Marlies Tasser (14)

Elena

Elena sitzt oft in ihrem blauen Lesesessel, kuschelt sich tief in die Polster und grübelt. Sie selbst sagt dann, daß sie jetzt wieder ihre "philosophischen Momente" hat. In diesen Augenblicken denkt sie sehr viel über das Leben allgemein, aber auch über ihr eigenes nach.

"Angst. Warum fürchten sich die Menschen? Im Leben kann man vor so Vielem Angst haben. Wenn man jung ist, drückt man sich vor der Verantwortung des Lebens. Man hat Angst, Fehler zu begehen. Sobald man das Leben mit all seinen Sonnenauf- und Untergängen erlebt hat, fürchtet man sich vor dem Tod und dem Danach."

Betrachtet man Elena länger, sieht man, daß sie früher einmal sehr schön war. Nun ist sie 78 Jahre alt. Doch wenn man der alten Frau tief in die hellen, blauen Augen sieht, erkennt man ein fröhliches, junges Mädchen darin. Und so sieht es auch in ihr aus, denn nur ihr Körper ist gealtert.

Elena weiß, daß sie sterben muß. Nicht heute, nicht morgen, aber bald.

Deshalb macht Elena sich viele Gedanken, wie es sein wird, das Sterben.

Sie hofft, daß sie keine Schmerzen fühlen wird. Einfach ins Bett gehen und einschlafen und in einer anderen, viel schöneren Welt aufwachen. Das wäre sehr angenehm für sie. Aber man stellt sich ja immer alles sehr viel schöner vor, als es dann in Wirklichkeit ist. Wird es tatsächlich so leicht sein?

Elena betete nur, wenn es ihr schlecht ging. Jetzt denkt sie darüber nach, wann sie das letzte Mal in die Kirche gegangen war. Aber sie kann sich nicht mehr daran erinnern. Sollte sie nicht doch wieder einmal das Haus Gottes aufsuchen? Ist an den Sprüchen über "Himmel" und "Hölle" nicht doch etwas Wahres dran?

Elena schüttelt den Kopf über sich selber und findet, daß sie für heute genug gegrübelt hat. Sie geht zum Spiegel und trägt Wimperntusche auf, bevor sie sich zum Fernseher setzt.

Tief in ihr ist eben doch noch ein Mädchen, das zu jung zum Sterben ist.