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Christine Weber, 13 Jahre, Ohlsdorf

 

Eine rätselhafte Begegnung

 

Es war ein ganz normaler Tag. Die Sonne schien wärmend vom Himmel. Vielleicht sogar ein wenig zu warm für einen Wintertag. Aber das mochte jeder für sich entscheiden, und im Grunde spielte es auch keine Rolle.

Ein paar Wolken türmten sich hoch über mir zu einem komischen Gebilde zusammen. Der weiße Farbton hob sich gut vom Himmel ab, der heute irgendwie eine komische Farbe hatte. Bei all meinen Anstrengungen konnte ich keinen Namen dafür finden. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Es war, als weigerten sich meine Augen, diese Farbe zu identifizieren. Seltsam. Und irgendwie unheimlich .....

Ich rieb mir die Nase und wandte den Blick vom Himmel. Der Gehsteig war vollbesetzt von Unterstufenschülern, die laut plaudernd auf den Bus warteten. Weiter abseits standen ein paar aus meiner Klasse und unterhielten sich. Ich hatte keine Lust rüberzugehen, obwohl mir ein paar der Jungs zuwinkten. Vielleicht redeten sie über die noch ausstehende Klassenarbeit, wahrscheinlich aber jedoch über ein anderes Thema.

Das war mir vollkommen egal. Ich drehte mich um und ließ meine Blicke über den Bürgersteig schweifen. Im verfallenen Bushäuschen hockte meine beste Freundin Steffi.

Sie starrte seltsam stumpfsinnig vor sich hin. Das erschien mir sonderbar. Normalerweise traf man sie nie irgendwo an, ohne daß nicht mindestens drei Jungen bei ihr standen.

Heute war das mal nicht der Fall, denn das Häuschen war leer.

Ich schlenderte zu ihr. Seit Schulschluß hatte ich sie nicht mehr gesehen. Sie war einfach aus der Klasse verschwunden.

Ich überlegte. Sie benahm sich heute so seltsam. Vielleicht hing es mit Georg zusammen, aber das war doch schon eine Woche her! Naja, bei der konnte man nie wissen!

Seufzend strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Meine Stirn fühlte sich heiß und verschwitzt an, außerdem hatte ich Kopfweh. Schon in der Früh war ich damit aufgewacht.

Hoffentlich war das keine Grippe!

Das letzte was mir jetzt noch fehlte war irgendeine doofe Krankheit, wie sie so viele derzeit hatten. Unter normalen Umständen hätte mich das nicht geärgert und wahrscheinlich sogar die gegenteilige Wirkung gehabt, aber jetzt stand einfach zuviel auf dem Spiel.

Sollte ich diese Schularbeit versäumen, dann good bye Genügend! Ich konnte mir das einfach nicht leisten.

In Mathe war ich schon immer schlecht gewesen, und ich konnte mich nicht erinnern, jemals was besseres als einen Zweier zusammengebracht zu haben, aber in diesem Jahr war es noch schlimmer geworden. Ich hatte kaum wo eine positive Note. Es ging um sein oder nicht sein, hätte unsere Deutschtante wohl gesagt.

"Hi, Steff! Wie geht’s so?"

Meine Freundin nickte nur unmerklich mit dem Kopf. Ich setzte mich neben sie.

"Ich fühl mich so komisch. Wie, wenn heute irgendwas passieren würde. Etwas großes, verstehst du?"

Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte wohl schon wieder eine ihrer Philosophiephasen. Wieder strich ich mir über die Stirn. Ich schwitzte wie ein Schwein, derweil war es gar nicht so warm.

Es war schließlich Winter!

"Du bist krank, nicht?"

Ich starrte Steffi fassungslos an. Woher hatte die das gemerkt? Konnte sie neuerdings Gedanken lesen?

"Ist nur ein Schnupfen", meinte ich schleppend, "Ich hab mich wo verkühlt."

"Ich weiß, ich hab’s auch. Es ist so ein Virus. Oder eine neue Grippewelle."

Ich seufzte. Wenn ich bis morgen noch durchhielt, genügte mir das.

Ich sah nach oben. Der Himmel hatte sich verändert. Er war nicht mehr überzogen von diesem unbestimmten blau. Schlagartig waren schwarze Wolken aufgezogen. Wie gab es das? Sowas konnte doch nicht möglich sein! Eben hatte es doch noch strahlenden Sonnenschein gegeben! Das Gewitter war buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht.

Erschrocken sog ich die Luft ein. Die Wolken ballten sich zusammen, zogen vor die Sonne und verdunkelten alles. Mit einem Mal schauten alle zum Himmel. Es war still geworden. Selbst die Erstklässler hielten den Mund. Graue Schatten jagten über die Stadt. Ein einzelner Regentropfen fiel auf das Bushäuschen, kam durch einen kleinen Spalt und tropfte herab auf die Bank.

Dort wo er gelandet war stieg ein leichter Rauchfaden hoch. Ich erschrak, als ich sah was die Ursache dafür war. Der Tropfen hatte ein millimetergroßes Loch in der Bank zurückgelassen. Wie bei dem missglückten Chemieversuch im vorigen Jahr, wo einer die Säure auf die Bank geschüttet hatte. Damals war bloß das Loch größer gewesen. Ich rückte ein Stück weit ab und starrte mit Riesenaugen auf das Loch. Vielleicht war es ja schon früher in der Bank gewesen und ich hatte mich einfach nur getäuscht und mir eingebildet, Rauch gesehen zu haben. Das wäre eine logische Erklärung gewesen, aber ich fühlte dass sie nicht stimmte.

Steffis Stimme holte mich dann schließlich aus meinen Gedanken zurück.

"Ein Gewitter zieht auf. Schaut ja gefährlich aus! Das gibt sicher ’ne Überschwemmung in der Stadt! Hoffentlich kommt der Bus bald. Ich habe keine Lust jetzt auch noch nass zu werden."

Ich auch nicht, dachte ich. Aber ich glaube kaum, das wir davon noch viel merken würden. Mein Kopf tat weh. Ich fühlte, wie so etwas wie Angst in mir aufzukommen drohte. Bildete ich mir das nur ein, oder war der Himmel wirklich schwarz geworden?

Die Wolken hatten eine bedrohende Farbe angenommen und fast alles Licht war aus der Stadt gewichen. Man sah kaum seine Hand vor den Augen. Ein kalter Wind war aufgezogen. Ich hörte einige Schüler erschreckt flüstern. Offensichtlich fürchteten sie sich. Ich konnte ihnen das nur zu gut nachfühlen.

Schaudernd zog ich meine Jacke enger um meinen frierenden Körper. Mit einem Schlag schien der Winter zurückgekommen zu sein.

Steffi hingegen schien das alles nicht wahrzunehmen.

"Ich komme gleich wieder. Will nur mal kurz zu Steve." Sie zeigte nach vorne.

Ich sah, wie ihre Hand zitterte. Offensichtlich ließ sie das doch nicht so kalt, wie sie es mir glauben machen wollte.

Während sie zögernd aufstand hörte ich, wie sie flüsterte: "Hoffentlich kommt nur der Bus bald!"

Ich sah auf die Straße. Kein einziges Auto fuhr vorbei, obwohl es eine der meistbefahrenen Straßen hier in der Gegend war. Ich sah nur eine vollkommene Dunkelheit, durch die manchmal eine weiße Bodenmarkierung hindurchglänzte.

Ich fror schrecklich. Schauer rannen mir über den Rücken. Vergeblich versuchte ich mir einzureden, dass das nur die Kälte war, die plötzlich hier herrschte.

Kälte? Verdammt noch mal! Vor Minuten war es noch sommerlich warm gewesen!

Spielte das Wetter denn ganz verrückt? Ich drehte mich zur Seite. Beinahe hätte ich aufgeschrien. Neben mir saß eine alte Frau! Ich hätte schwören können, dass sie vor einer Sekunde noch nicht dagesessen hatte!

Panikartig rückte ich noch weiter weg, saß aber nun fast schon an der Kante der Bank.

Ich beobachtete die Frau. Sie war alt, sehr alt, das sah man ihr an. Aber dennoch wirkte sie irgendwie jung. Seelisch jung.

Sie hatte ein schwarzes Kopftuch auf und einen dunklen Rock an.

Wie eine Hexe aus dem Märchen.

Der Stock der Frau lehnte an der Bank. Er sah seltsam aus. Ineinander verschlungene Gestalten waren in das Holz geritzt. Teufel, mit Hörnern und Schwänzen, aber auch Engelsfiguren. Ich starrte auf den Stock und dann wieder auf die Frau. Niemand schien sie zu bemerkten, alle hatten ihre Blicke zum Himmel gerichtet. Niemand sprach. Es war, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Die Frau schien meine Blicke zu bemerkten. Sie wandte sich zu mir und sah mich an. Ihre stechenden Augen musterten mich. Es war mir unangenehm und mit einem Mal hatte ich Angst. Panische Angst. Eine Angst, die so groß war, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.

Ich konnte nichts anderes tun, als dazusitzen und die Frau anzustarren. Verzweifelt versuchte ich den Blick von ihr zu wenden, aber es ging nicht, ich war wie gelähmt.

Die Schüler um mich starrten noch immer auf den schwarzen Himmel, rührten sich nicht, sprachen nicht, waren nur da und die Zeit stand still. Es fuhren keine Autos, es fiel auch kein Regen. Da waren nur der Himmel und die Frau. Und ich. Und meine Angst.

"Du fürchtest dich, nicht wahr?"

Erschrocken fuhr ich hoch. Der Bann war gebrochen und ich konnte mich wieder bewegen.

"Du hast Angst. Angst vor mir, nicht wahr?"

Ihre Stimme! Ich verstand ihre Worte, doch ich hörte ihre Stimme nicht. Ich hörte nicht, wie sie sprach. Die Frau bewegte ihren Mund, ich sah ihre gelben Zähne, ich verstand ihre Worte, doch ich hörte sie nicht! Und dennoch klangen (klangen?) die Worte irgendwie so beruhigend, trotz der Aura, die diese seltsame Frau ausstrahlte.

Ich blickte zu ihr hin und nickte.

"Ja, ich habe Angst, aber wer sind Sie? Was machen sie hier? Und was ist überhaupt los?"

"Du hast Angst. Alle haben es", meinte die Frau, wie wenn es die natürlichste Sache der Welt wäre. "Doch sie wollen es nicht zeigen. Aber sie wissen, dass etwas geschehen wird."

Ich blickte weg. Dasselbe hatte Steffi gesagt. Wo war sie überhaupt? Sie stand bei den anderen, bei Steve und starrte in den Himmel. Was war mit ihnen los?

"Sie stehen still. Es ist die Angst die sie lähmt", meinte die Frau. Sie konnte Gedanken lesen.

"Wovor? Die Angst wovor? Und was ist mit dem Gewitter?"

"Es ist ein Sturm. Er wird viel Böses anrichten, und deshalb bin ich da. Ich muss euch warnen."

"Warnen wovor?"

Langsam wurde die Situation unwirklich. Ich saß da und unterhielt mich mit einem alten Weib, während alle meine Freunde umherstanden in den Himmel glotzten und keiner ein Wort sagte.

"He sie!" schrie ich plötzlich auf, "Ich hab‘ keine Lust mich mit einer Verrückten zu unterhalten! Gehen Sie zurück in ihr Irrenhaus, aus dem Sie ausgebrochen sind, oder ich hole die Polizei! Und machen Sie meine Freunde los! Verdammt, sind denn hier alle verrückt geworden?"

"Es wird passieren und keiner wird es aufhalten können. Eure Leute werden es nicht bemerken, denn es kommt warnungslos und versteckt."

Die ignorierte mich! Die ignorierte mich doch tatsächlich! Das war eine Verrückte, ganz klar. Vielleicht suchte man schon nach ihr. Vielleicht war sie gewalttätig. Eine Mörderin. Eine Verbrecherin! Besaß sie eine Waffe? Nein, zu sehen war nichts.

Oder war ich verrückt? Vielleicht hatte ich einen Stein auf den Kopf bekommen und lag in Wirklichkeit in einem Krankenhaus im Koma und träumte das alles nur.

Oder war es doch die Wirklichkeit?

"Was denn? Was kommt warnungslos? Ist es der Sturm?"

"Ja, aber es ist kein solcher Sturm wie ihr ihn kennt. Er ist groß und wird alles zerstören. Doch wenn ihr ihn erkennt, werdet ihr ihn verhindern können."

Die Frau schaute mich an. Sie war schwarz, vollkommen schwarz. Mit einem Mal kam die Angst wieder und beherrschte mich.

"Ich verstehe nicht, was Sie meinen? Was für ein Sturm? Hier bei uns?"

"Ja. Aber ich kann und darf dir nicht mehr verraten. Horche in dich hinein. Wenn du es kannst, so wirst du erkennen, was ich meine."

Ich tat als überlege ich angestrengt. Bei Verrückten tat man am Besten immer so, als ob man alles glauben würde. Nur für den Fall, daß die Alte nicht plötzlich ausrastete.

"Nein", sagte ich. "Ich fühle nichts."

"Du glaubst mir nicht, ich fühle es!" meinte die Alte traurig. "Ihr seid stumpfsinnig geworden und habt eure Instinkte schon beinahe verloren. Das ist es, was euch den Untergang bringen wird. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät."

"Wir brauchen keine Instinkte. Wir sind eine moderne Welt mit Computern, die alles noch besser steuern als unsere Instinkte. Wenn eine Gefahr droht, so erkennen wir sie."

"Nein! Eure Werke versagen! Alles was der Mensch erschaffen hat ist zum Versagen verurteilt. Eure Maschinen können euch in diesem Fall nicht helfen. Ihr werdet sterben, wenn ihr ihn nicht erkennt."

Mit einem Mal hatte ihre Stimme einen anderen Klang. Ich glaube, ich hatte es schon vor diesem Zeitpunkt gewusst, aber nicht wahrhaben wollen, dass diese Alte die Wahrheit sprach. Aber jetzt spürte ich, dass es so sein musste. Die Frau redete nicht einfach nur wirres Zeug daher, nein, die glaubte wirklich was sie sagte.

Die Angst in mir wuchs.

"Wen?" fragte ich langsam.

"Versuche es und du wirst es erkennen. Ihr spürt die Furcht. Sie ist etwas wie eine Vorahnung. Spürst du es denn nicht auch? Ihr alle hier fühlt es, aber keiner spricht es aus. Das ist eure moderne Welt! Selbst wenn ihr den Grund für euren Untergang kennen würdet, so würdet ihr ihn nicht preisgeben um eine Panik zu verhindern. Ihr würdet schweigend zusehen, wie alle Menschen draußen sterben, und nur darauf bedacht sein, euch selber in Sicherheit zu bringen!"

Ich nickte unmerklich. So war es. Die Frau hatte nur zu recht.

"Ihr habt noch viel Zeit. Wenn ihr etwas dagegen unternehmt, so werdet ihr fortbestehen. Sieh in den Himmel."

Ein leichter Wind kam auf

Ich sah hoch. Wieder hatte mich dieser merkwürdige Bann befallen. Es hing irgendwie mit der schwarzen Farbe des Himmels zusammen. Aber trotzdem kam mir alles dennoch unwirklich vor. Ich erlebte hier irgendeine fantastische Geschichte, die ich nicht begreifen konnte, und die über meinen Verstand hinauswuchs. Von was redete die Frau?

Ich schaute hoch. Die Wolken zogen, von einem leichten, warmen Wind getrieben auseinander. Dahinter sah man den blauen Himmel. Und ich sah nochetwas. Ein rot-gelbes Blitzen. Wie ein großer Stein, der auf uns zuraste und einen regenbogenartigen Schweif hinter sich her zog. Für Sekunden wusste ich, was mir die alte Frau sagen wollte.

Dann strahlte die Sonne zwischen den Wolkenfetzen hervor. Und mit einem Mal war es vorbei! Es wurde wieder warm und die Wolken lösten sich schlagartig auf.

Die Schüler sahen sich verdutzt an, redeten aber auf der Stelle weiter, als wäre nichts passiert. Neben mir ertönte ein lautes Lachen. Ich drehte mich um. Die alte Frau war verschwunden. Statt dessen saß dort wieder Steffi und blickte mich an. Sie kicherte und hatte vermutlich gerade einen Witz erzählt.

Ihr vergrämter Ausdruck im Gesicht war verschwunden, als hätte er nie existiert. Wahrscheinlich war das auch wirklich nie der Fall gewesen!

Ich fuhr mir durch die Haare. Mein Kopfweh war wie weggeblasen. Ich war nicht mehr krank.

Mit einem Mal fühlte ich mich von der Heiterkeit angesteckt und lachte los.

Plötzlich hielt ich inne. "Hey, Steff! Du, wo ist denn die alte Dame hin, die vorhin neben mir gesessen ist? Du musst sie doch gesehen haben!"

Steffi blickte mich verdutzt an. "Bist du noch ganz richtig im Kopf? Hier bin immer nur ich gesessen! Hier saß nie jemand anders!"