Elisabeth Schober (17)

Der große Aufschwung

Muckendorf war ein verschlafener Ort, da gab es ein Wirtshaus, eine Kirche samt Pfarrer, einen Greißler ebenso wie ein Gemeindehaus. Die Menschen waren höflich und zuvorkommend, ja, es ließ sich recht gut leben in Muckendorf.

Unweit von der Ortstafel entfernt gab es eine Muckendorferische Besonderheit, von der zwar jeder wußte, doch um die sich keiner scherte:

Dort gab es heiße Quellen.

Jeden Sommer war ein einziger Herr in mittleren Jahren in dem Dorf zu Gast, seit nunmehr einem Jahrzehnt kam er alljährlich für zwei Monate hier her, ließ sich einen Schaukelstuhl auf den Balkon des Wirtshauses tragen, und las ein Buch nach dem anderen.

In seinem elften Jahr aber begann er, während langer Spaziergänge die Umgebung zu erkunden. So fand er durch Zufall die heißen Quellen. Er hatte in einem seiner Bücher davon gelesen und rannte nun angesichts seiner Entdeckung wild schreiend durchs Dorf – hin zum Wirten.

Dieser begriff seine Aufregung nicht, den Fund des Gastes tat er mit einem abwertendem »Aber das ist doch nichts Neues, das wissen wir doch!« ab.

Einen Moment lang verschlug es dem Touristen ob dieser Gleichgültigkeit die Sprache, dann rief er aufgebracht: »Aber, aber ... so etwas gehört doch gemeldet, so etwas muß man doch melden!« Und schnurstracks eilte er zur einzigen Telefonzelle des Ortes hin.

Darauf sollte alles anders werden; am Anfang waren die Veränderungen jedoch noch nicht tiefgreifend:

Experten wurden nach Muckendorf geschickt, um die Quellen zu untersuchen, um Statistiken zu erstellen und Pläne zu entwerfen. Die Dorfgemeinde betrachtete diese Ereignisse zwar mit Neugierde, doch es herrschte nicht all zu viel Aufregung deswegen, die Teams würden die Forschungen beenden, und dann Auf-nimmer-Wiedersehen verschwinden.

Und dann geschah es eines Tages:

Eine Handvoll dunkelblauer Limousinen fuhr vor der Gaststätte vor, dem Wagen entstiegen eine ganze Horde von Männern in Maßanzügen aus teurem Tuch. Während die anderen im Wirtshaus warteten, und den Wirten mit dem ständigen Gepiepse ihrer Handys ganz unrund machten, marschierte einer von ihnen zum Haus des Bürgermeisters und brachte diesen um seinen wohlverdienten Mittagsschlaf.

»Sie, setzen Sie noch für heute abend eine Gemeinderatsversammlung an!«

Der Bürgermeister war ganz verdattert, rieb sich die Augen, gähnte dann und fragte nach, wozu denn das gut sei. Der Herr im Anzug lächelte ein überaus gewinnendes Lächeln und erwiderte: »Nun, ich bin mir sicher, daß Ihnen das Wohl ihrer Gemeinde am Herzen liegt! Hier wird der Fortschritt Einzug halten, gleich einem alles verändernden Frühlingssturm.«

Abends um acht Uhr kamen die Männer in den teuren Anzügen in den gefüllten Gemeindesaal. Verwirrtes Gemurmel hob unter den Räten an.

Der Herr, der vom Bürgermeister eine Sitzung gefordert hatte, trat nach vor, knallte einen schweren Ordner auf den Tisch, blickte ernst durch die Runde, räusperte sich und begann zu sprechen: »Verehrte Damen und Herren, vor etwa einem halben Jahr haben wir von den hiesigen Quellen erfahren. Hierzu sei bemerkt, daß wir gewillt sind, darüber hinweg zu sehen, daß unsere Behörde nicht eher informiert wurde, obgleich einige von Ihnen ... (dabei musterte er jeden der Gemeinderäte sehr eindringlich, was so manchem die Schamesröte ins Gesicht trieb) »... einige von Ihnen gewiß über die Existenz der Quellen Bescheid wußten! Nichts desto trotz sind wir hier, und ich kann Ihnen versprechen, daß in Muckendorf kein Stein auf dem anderen bleiben wird.«

Er öffnete seine Mappe und kramte Unterlagen hervor, die er herumgehen ließ.

»Derartige Quellen müssen entsprechend genutzt werden! Ein Kurzentrum – nein, was sage ich – ein Touristenzentrum von ungeahnten Maßstäben wird hier entstehen. Abgesehen von der Kuranlage selbst – sie finden alles in den Unterlagen – sind weiters ein Einkaufszentrum, Kinos, Modeboutiquen, Imbißbuden und selbstverständlich ein Vergnügungspark in Planung. Die Verträge wurden bereits unterzeichnet.«

Der Bürgermeister war mittlerweile von seinem Platz aufgesprungen, und brüllte nun durch den Raum: »Himmelherrschaftszeiten, so geht des aber net!«

Der Herr lächelte freundlich, ebenso seine Begleiter, die in einer Reihe an der Wand standen und das Geschehen beobachteten.

»Und ob das geht, meine Damen und Herren. Wer sich dem Aufschwung in den Weg stellt, stellt sich der glorreichen Zukunft von Muckendorf in den Weg! Sind Sie also bereit, mit uns zu kooperieren?«

Die Gemeinderäte zogen sich zur Beratschlagung in eine Ecke zurück. Nach einer Weile verkündete der Bürgermeister:

»Meine Herren, wir können und wollen Sie nicht unterstützen! Wir brauchen kan Aufschwung!«

Der Herr im schwarzen Anzug holte tief Luft und meinte dann mit Nachdruck: »Nun, Sie wollen es scheinbar nicht anders. Hiermit erkläre ich diesen Gemeinderat im Namen des Staates für aufgelöst und den Herrn Bürgermeister für abgesetzt. Hier sind die nötigen Papiere dazu!«

Die Verwirrung war allgemein, und so mancher der schwarzgekleideten Herren konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Geschlossen verließen die Ex-Gemeinderäte den Saal und einer brüllte noch: »Das wird ein Nachspiel haben!«

Es hatte keines.

Der Bürgermeister telefonierte mit Dutzenden von Beamten, schließlich sogar mit dem Kanzler selbst, die Antwort war immer dieselbe: »Nichts zu machen, dem Fortschritt sollte man sich nicht in den Weg stellen!«

Und so kam es, daß nach und nach neben den teils hundert Jahre alten Bauernhäusern plötzlich Mac Donald’s und Spielhöllen, Modehäuser und Parkplätze aus dem Boden wuchsen.

Dann, genau ein Jahr, nachdem jener aufgeregte Tourist die Meldung von heißen Quellen in Muckendorf gemacht hatte, wurde den Dorfbewohnern per Post ein Rundschreiben zugesandt.

In wenigen Tagen würde man mit der Aussiedlung der Ortsansässigen beginnen. Irgendwie paßten sie nicht mehr so recht ins Ortsbild.