Lydia Scherenzel (16)

 

Hier stehe ich, inmitten der bunten Farben, staune und weiß nicht, wohin ich blicken soll, in all dem Getümmel.

Von überall her strömen Leute in farbenfrohen Gewändern auf den Tempel zu, die Frauen in filigrane Netzblusen und bunte Tücher gehüllt, die Männer mit weißen Hemden und Mützen, ebenfalls Tücher als Röcke um die Hüften geschlungen.

Auf dem Kopf tragen sie kunstvoll zusammengefügte Türme aus Früchten und Reisspeisen, die geschmückt sind mit Gestecken aus Palmenblättern und mir allesamt fremd und exotisch erscheinen, aber wunderschön und geheimnisvoll. Der Gang der Menschen ist aufrecht und von einer Anmut, die daheim in meinem Land nicht anzutreffen ist, sie gehen nicht, sondern schreiten mit sich sachte wiegendem Schritt, und es ist fast, als schwebten sie dahin.

Obgleich ich es nun schon mehrmals beobachtet habe, verblüfft mich doch immer wieder die Leichtigkeit, mit der sie ihre Last auf dem Kopf balancieren, so als wäre sie schwerelos, und ohne auch nur die Hände als Hilfe zu benützen.

Der Eingang des Tempels wird von zwei in Stein gehauenen, über und über mit Fratzen und seltsamen Geschöpfen verzierten Säulen begrenzt, und hier ist das Getümmel am dichtesten, erfasst mich und zieht mich weiter, in Richtung des Tempelinneren. Schon befinde ich mich inmitten der Menschenmasse, bin Tei von ihr, Teil eines sich langsam dahinwälzenden Stromes, der mich mit sich spült und immer näher an den Eingang des Tempels schwemmt.

Und doch bin ich Fremdkörper.

Obgleich auch ich gehüllt bin in die Tücher dieses Landes, verbergen diese doch nicht die Farbe meiner Haut und meines Haars, die heller ist als hierzulande üblich, und die Züge meines Gesichtes, die denen der Menschen hier so wenig gleichen.

Beständig werde ich betrachtet, betastet und mit Lächeln und mir unverständlichen Worten überschüttet, bis ich gar nicht anders kann als zurückzulächeln, mitten in fremde, nie gesehene Gesichter hinein.

Bald kann ich gar nicht mehr aufhören, denn immer wieder taucht ein neues lachendes Gesicht auf, dem mein Mund sogleich Antwort gibt, sich verwandelnd in ein beständiges, nicht enden wollendes Lächeln.

Langsam, ohne daß ich darüber nachdenke, verliert sich meine Schüchternheit und Verkrampftheit, und ich gebe mich ganz der Kraft dieses Lächelns hin, dem Strom, der mich weitertreibt, bis ich das Innere des Tempels erreicht habe und vor einem großen Platz stehe. Von irgendwoher tönen seltsame, für unsere Ohren disharmonische Klänge, und als ich mich umsehe, erblicke ich das Orchester, dessen Mitglieder auf der anderen Seite des Platzes auf dem Boden hocken.

Aus dem Hintergrund, von dort, wo mein Blick sich verliert zwischen Steinsäulen und Türmen aus Früchten, kommt plötzlich eine Gruppe von Menschen, deren Gesichter verborgen sind hinter riesenhaften Masken von Göttern oder Dämonen, die das Auge des Fremden nicht zu unterscheiden vermag. Stampfend und rasselnd beginnen sie zu tanzen, eins mit dem Rhytmus der Musik, dem ihre Bewegungen folgen, und immer wilder wird ihr Tanz und wilder, bis sie ganz darin gefangen scheinen und auch das Publikum in seinen immer forscher lockenden Bann gezogen wird. Schreie ertönen und feurige Zurufe, immer dichter drängt sich die Masse, um nichts zu versäumen von dem Schauspiel, und einzelne beginnen auch selbst zu stampfen und leise im Takt zu klatschen.

In ihren Augen kann ich das Feuer sehen, das entfacht wurde vom Tanz und von der Musik, die auch mich in ihrem wundersamen Bann ziehen, mich einhüllen und der Wirklichkeit entrücken. Erst später, nachdem der letzte Schritt getanzt und der letzte Ton verklungen ist, bemerke ich, daß ich ein paar Augenblicke lang ganz vergessen habe, mich fremd zu fühlen.