Arianna Dorschel (8)
Das Geheimnis der Prinzessin Vivienne
Es war einmal ein König von Wien, der hieß Albert
de Vienne. Er war leider schon glatzköpfig, weshalb er eine
gepuderte Perücke trug, und hatte eine Adlernase. Hässlich
war er nicht, aber ziemlich klein gewachsen. Deshalb wollte er
hoch hinaus. Er hatte sich etwas in den Kopf gesetzt, und was
sitzt, das sitzt. Er wollte den Mond anfassen. Also beschloss
er, einen Turm zu bauen, der bis zum Mond reichte.
Doch der oberste Architekt des Königs sagte: »Um diesen
Turm zu bauen, bräuchten wir zehnmal mehr Stein, als wir
hier in Wien haben.«
»Unsinn«, sagte Albert, »fangt endlich zu bauen
an!«
»Was hast du denn davon, wenn du den Mond berührst?«,
fragte Vivienne, die Königstochter.
Doch der König hörte sie schon nicht mehr. Er plante
nämlich bereits, wie viele Häuser in Wien abgerissen
werden müssten, um auf ihrem Grund und Boden den Turm zu
errichten. Die Leute, die ihre Häuser behalten durften (besonders
die Josefstädter), freuten sich sehr. Doch die Leute, denen
das Zuhause oder der Laden weggenommen wurde (besonders die Leopoldstädter),
fanden, man solle im anderen Teil der Stadt bauen; indes, auch
sie freuten sich darauf, den Mond zu berühren.
Was hätte die Königin zu all dem gesagt? Sie war eine
Frau gewesen, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Aber
leider konnte sie keinen Einspruch mehr erheben. Denn sie war
vor kurzem gestorben.
Vivienne war eine schöne Prinzessin, und sie liebte das Schöne.
Sie hatte dunkelbraune Haare, die sie in einem langen Zopf trug,
blassgraue Augen, die wie der Mond leuchteten, und war von großer,
schlanker Gestalt. Auf der linken Backe hatte sie einen süßen
Leberfleck, rund wie der Mond. Eigentlich war niemand außer
Vivienne gegen den Turmbau.
»Warum meinst du denn, es werde dich glücklich machen,
wenn du den Mond berühren kannst?«, fragte die kleine
Prinzessin wieder.
Aber sie hätte genauso gut zu einem Holzklotz sprechen können.
Und eigentlich sprach sie wirklich gerade mit einem Stück
Holz. Vivienne hatte nämlich ein Geheimnis, aber das kommt
erst später in der Geschichte.
Nun war es so weit. Häuser und Läden wurden in unzählbaren
Mengen abgerissen, und der Bau des Turmes begann. Die Leute, die
ihr Zuhause verloren hatten, mussten Zelte aufbauen. Immer mehr
ihres Besitzes mussten die Wiener für den Turmbau hergeben.
Sie wurden sehr arm. Eine Hungersnot brach aus.
Die Wiener versammelten sich und berieten miteinander, was sie
machen sollten. Am Ende entschieden sie, dass sie Sprecher zum
Palast des Königs schicken würden. Dies taten sie denn
auch. Doch Albert von Wien wurde zorniger und ließ ausrufen,
dass jeder, der gegen den Turm war, bei den Bauarbeiten mitmachen
musste. Alle Bauarbeiter schufteten Tag und Nacht.
Nach einem Jahr war der erste Stock fertig. Der König sagte:
»Ihr Nichtsnutze! Ab jetzt wird es keine Pausen mehr geben
und ihr müsst doppelt so schnell arbeiten!« Doch dadurch
wurden die Bauarbeiter nur müde, und am Ende des Jahres wurde
auch bloß der zweite Stock fertig. Albert schrie: »Ihr
Dummköpfe! Ihr Schnecken! Man muss euch immer wecken! So
kommt man ja gar nicht weiter!«, und von da an mussten alle
Leute im ganzen Königreich Wien mitrackern. Es ging ihnen
dreckig, schon weil der Turmbau jede Menge Dreck aufwirbelte.
Der Prinzessin wurde es allmählich zu bunt, oder vielleicht
zu einfarbig. Sie sagte: »Mein Vater ist völlig verrückt
geworden! Er zerstört sein ganzes Reich, nur damit ein paar
Dummköpfe den Mond anfassen können!«
Zum Holzklotz sagte Vivienne: »Du bist schlauer als der
König, obwohl du nur ein Klotz Holz bist.«
Nach einem weiteren Jahr hatten die Bewohner des Königreiches
den dritten Stock des Turmes gebaut, aber es waren keine Steine
mehr übrig. Die Menschen waren verzweifelt.
Doch die kleine Prinzessin, die jetzt eigentlich gar nicht mehr
klein war, hatte beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. Und
nun werde ich dir ihr Geheimnis verraten. Immer, wenn sie ganz
allein war, fing sie an, mit Holz zu werkeln. Sie war Meisterin
im Schnitzen, Sägen und Hobeln. Wahrscheinlich wäre
Albert aus seiner Unterhose gefahren, wenn er das gewusst hätte.
Deshalb war es auch ein Geheimnis.
Die Prinzessin begann, aus ihrem größten Holzklotz
ein Boot zu bauen. Vor das Boot spannte sie zweihundertdreiundfünfzig
Wiener Stadttauben.
Nun stellte sie sich als Verrückte verkleidet auf den Karlsplatz
(benannt nach ihrem Opa Karl dem Kleinen) und rief: »Wer
will den Mond antatschen?«
Bald standen viele, viele Leute um sie herum und sagten, sie wollten
den Mond anfassen. Also lud Vivienne die Leute in ihr Boot und
zusammen flogen sie zum Mond. Als sie am Mond angekommen waren,
sagte die Prinzessin: »Jetzt greift zu!«, und das
taten die Mondtouristen auch.
Aber sobald die Gesellschaft sich wieder der Erde näherte,
wartete der König bereits auf sie. Er hüpfte vor Wut
hoch in die Luft.
Die Prinzessin fragte: »Was ist denn? Ich dachte, du wolltest
den Mond berühren, so komm doch mit!«
Doch der König herrschte Vivienne an (denn er war ein großer
Herrscher, auch wenn er sich im Zorn nicht beherrschen konnte):
»Nur über meinen Turm kann man den Mond berühren!«
Zu seinen Wachen schnaubte er: »Schießt auf die Schnur,
mit der die Tauben befestigt sind!«
Dies taten die Wachen sofort, und das Boot samt Insassen fiel
zu Boden.
Alle Umstehenden rannten zur Königstochter. Ihre Verkleidung
war abgefallen, und die Leute sagten zum König: »Schau
nur, jetzt hast du deine Tochter umgebracht!«
Da machte Vivienne denn sie hatte den Sturz unverletzt
überstanden die Augen auf und sagte: »Warum
muss man eigentlich den Mond anfassen? Er sieht sowieso von Weitem
am schönsten aus.«
Und von da an wollte niemand mehr den Mond anfassen. Auch Alberts
Herz wurde endlich weich. Er ließ den Turm abreißen
und das Land und die Stadt Wien wieder aufbauen.
Seine Tochter aber wurde später eine gute und weise Königin
von Wien. Und die Wiege für ihre Babys (es wurden sechzehn)
baute Vivienne selbst aus Holz.