Lydia Scherenzel (16)

Schattenspiel

In ihrer Hand lag ein kleines, hölzernes Kinderspielzeug, das sie auf dem Kiesweg vor ihrem Haus gefunden und aufgehoben hatte, weil seine Form ihr gefiel. Behutsam strich sie darüber, schloß die Tür auf und trug es sogleich in den leeren weißen Raum mitten in ihrer Wohnung, wo sie bereits unzählige Gegenstände zu einem wundersam anmutenden Bild zusammengefügt hatte.

Da gab es zackige Blätter und lange gewundene Hölzer, abgebrochene Türklinken, alte Hüte, Osterhasen aus Schokolade, Stofftiere und Glühbirnen, ja selbst eine Gitarre, die zweckentfremdet von der Decke hing.

Allen Dingen hatte sie sorgsam ihren Platz zugewiesen, sie aufgefädelt an unsichtbaren Schnüren, eins nach dem anderen, oder sie auf den Boden gestellt, mehrmals ihren Standort ändernd, bis sie schließlich zufrieden ein paar Schritte zurückwich, um ihr Werk zu betrachten. Dieses war verborgen von einer großen weißen Leinwand, die die gesamte Breite des Zimmers einnahm, und auf der die Schatten der vielen großen und kleinen Figuren und Gegenstände sich fingen und dunkle Flecken hinterließen.

Sie liebte diesen Ort, liebte die Schattenwand, die sie umgebende Kargheit, die schlichten Bretter des Bodens.

Kein Gegenstand, der noch nicht Schatten geworden war, durfte dies Zimmer entweihen, kein Bild die schmucklosen Wände zieren, kein Teppich den Boden bedecken. Nur ein kleiner runder Polster lag einsam in seiner Mitte, sah abgewetzt aus und benutzt.

Beinahe ehrfürchtig ließ sie sich darauf nieder und starrte die Schatten an, saß ganz still, Minuten oder Stunden, sie wußte es nicht.

Dann erhob sie sich schwankend, ging zum Fenster und öffnete es, um den Wind einzulassen, der durch die Schatten fuhr und sie tanzen ließ, sie veränderte und stets aufs Neue verformte. Stumm stand sie da, reglos, berauschte sich an dem lautlosen Spiel der Figuren hinter der Leinwand, das sich in ihrem Inneren widerspiegelte. Eine unbestimmte Sehnsucht wühlte sie auf, ließ sie nicht zur Ruhe kommen und trotzte der erstarrten Unbeweglichkeit ihres Körpers.

Sie verließ das Haus und wanderte die Straße entlang in Richtung des Stadtzentrums, den Blick starr auf den Boden gerichtet, ohne aufzusehen. Der Weg war ihr vertraut, sie kannte die fleckigen Zebrastreifen, jeden Randstein und jedes der Kanalgitter, die in unregelmäßigen Abständen in die Straße eingelassen waren. Manchmal erschien eine Katze oder ein Hund an einer Leine in ihrem Blickfeld, gefolgt vom Schatten eines Menschen, dem sie nachsah, bis er ihr entglitt, ohne daß sie es vermochte, ihn Teil ihrer Sammlung werden zu lassen.

Die Menschen selbst sah sie nicht.

Kein einziges Mal hob sie den Blick, um aufzusehen, denn nur die grauen Umrisse, die die Vorüberhastenden auf den Asphalt warfen, zogen sie an, ihnen allein galt ihr Blick, war ihre gesamte Aufmerksamkeit gewidmet. Sie folgte ihren Bewegungen, sah, wie sie sich ausdehnten und ins Riesenhafte anwuchsen, oder zusammenschrumpften, bis sie winzig klein waren, nicht mehr als ein Bruchteil der tatsächlichen Menschen.

Sie liebte die langgezogenen Schatten menschlicher Finger in der Sonne und die verzerrten Formen der Köpfe, trauerte ihnen nach, wenn sie sich verloren im Regen und sich vermischten mit den dunklen Flecken, die das Naß auf den Asphalt malte. Nur ein kaum mehr wahrnehmbarer Abglanz blieb dann von ihnen zurück, eine blasse Spiegelung in den Pfützen, bis auch diese erlosch und das Dunkel sie gänzlich verschluckte.

Noch aber war es nicht so weit, noch war die Nacht nicht hereingebrochen, die sie einsam machen und sie zur Rückkehr zwingen würde, indem sie ihr die Schatten entriß und sie ungeschützt dem Anblick der Menschen preisgab.

 

Als Kind hatte sie versucht, ihrem Schatten zu entkommen, war immer wieder zur Seite gesprungen, flink, um ihn mit einem plötzlichen Schritt zu überlisten.

Unermüdlich sprang sie - aber vergebens.

Stets war sie im Bann ihres Schattens geblieben, berührte ihn, vermochte nicht, sich zu lösen.

Schattengefangene war sie, Gefangene ihres eigenen Schattens und der Schatten der anderen, eingeschlossen in eine Schattenwelt, in der nur sie allein sich befand.

Plötzlich stockte sie, hielt mitten im Schritt inne, verwundert, erschrocken beinah.

Ihr Blick fiel auf den Schatten eines Kindes, der auf den sonnenbeschienenen Pflastersteinen lag und seltsam zuckende Bewegungen vollführte, begleitet von einem jauchzenden Ton, der dem Lachen ebenso nah wie dem Weinen war. Unaufhörlich sprang dieser Kinderschatten umher, ohne sich dabei jedoch wirklich fortzubewegen, versuchte vergeblich, sich selbst zu entkommen, einen grotesken, sich im Kreise drehenden Tanz vollführend.

Sie stand still, war erstarrt. Langsam, fast ängstlich, löste sie ihre Augen von dem Schatten und sah es an, das Kind.

Ihr Blick fiel in sein junges, sanftes Gesicht und klammerte sich daran fest, bemerkte jede Feinheit darin, jede Wölbung unter der glatten Haut, jede der noch so winzigen Farbschattierungen, die ihre Netzhaut berührten, etwas vollkommen Neues, nie Gesehenes.

Hineintauchen wollte sie, hinein in dieses Gesicht, es von Grund auf erforschen und sein Wesen in aller Tiefe begreifen.

Das Kind, als hätte es ihre Anwesenheit gespürt, wandte die Augen von der Straße, auf der sein Schatten lag, und erwiderte ihren Blick.

Ein paar Augenblicke lang sahen sie sich an, standen beide stumm, in einer ungewöhnlichen Lage verharrend, als wären sie mitten in der Bewegung zu Stein erstarrt.

In den Augen des Kindes sah sie deutlich das Abbild des Himmels, der sich darin spiegelte und nun zum ersten Mal ihr Bewußtsein erreichte.

Wieviel mehr liegt doch in diesen Augen als in dem matten Abglanz auf dem Asphalt, dachte sie, diesem hohlen, toten Schatten, der grau ist, nichts als grau, verschlungenes Licht.

Dann, wie erwachend, wandte das Kind sich ab, ganz beiläufig und ohne den Ausdruck des Gesichtes zu verändern, begann wieder, jauchzend sein unterbrochenes Spiel fortzuführen.

Sie starrte es noch kurz an, dann drehte sie sich um und ging schlendernd weiter.

Ihr Schatten folgte ihr lautlos, hüpfte behende über den Randstein hinweg und bog sich an einer Hausmauer, verblasste wie das Licht der Sonne, die ihre Augen staunend verfolgten, während sie sich immer weiter auf den Horizont herabsenkte.