzen. Und so ist es bis heute geblieben.« Nach seiner Erzählung legt er die Gärtnerkleidung ab und bittet die Kinder: »Bringt ihr diese Kleider bitte in die Gärtnerhütte. Ich bin zu müde dafür und möchte jetzt schlafen gehen.« Mit diesen Worten verschwindet er in sein Grab.
Die Kinder machen sich auf den Weg zur Gärtnerhütte. »Seltsam, was wir da heute erlebt haben«, sagt Lisa.
»Schade, dass es ein Geheimnis ist«, meint Paul, »aber das würde uns eh keiner glauben.«