Stella Kaminger (8)

Das Geheimnis der alten Dame

Es war einmal eine alte Dame, Frau Rosi Freudentaller, mit kurzen grauen Locken und einem süßen rosigen Gesicht.
Blaue Augen hatte sie auch. Sie war zu jedem freundlich.
Rosi wohnte in einem sehr alten Haus ohne Aufzug in der Glucknergasse 4, im 17. Bezirk in Wien. Ihre Wohnung war sehr klein, aber gemütlich eingerichtet. Ein sehr bequemer Schaukelstuhl stand in der Mitte des Wohnzimmers. Rosi liebte Himmelbetten, deshalb besaß sie auch eines. Ihr Himmelbett war aus Eichenholz, ein großer Vorhang mit roten Blumen schmückte ihr Bett. Unter ihrem Bett stand eine Kiste mit altem Spielzeug aus ihrer Kindheit. Die alte Dame holte oft ihre alte Puppe aus der Kiste, denn sie wollte manchmal Erinnerungen an ihre Kindheit haben. Eine Eckbank mit einem gelben gestreiften Bezug und einen Tisch mit gelbem Tischtuch schmückte die sonst kahle Küche außerordentlich. Rosi Freudentaller strickte und las gerne in ihrem Schaukelstuhl. Gerade strickte Rosi eine Weste für sich selbst. Sie strickte und strickte, doch wusste sie nie, für wen es gedacht war. Oft schrieb sie Briefe an ihre einzige Freundin, die ins Altersheim gezogen war. Einmal, als sie wieder so vor sich hinschrieb, kam ihr eine gute Idee. Sie könnte doch einfach eine gestrickte Weste, die genau so aussah wie ihre, ihrer Freundin im Altersheim schenken. Sie packte die Weste in ein Paket und steckte einen Brief dazu, auf dem stand:
»Liebe Maria! Wahrscheinlicht muss ich bald zu dir kommen. Denn schön langsam schaffe ich es ohne Mühe nicht mehr in den fünften Stock. Die Einkaufstaschen werden immer schwerer und ich immer älter. Ich bin nun 88 Jahre alt. Mit lieben Grüßen, deine Rosi.«
Sie ging zur Post und gab das Paket auf. Als sie nach Hause ging, dachte sie daran, gleich einkaufen zu gehen. Als sie wieder mit ihren schweren Einkaufstaschen in den fünften Stock ging, beschloss sie, bald ins Altersheim zu ziehen. Eines Tages bekam Rosi einen Brief von ihrer Freundin Maria aus dem Altersheim. Sie bedankte sich für die warme, schöne Weste und bot ihr an, sie durch das Altersheim zu führen. Maria schrieb auch, dass die Betreuer und Betreuerinnen sehr nett sind. Nachdenklich lehnte sie sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und dachte nach. Sollte sie sich nun im Altersheim herumführen lassen? Bald darauf dachte sie sich, dass sie gleich ins Altersheim gehen könnte. Das tat sie auch. Sie packte mit Tränen in den Augen ihre liebsten Sachen ein und rief sich ein Taxi. Als sie im Altersheim ankam, bemerkte sie ein Schild, auf dem stand:

Hausregeln:
Kochen im Zimmer verboten!
Tiere verboten!
Rauchen verboten!
Laut Radiohören verboten!
Lautes Feiern verboten!

Während Rosi diesen Text las, musste sie lachen. Da öffnete sich die Tür und ein Betreuer kam heraus.
Er fragte: »Wieso lachen Sie?«
»Diese Regeln sind so lustig. Hi, hi, hi!«, kicherte Rosi.
Der Betreuer schaute sie mit großen Augen an und Rosi erwiderte: »Es tut mir Leid, ich konnte mich nicht beherrschen, aber …!«
Weiter kam Rosi nicht, denn ein kleines Eichhörnchen schoss um die Ecke und ein großer Hund folgte ihm mit viel Gebell. Das Eichhörnchen rettete sich auf einen Baum. Rosi musste schon wieder lachen und beobachtete das Eichhörnchen weiter. Das kleine Eichhörnchen flitzte auf den Baumwipfel und traute sich nicht mehr herunter. Zitternd saß das Eichhörnchen da und bewegte sich nicht einen Millimeter. Als der Hund weglief, sprang das Eichhörnchen auf ein Fensterbrett.
Der Betreuer sagte: »Ich habe gehört, dass Sie ein Zimmer suchen. Dieses Zimmer, wo das Eichhörnchen sitzt, wäre noch frei. Sie könnten dort einziehen.«
Rosi sagte mit einem verschmitzten Lächeln: »Das wäre eine gute Idee!«
In diesem Moment dachte sie an das Eichhörnchen und an eine dicke Freundschaft im Geheimen, denn Haustiere sind ja verboten.
Fröhlich zog Rosi ein. Sie schaute sich ihr lustig eingerichtetes Zimmer an. Rosi fand sogar Ähnlichkeiten mit ihrem Zuhause. Schaute sich ihr Bett mit dem rosa Blumenüberzug an. Er gefiel ihr gut, nur ein blauer Hintergrund wäre ihr lieber gewesen. Rosi dachte sich: »Das kann ich ändern, ich besorge mir einfach Stofffarbe und male den Hintergrund blau an.«
Gesagt getan, beim nächsten Ausgang kaufte sie die Stofffarbe und malte mit Marias Hilfe den Bettbezug blau an. Da passierte aber leider ein Missgeschick. Beim Malen rutschte Rosi aus und bemalte Marias Kleid. Maria schimpfte: »Das hast du alles nur absichtlich gemacht!«, und lief weg. Rosi ärgerte sich etwas über ihre Freundin, aber malte weiter.
Nach dem Malen fiel ihr das Eichhörnchen wieder ein. Sie ging sofort ans Fenster und öffnete es. Tatsächlich sah sie das Eichhörnchen auf dem Baum neben ihrem Fenster herumklettern. Sie ging zurück und nahm eine Nuss aus einer Schale. Mit der Walnuss lockte sie das Eichhörnchen geschickt an. Das freche Eichhörnchen sprang vom Fenstersims in ihr Zimmer und sogleich auf das frisch bemalte Bett, sodass Rosi kleine Fußtapper auf ihrem Bettbezug hatte. Das Eichhörnchen schaute sich erstaunt die blauen Füßchen an und hüpfte fröhlich durch Rosis Zimmer. Das ganze Zimmer war mit blauen Fußabdrücken beschmiert. Rosi erschrak im ersten Moment, aber dann gefiel es ihr sehr. Das kleine Eichhörnchen war in der Zwischenzeit bei den Nüssen am Tisch angelangt. Es fing die Nüsse zu knacken an und knabberte und knabberte, bis das Eichhörnchen ein kleines Bäuchlein hatte. Nun schlüpfte das Eichhörnchen durch das Fenster hinaus, sprang auf den Baum und schlief in seiner Baumhöhle ein.
Auf einmal klopfte es an der Tür. Ein Betreuer kam herein. Als er diesen Misthaufen sah, zuckte er sofort aus und schrie: »Sind Sie wahnsinnig, Sie beschmieren Ihr Bettzeug und malen auch noch überall Fußabdrücke hin. Was soll das? Diese vielen geknackten Nüsse kann man doch nicht alle auf einmal essen! Sind Sie ein Eichhörnchen?! Sie werden sich den Magen verderben!«
Rosi lächelte verschmitzt in sich hinein und sagte: »Nüsse sind meine Leibspeise und ich hatte auch schon so großen Hunger und übrigens würde ich diese Malerei gerne lassen.«
Der Betreuer sagte mit grantigem Gesicht: »Das geht leider nicht und, apropos, haben Sie überhaupt noch Hunger? Ich wollte Sie zum Abendessen abholen!«
Rosi sagte: »Oh ja, ich habe noch Hunger!«
Der Betreuer schaute sie erstaunt an und sprach: »Wenn Sie meinen, dann kommen Sie mit.«
Rosi ging in den großen Speisesaal und setzte sich an einen freien Platz. Sie merkte aber nicht, dass sich Maria zu ihr gesellte. Erst als Maria sie mit den Worten ansprach: »Es tut mir Leid, was ich vorher zu dir gesagt habe«, bemerkte Rosi sie und erwiderte: »Schon gut, ich helfe dir beim Auswaschen deines Kleides.«
Nun kam der Betreuer zum Tisch und wunderte sich, dass Rosi schon wieder so viel Appetit hatte.
Rosi hatte sich schön langsam im Altersheim sehr gut eingelebt. Das Erste, was sie jeden Morgen nach dem Aufstehen tat, war, nach dem Eichhörnchen zu schauen. Sie öffnete das Fenster und lockte das Eichhörnchen mit Nüssen und manchmal auch mit Rosinen an. Das Eichhörnchen gewöhnte sich daran und freute sich jeden Tag darauf. Als Rosi eines Tages verschlief, tappste das Eichhörnchen ans Fenster, sodass Rosi aufwachte und das Fenster schnell öffnete. Das Eichhörnchen hüpfte wie immer ins Zimmer und spazierte auf dem Tisch herum. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, der Betreuer kam herein, um frische Handtücher zu bringen. Rosi erschrak und riss dem Betreuer die Handtücher aus der Hand und warf ein Handtuch über das Eichhörnchen, das am Bett neben dem Betreuer saß. Der Betreuer sah Rosi wieder einmal erstaunt an. Rosi schnappte das Handtuch samt dem Eichhörnchen und sagte: »Ich muss duschen, auf Wiedersehen!« Der Betreuer ging kopfschüttelnd aus dem Zimmer. Rosi wickelte schnell das zitternde Eichhörnchen aus und setzte es mit einer Nuss auf das Fensterbrett. Das Eichhörnchen schnappte die Nuss und flüchtete auf den Baum. Rosi fürchtete, dass das Eichhörnchen wegen des Abenteuers nicht mehr wieder kommen würde. Doch sieh da, das Eichhörnchen kam am nächsten Morgen wieder.
Rosi flüsterte dem Eichhörnchen zu: »Weißt du was, ich taufe dich auf den Namen ›Kiko‹.« Kiko schaute sie zufrieden an und hüpfte zum Fenster hinaus. Rosi freute sich, dass Kiko offensichtlich mit dem Namen einverstanden war.
Rosi ging zum Frühstück. Dort hätte sie sich bald verraten, wenn ihr nicht eine rettende Ausrede eingefallen wäre. Rosi murmelte in Gedanken versunken: »Ich freue mich schon wieder auf Kikos Besuch.«
Maria mit ihren großen Ohren hörte es und fragte: »Wer kommt zu dir auf Besuch?«
Rosi fühlte sich ertappt und antwortete: »Mmm … heute Nachmittag kommt meine Kindergartenfreundin, eine Japanerin namens Keiko zu mir auf Besuch.«
Maria fragte Rosi, ob sie nicht auch kommen könnte. Rosi antwortete nun etwas sicherer, dass sie nichts dagegen hätte.
Am Nachmittag stand Maria vor der Tür und Rosi erklärte ihr, dass Keiko leider krank geworden sei. Trotzdem rief sie Maria in ihr Zimmer zu einem Kartenspiel herein. Sie lud noch andere Nachbarn ein. Sie machte sich einen lustigen Nachmittag, bis auf einmal die Nüsse zu rollen anfingen. Da schrie Berthold auf und rief: »Ich … ich … ich … habe etwas auf meinem Fuß gespürt. Gibt es in deinem Zimmer Geister?«
Rosi erklärte: »Das war wohl ein Luftzug!«, und sie schloss das Fenster.
Durch den Schrei kam der Betreuer in das Zimmer gestürzt. In der Zwischenzeit hüpfte Kiko auf den Kasten und kramte in Rosis Kiste mit dem alten Spielzeug herum. Entzückt fand das Eichhörnchen einen bunten Ball davon und fiel auf den Kopf des Betreuers. Jetzt sprang Berthold auf und stürzte, so schnell er konnte, auf seinen Stock gestützt, aus dem Zimmer. Die anderen folgten ihm. Nun stand nur noch der Betreuer im Zimmer. Rosi musste sich wieder eine gute Ausrede einfallen lassen.
Sie erklärte: »Ich lebe hier mit Geistern zusammen. Ich habe mich aber schon daran gewöhnt.«
Der Betreuer ging wieder einmal kopfschüttelnd den anderen nach.
Kiko war nun mit Rosi schon sehr stark befreundet. Rosi beobachtete das Eichhörnchen auch beim Sammeln der Vorräte für den Winter. Auch einige Nüsse aus Rosis Schüssel brachte Kiko in seine Baumhöhle. Die alte Dame freute sich schon wieder auf den Frühling, wenn Kiko aus seinem Winterschlaf erwachen würde.
Sie erlebten zusammen noch viele Abenteuer, aber Rosi Freudentaller konnte weiterhin ihr Geheimnis bewahren.