Elisabeth Schober (18)

Brutal real

Am Samstag, dem 27.8., drang Jutta M., 21, in das Hauptgebäude einer namhaften Rundfunkanstalt ein. Bereits am Eingang streckte sie mit einer abgesägten Schrotflinte die Putzfrau Karina K. nieder, was nur zum Startschuß für einen irren Amoklauf wurde.

Drei Personen verletzte Frau M. lebensgefährlich, ehe sich die Todesschützin den Weg zum Nachrichtenstudio gebahnt hatte, wo sie schließlich Rudolf L., den allseits beliebten Fernsehsprecher, vor laufender Kamera erschoß.

Hundertausende waren live mit dabei, als Frau M. von zwei Wachmännern überwältigt werden konnte und unter ständigen "Ihr habt mein Leben zerstört"-Rufen abgeführt wurde.

Auf einer riesigen Leinwand erscheint das Bild einer jungen Frau, das Haar ist in Strähnen aufgelöst, der Mund verzogen, als würde sie schreien. Darunter sind drei Sofas in U-Form plaziert.

Die Kamera fährt an den Moderator heran, der es sich dort in seinem Nadelstreifanzug bequem gemacht hat.

"Meine Damen und Herren, ich möchte Sie herzlich begrüßen zu ‚TV – brutal real‘, der Show, in der keine Wahrheiten im Dunkeln bleiben. Heute können wir mit einem überaus brisanten Thema aufwarten."

Der junge Mann legt beim Wort "brisant" die Stirn in bedeutungsvolle Falten.

"Der Fall ging durch alle Medien, jeder kennt sie, jeder hat von ihr gehört, von der so genannten Fernsehschlächterin Jutta Meier. Und heute, erstmals, wird die volle Wahrheit ausgebreitet, die ganze Story erzählt.

Bei uns im Studio zu Gast: Juttas Eltern."

Tobender Applaus erfüllt den Saal.

Ein dicklicher Mann und eine schmächtige Frau kommen die Stufen herab und nehmen neben dem Entertainer Platz.

Der Moderator erklärt: "Herr Meier, Versicherungsbeamter, und Frau Meier, Hausfrau, saßen ebenfalls vorm Fernsehgerät, als ihre älteste Tochter Jutta vor laufender Kamera ihre Wahnsinnstat beging.

Nun, was wir wohl alle von Ihnen wissen wollen: Was war Ihre erste Reaktion? Herr Meier?"

Eine Nahaufnahme des ältlichen Herrn folgt.

"Na ja, wissen Sie, ich schaue gerade Nachrichten, ja? Und plötzlich ... Tja, und da meinte ich zu meiner Gattin: ‚Schau mal, Gerti, das ist ja die Jutta.‘"

"Und dann?" wollte der Entertainer wissen.

"Dann haben wir schnell eine Videokassette in den Rekorder geschoben."

Applaus aus den Publikumsreihen.

Die Kamera zeigt abermals eine Großaufnahme vom Moderator.

"Meine Damen und Herren, begrüßen Sie nun mit mir Herrn Dr. Lang, Psychologe, der uns einiges vom Innenleben der Fernsehschlächterin erzählen wird."

Herr Lang erscheint, lächelnd hebt er die Arme zur Begrüßung.

Der Fernsehsprecher beginnt: "Was wir alle hier, und natürlich auch die Zuschauer vor den Bildschirmen, wissen wollen: Woher kommt diese Wut? Was bringt einen Menschen dazu, zur Waffe zu greifen? Sie als Experte, was sagen sie zum Fall Jutta Meier, woher kommen derartige Aggressionen gegen die Medien?"

Herr Lang räuspert sich, nestelt an seinem Jackett herum.

"Nun ja, wissen Sie, es ist doch so. Die Leute schauen sich "Superman" an und hüpfen aus dem Fenster, weil’s glauben, sie könnten fliegen. Wenn man dann aber unten ankommt und merkt, man ist nicht Superman, kommt es ganz leicht zur Frustration. Und die überträgt sich dann aufs Fernsehen."

Der Moderator lächelt. "Danke, Herr Dr. Lang, für diese Erläuterung. Frau Gertrude Meier, was sagen Sie dazu? Hatte Ihre Tochter ein ähnliches Problem wie geschildert?"

Frau Meier steht bereits der Schweiß im Gesicht.

"Wissen Sie, Jutta ist ein empfindliches Kind, nimmt sich alles immer so zu Herzen. Sie war eben unglücklich, hat ein paar persönliche Katastrophen hinnehmen müssen. Der Freund hat’s verlassen, die Arbeit hat’s verloren.

Fern geschaut hat sie ... hmm. Eigentlich recht viel. Wie wir alle halt. Aber in letzter Zeit hat sie sich eigenartig benommen. Hat nur mehr geflucht: ‚Scheiß Fernsehen. Scheiß Lügen‘ hat sie gesagt. Wollte uns einmal sogar den Fernseher abdrehen. Mitten in der ‚Lindenstraße‘.
Also, ich sage Ihnen mal etwas, ganz ehrlich, wenn ich nicht mehr ‚Lindenstraße‘ schauen könnt’, das wär’ ein Grund für mich zum Amoklaufen."

Man applaudiert.

Eine Frau erhebt sich, die erste Publikumsmeldung.

"Frau Meier, wie fühlt man sich so, als Mutter einer Mörderin?"

Frau Meier legt die Stirn in Falten.

"Blöd irgendwie, denk’ ich."

Nun meldet sich der Moderator wieder zu Wort.

"Meine Damen und Herren, mittlerweile habe ich von der Redaktion die Meldung bekommen, daß es uns tatsächlich gelungen ist." Die weißen Zähne des Moderators blitzen, als er seinen Mund zu einem Lächeln verzieht. "Wir haben es geschafft, als erste Fernsehstation: Ein Kamerateam befindet sich nun in Judenberg, der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, wo sich Jutta Meier derzeit befindet. Ingrid Reindl, hören Sie mich?"

Die Leinwand hinter ihnen wird für einen Moment schwarz, dann erscheint das Gesicht einer hübschen Frau Mitte dreißig.

"Guten Tag aus Judenberg", beginnt sie. Sie weist auf den Gang hinter sich.

"In diesem Gebäude hier befindet sich Jutta Meier, besser bekannt als die ‚Fernsehschlächterin‘. Neben mir –" Die Kamera macht einen Schwenk zu einer unscheinbaren Frau in weißer Kleidung hin: "Habe ich die Diplomkrankenschwester Irmgard Körmer, die diensthabende Schwester, die bereit ist, uns von ihren Erfahrungen mit Jutta zu erzählen."

Frau Körmer lächelt in die Kamera.

"Nun, Jutta ist eigentlich ein liebes Mädel. Still, zurückhaltend, ordentlich. Keine Ahnung, was sie dazu gebracht hat, so durchzudrehen, Das haben aber ja auch die Ärzte herauszufinden. Für mich ist sie jedenfalls ein ganz liebes Mädel."

"Frau Körmer, können Sie uns das Zimmer zeigen, in dem sich Frau Meier derzeit befindet?"
Frau Körmer nickt, geht vor. Die Kamera folgt.

Am Ende des Ganges bleibt Frau Körmer vor einer grauen Tür stehen. "Da drinnen ist sie."

Nun tritt die Moderatorin wieder ins Bild.

"Ich möchte mich nun von den Zuschauern verabschieden", setzt sie an. Frau Körmer zupft sie am Ärmel. Die Sprecherin ist irritiert.

"Darf ich noch etwas sagen?" bittet Frau Körmer. "Schorschi, ich hab’ dich ganz lieb, ja? In einer Stunde bin ich daheim. Bis dann, servus."

Nun ist wieder die Moderatorin im Bild.

"Ich gebe jetzt wieder ins Studio zurück. Ingrid Reindl hat für Sie recherchiert."

Die Leinwand wird wieder schwarz.

Das Gesicht des Moderators ist ernst.

"Wertes Publikum, wir haben uns lange überlegt, ob wir Ihnen diese Bilder nicht ersparen wollen. Doch dann haben wir uns dafür entschieden, meine Damen und Herren, daß man Ihnen die volle, die ganze Wahrheit nicht vorenthalten darf. Deshalb zeigen wir nun exklusiv als erster Sender noch einmal die Bilder jenes Schreckenstages."

Die Blicke aller heften sich wieder auf die Leinwand.

Ein Nachrichtenstudio erscheint darauf. Rudolf Leber, der allseits beliebte Fernsehsprecher, spricht eben von einem eventuellen Bündnis zwischen den Linksparteien.

Plötzlich wird es laut im Studio.

"Was will die da?" und "Achtung, sie ist bewaffnet" hört man.

Dann fällt ein Schuß. Rudolf Leber fällt zu Boden. Man hört jemanden schreien: "Halt drauf, halt drauf, ich will ihr Gesicht."

Nun sieht man Jutta erstmals. Sie stürzt auf die Kamera zu. "Ihr Schweine. Ihr habt alles kaputt gemacht. Alles. Ihr habt mein Leben zerstört." Dann sind zwei Männer da, die sie packen. Ihr Gesicht, das Haar in Strähnen aufgelöst, der Mund verzogen, wird zum Standbild.

Die Kamera fährt an das Gesicht des Vaters heran. Seine Augen glänzen. "Mädel, Mädel" sagt er und schlägt die Hände vors Gesicht.

Nun zeigt man wieder den Moderator.

"Meine Damen und Herren, dies war die heutige Ausgabe von "TV – brutal real". Schalten Sie auch morgen wieder ein, wenn es heißt: ‚Endstation Urlaub, Todesfalle Griechenland‘. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend, hoffentlich mit unserem Sender."

Das Publikum applaudiert.