3. Preis:
Lydia Scherenzel, 16 Jahre, Schiltern (NÖ)

Ich bin angekommen

Heute ist Montag. Montag im Frühsommer. Der Morgen noch kühl vor dem offenen Fenster, zaghaft, langsam dämmernd. Die Läden klappern leise im Wind, ihr Weiß ist farblos, von undefinierbarem Grau. Vorsichtig streichen die ersten Sonnenstrahlen über die Landschaft, tasten sie ab wie gestaltlose Finger, streifen mein Gesicht. Rötlich. Ich liege wartend, umfasse noch einmal die Konturen des Zimmers mit den Augen, die sich langsam vom Schwarz der Nacht abzuheben beginnen. Vor dem Bett mein Rucksack, klobig und groß, ein Fremdkörper in der sonst so vertrauten Umgebung. Abreisebereit. Still harre ich dem Klingeln des Weckers, das einen Moment lang schneidend die Luft erfüllt, schlüpfe dann aus dem Warm der Decke in die Morgenluft, um fröstelnd das Gewand überzustreifen, das bereits wartend auf dem Sessel liegt, achtlos hingeworfen. Die Stiege knarrt unter meinen Füßen, wie immer. In der Küche bereits Licht, vermischt mit Kaffeeduft, meine Mutter am Tisch, ihre Hände um eine große weiße Tasse geschlossen, seltsam bleich. Als sie mich erblickt, schenkt sie mir wortlos Kaffee ein, erhebt sich dann, um ihren Frühstücksteller in die Abwasch zu stellen. Ihre Bewegungen sind gewohnt: alltäglich. Nichts Außergewöhnliches haftet an ihnen, alles ist wie immer, der Raum, das spärliche Licht darin, der Tisch und die Wände mit den bunten Bildern darauf. Nur in Mutters Augen liegt Ratlosigkeit, gepaart mit einer Trauer, die bedingungslos ist. Wissend. Wir schweigen uns an, finden die Worte nicht, um diese neue, fremde Stille zu durchbrechen, die sich über den Morgen stülpt. Mein Blick tastet die Furchen der Wände ab, schweift über die Möbel und Pflanzen hinweg, hier und da innehaltend. Hin und wieder der baumelnde Rest einer Spinnwebe, kleine beige Löcher im weißen Anstrich der Wand, das unmerkliche Summen des Kühlschranks, das sich der Stille fügt. Alles ist wartend, jeder Augenblick nur ein Vorgefühl auf den nächsten, bald kommenden Moment des Abschieds. Die blaue, tönerne Uhr schneidet Sekunden aus der Ewigkeit, die tickend zu Boden fallen, in beständigem sich drehendem Takt. Angst beschleicht mich plötzlich, das Verstreichen der Minuten ist drohend, die Zeit flieht. Aus den Wänden quillt die Erinnerung an jeden hier zugebrachten Moment, jedes kleinste empfundene Gefühl, vergessen geglaubt und doch noch lebendig. Meine Mutter immer noch schweigend, ihr Blick im Kaffee versunken, tief tauchend. Mein Atem erfüllt von braunem Duft. Weiterhin Warten. Der Zeiger der Uhr fällt: Zeit, zu gehen. In Mutters Gesicht steht Trauer, als sie mich wortlos umarmt, ihre Arme umspannen meinen Rücken und drücken mich an sich mit einer Wärme und Selbstverständlichkeit, die mich noch einmal Kind sein läßt, aller bereits verflossenen Jahre zum Trotz. Wir benötigen keine Worte, alles ist bereits gesagt, ihre Augen den meinen ähnlich, dieselbe Sprache sprechend. Sie begleitet mich zum Bahnhof. Alles plötzlich seltsam schnell, die Schnalle des Rucksacks, die klickend einschnappt, dröhnend die Tür im Schloß, dann Fahrt im Morgennebel, belanglose Worte durch die Stille, die sich verlieren und vergessen die Straße säumen. Warteschlange vor dem Fahrkartenschalter, ein blaßoranges Papier in meiner Hand, auf dem ein unbekannter Name steht, fremder nie gesehener Ort. Eine letzte hastige Umarmung meiner Mutter, dann umfängt mich das Rostrot des Zuges, setzt sich ächzend in Bewegung. Ihre winkende Gestalt auf dem Bahnsteig wird kleiner und kleiner, schrumpft zu einem Punkt zusammen, bis sie gänzlich verschwindet, und verleiht meiner Abreise eine seltsame Endgültigkeit, die im Kontrast steht zu der Gleichgültigkeit, die mich erfüllt. Alles ist unwirklich, traumhaft, geschieht außerhalb meiner selbst, als wäre es nicht ich sondern eine andere, die auf dem karierten Rot der Zugbank sitzt und den Blick über die Wiesen, Felder, Hügel und Wälder gleiten läßt, die das Zugfenster aus der Landschaft schneidet. Darüber ein kleines Stück blauen Himmels, versteckt hinter schmierigem Glas. Versunken in das Rattern der Räder sitze ich stumm, bewege mich kaum, nehme die Zeit nicht wahr. Angenehmes, gleichmäßiges Geräusch, leise an- und abschwellend, unterbrochen nur von den Spalten zwischen den einzelnen Schienensträngen und den Momenten des Halts an einem der unzähligen Bahnhöfe. Kurzes Schuhegetrappel und Stimmengewirr, drängende Menschen am Gang, dann weiter, gemächlich schneller werdend, beständig. Mein Blick fällt aus dem Fenster ohne Halt zu finden, verliert sich in der Weite der Landschaft. Schlaf mit offenen Augen, weder wachend noch träumend. Meine Gedanken weit fort, undurchsichtig, unfaßbar. Irgendwann erwache ich, vorsichtig die Augen öffnend. Es muß bereits Mittag sein. Langsam kriecht der Hunger in meinen Bauch, vertrautes ziehendes Gefühl im Magen, das sich verdichtet und zum Stechen wird, als wolle es mich durchlöchern. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zu den Broten in meinem Rucksack, die meine Mutter mir fast gewaltsam eingepackt hat, heften sich daran fest wie an einen Rettungsanker, der in greifbarer Nähe vor mir liegt. Anstatt ihn zu ergreifen reiße ich ihn jedoch los um ihn weit fortzuwerfen, so weit, daß meine Gedanken ihn nicht mehr erreichen können. Ich darf nicht essen. Nur nicht. Der Apfel vom Morgen genügt. Weitaus. Ich zwinge mich, weiter aus dem Fenster zu blicken, bleib still, ganz still, rühr dich nicht. Hunger ist gut.

Als ich aus dem Zug steige, ist es bereits später Nachmittag, und die letzten Strahlen der Sonne streichen über die vor mir liegende Stadt. Ich werde morgen weiterfahren. Der Bahnhof liegt bereits hinter mir, ich stehe am Rand eines kleinen Platzes, in den eine Reihe kleiner Straßen und Gassen mündet. Langsam wandere ich über die Pflastersteine, die noch leicht schimmern im Sonnenlicht, bis ich die Mitte des Platzes erreicht habe und stehenbleibe. Ein paar Menschen hasten vorbei, und ihre Schritte hallen von den Steinen wider. Zwanghaft, ohne daß ich es verhindern kann, fällt mein Blick auf das Plakat, das die rechte Seite des Platzes ausfüllt. Es ist eine Werbung für Unterwäsche, auf dem ein Mädchen abgebildet ist, ein Mädchen so dünn, das es durchscheinend wirkt, das Gesicht zu einer Maske geschminkt, immerzu lächelnd. Seine Beine sind lang und dürr, unnatürlich lang: Knochenbeine. Ich starre es an, fühle meinen Körper, der dem des Mädchens so wenig gleicht, ein unförmiger häßlicher Klumpen, zu falsch für diese Welt. Ich möchte ihn ablegen wie eine Hülle, möchte ihm entfliehen, und weiß doch, das es unmöglich ist, immer wird er mich einholen, immer mich begleiten, ewiger verhaßter Feind. Nur bezwingen kann ich ihn, seine Schreie ungehört verhallen lassen im höhnischen Rot der versinkenden Sonne, ihn aushungern, bis er sich meinem Willen fügt, ohne ihm je gerecht werden zu können. Mit schnellem Schritt gehe ich weiter, fast laufend. Mir ist kalt, und Frösteln erfaßt mich. Ich sehe mich um und halte einen der Fußgänger an, um nach einem Zimmer zu fragen. Noch einmal Schritte, das Gewicht des Rucksacks auf den Schultern, eine dunkle Gasse, Suchen zwischen den Hausnummern, bis ich eine braune Holztüre finde und zaghaft eintrete. Auf meine Frage führt man mich über verblichene Treppen in einen kleinen Raum. Ein fleckiges weißes Waschbecken, Spiegel Nachtkästchen, Bett. Müde lasse ich mich hineinfallen und schlafe augenblicklich ein.

In der Nacht habe ich einen Alptraum, der mir so wirklich erscheint, daß ich glaube, wach zu sein: Wieder stehe ich auf dem Platz und starre das Plakat an, das plötzlich zu wachsen beginnt, bis es mein gesamtes Blickfeld ausfüllt, eine immer größer werdende Schicht mit blauem Hintergrund, die sich über mich stülpt und mir den Atem nimmt. Das lächelnde Mädchengesicht dehnt sich aus zu einem hämischen Grinsen, das auf mich herabglotzt mit tief eingefallenen Augen und Backenknochen, die sich deutlich unter der Haut abzeichnen, übertrieben geschminkt. Plötzlich löst es sich von dem Plakat und nimmt Gestalt an, gefolgt von einer Reihe anderer Mädchen, die ihm gleichen und sich auf dem Platz versammeln, wo sie einen großen Halbkreis formen, in dessen Mittelpunkt ich stehe. Ihre Glieder sind durchscheinend und zart und ihre Augen leer, doch sie starren unverwandt meine Beine an, nichts als meine Beine, immerzu, während die ihren länger und länger werden und nach mir zu treten beginnen, mit ihrer makellos braunen, gespannten Haut, die nur mühsam die Knochen darunter verbirgt. Sie zielen nach meinem Bauch, den der Hunger wachsen läßt, größer und größer, ihre Tritte sind hart und schmerzhaft, obschon sie nur die verzweifelte Leere treffen, die mich erfüllt. Auf einmal habe ich das Gefühl, daß ich selbst es bin, die mich tritt, ich selbst in Gestalt dieser Knochenbeine, die das Leben nicht zulassen, so dünn, so durchsichtig. Ich kann die Blicke der Mädchen fühlen, möchte fortlaufen, doch meine Beine zerbrechen darunter, ich stürze zu Boden, doch ich spüre den Aufschlag nicht, sehe nur ihre leeren, ausgehungerten Gesichter, die plötzlich zu lachen beginnen, ein schallendes, verzweifeltes Lachen, dann kommen sie auf mich zu, immer näher, immer näher. Das grinsende Maskengesicht beugt sich über mich und ein Schrei fällt aus seinem Mund, der sich mit meinem eigenen vermischt, gellend und groß schallt er über den Platz, trifft auf die Leute, die vorübergehen ohne ihn wahrzunehmen. Ihre Ohren sind taub und ihre Augen blind, sie sehen nichts, hören nichts. Ich erhebe mich und beginne zu laufen, um dem Gesicht zu entkommen, das immer noch schreit, und weiß doch, ich kann es nicht, da es mein eigenes ist.

Schweißgebadet erwache ich, fühle nach meinen Beinen unter der Decke, die weich sind, viel zu weich, obwohl ich die Knochen darunter spüren kann. Vor dem Fenster bereits Tag. Ich stehe auf um es zu öffnen, und Morgenkühle weht mich an. Mein Abbild im Spiegel: häßlich, unförmig. Nicht zart. Ich möchte es nicht sehen, und doch stelle ich mich davor wie jeden Morgen, ein paar endlose Minuten lang, verzweifelt. Zerschlagen möchte ich es, dieses Bild, hineintreten und es klirrend zerfallen sehen in silberne Scherben. Unendlich viele, winzige Scherben, die sich nie wieder zusammensetzen lassen.

Mein Frühstück: Ein Apfel. Nicht zu groß. Wie immer. Wann es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Zu lange her ist die Zeit, in der ich noch essen konnte wie alle Menschen um mich herum. Essen ohne nachzudenken. Ohne zu zählen. Die Erinnerung daran ist verblaßt, zu fern, um noch wahr zu sein. Warum? Mutters Frage, ihre besorgten Augen, die Hilflosigkeit darin. Nein, Mama, hab keine Angst. Es geht schon. Nicht so schlimm. Ich bin auch schon satt.

Der Morgen ist frisch, kühl legt sich die Luft auf mein Gesicht, als ich das Zimmer verlasse. Ich gehe den Weg zurück, den ich gestern gekommen bin, die kleine Gasse entlang, dann weiter, bis in die Straße, die auf den Platz mündet. Das Plakat ist fort. An seiner Stelle nun eine Autowerbung, rot-schwarz. Unweit von mir steht ein Kind in weiß: Es trägt ein Kostüm und steht auf einem Sockel, und das weiß bemalte Gesicht lächelt unaufhörlich. Es ist das traurigste Lächeln, das ich je gesehen habe. Lange stehe ich da und blicke es an, schaue in die großen braunen Augen, die dem Lächeln spotten und voll Melancholie sind. Um den Kopf hat es eine Art Turban gewickelt, der die Haare zur Gänze verdeckt, ebenfalls weiß, wie alles an ihm. Die gesamte Gestalt des Kindes scheint sich nicht zu bewegen, stillzustehen, nur die Augen wandern hin und her, durchdringen die vorbeigehenden Menschen. Sie sehen es kaum, beschleunigen nur unmerklich ihren Schritt und schlagen die Augen nieder, um nicht in sein weißes Antlitz blicken zu müssen. Weiß wie Unschuld. Es gelingt mir nicht, mich abzuwenden, ich stehe bloß still und blicke in dieses Kindergesicht, das so voller Trauer ist, als sei es hunderte Jahre alt. Irgendwann rempelt mich jemand an und reißt mich aus meiner Starre. Ich werfe ein Paar Münzen in das Käppchen, das vor dem Sockel liegt, die größten, die ich besitze, und ich fühle mich schäbig. Schäbig und ein bißchen schuldig. Langsam gehe ich weiter, stockend, bis ich den Bahnhof erreiche und nach dem nächsten Zug frage. Bald werde ich da sein.

 

Ich bin angekommen. Wieder ein Bahnhof: Einer von vielen. Draußen die Stadt: groß und fremd, in der Luft der Geruch von Meer, Autolärm, pfeifender Wind, große alte Häuser, der sich darüberspannende Himmel, blau, darin Fetzen von grau, eine seltsame Spannung in der Luft, wie die Ankündigung eines Gewitters. Unschlüssig stehe ich unter den Säulenbögen des Bahnhofstores, alles plötzlich so sinnlos, die Frage, was ich hier eigentlich will, als Antwort nur ein zerknitterter Zettel in meiner Manteltasche. Ein fremder Name, eine Straße, die ich noch nie betreten habe. Ich weiß nicht warum, vielleicht will ich nur den Moment des Handelns hinauszögern, jedenfalls erkundige ich mich stockend nach einem Bus, der zum Hafen fährt. Fahrt in schwarz und orange, Stimmen, die ich nicht verstehe, immer wieder Halt, ein Hauch kühler Luft durch geöffnete Türen, schließlich steige ich aus, Wind im Gesicht. Unmittelbar vor mir das Meer, darüber die Sonne, die sich hineinzustürzen scheint, nur mehr wenige Zentimeter trennen sie von der wogenden Wasseroberfläche, auf der ihre Strahlen rötlich auf und ab tanzen. Ich setze mich nieder auf einem der schwarzen Pfeiler, an denen die Schiffe vertäut werden, und endlich spüre ich die Last des Rucksackes auf meinem Rücken nicht mehr. Die Boote schaukeln im Wind in bunten Farben, Mäste, Kajüten in den verschiedensten Größen, manche nur Ruderboote, die bereits im Wasser versinken. Darüber flatternd die Möwen, ihr krächzendes Geschrei, Flügel im Rot der Sonne, die nun einem glühenden Ball gleicht, der auf dem Wasser entlangrollt. Ich sitze und warte, sehe den Möwen zu, den dunklen Flecken, die der Wind aufs Wasser malt, der Sonne auf ihrer Bahn, ihrem immer kleiner werdenden Kreisbogen am Horizont. Ihre Farbe verwandelt sich von rosa in glühendes rot, das über den Himmel kriecht, bis es langsam zu verblassen beginnt. Ich sehe ihr nach, bis sie ganz verschwunden ist, dann erhebe ich mich und schlendere zur Bushaltestelle zurück.

Das Haus liegt am Stadtrand, umgeben von einem großen verwilderten Garten, der sich an seiner Rückseite bis zum Meer hinab erstreckt. Es sieht ein wenig aus wie ein altes Bauernhaus, Türen und Fenster sind klein und doch zierlich, die Rahmen aus hellem Holz, umrandet von Mauern aus grobem Weiß. Ich trete auf die Türe zu und starre das Schild an, das daneben an der Wand angebracht ist, dann den Zettel in meiner Hand, auf dem, kaum noch lesbar unter dem Schweiß meiner geballten Faust, die Adresse steht. Es stimmt alles, die Straße, die Hausnummer, und der Name meines Vaters. Mein Herz beginnt plötzlich laut zu klopfen, obwohl ich mich dagegen wehre, mein Kopf dreht sich, mir schwindelt. Ich halte mich fest an der Mauer, die angenehm rauh ist, versuche, mich zu beruhigen, statt dessen plötzlich Gedankenströme in meinem Kopf, Zweifel, was mache ich denn bloß hier, ich gehöre nicht hierher, man wird mich auslachen, ich möchte fort, nur fort, nicht wissen, was hinter der Tür auf mich wartet, nicht sehen müssen. Nichts sehen. Ich fühle mich fremd, fremder noch als einfach nur eine Fremde in einem fremden Land. Langsam streckt sich meine Hand nach dem Klingelknopf aus, hält dann zitternd inne, nur wenige Millimeter davon entfernt. Warum laufe ich nicht weg, fort bis hinunter zum Meer, um mich hineinzustürzen und für immer darin zu versinken ...

Das Läuten der Klingel kommt schrill und plötzlich, ich fühle, wie ich erstarre, den Blick unabwendbar auf die Tür gerichtet, wartend, bereit, mich umzudrehen und zu laufen. Oft habe ich ihn mir vorgestellt, wie er die Tür öffnen wird: meinen Vater. Sein Bild ist verschwommen, alles, was ich von ihm habe, ist ein altes Schwarz-weiß-Foto meiner Mutter, das sie mir einmal zeigte. Ich habe ihn nie gesehen, aber schwarze Haare muß er haben, dessen bin ich mir ganz sicher. Die Frau, die mir öffnet, ist blond. Ihre blauen Augen blicken mich freundlich an, doch ich bin stumm, stumm wie ein Fisch, kein Wort kommt über meine Lippen, es ist, als wären sie zugeklebt, dazu verdammt, für immer zu schweigen. An diese Möglichkeit habe ich nicht gedacht: daß nicht er mir öffnet sonder irgendjemand anderer, daß es noch jemanden gibt in diesem Haus außer ihm. Die Frau sieht mich abwartend an. Warum ist sie blond, sie kann doch nicht einfach blond sein, nicht einmal wasserstoffblond, nein, ganz natürlich blond, ihre Haare fallen ihr bis über die Schultern herab, so blond, noch dazu ist sie blauäugig, das kann doch nicht sein. Ich weiß nicht, warum mich das so verstört, alle gedanklich so oft gesagten Sätze sind plötzlich weg, in meinem Kopf nichts als schreckliche Leere, dazu das Wissen, daß sie blond ist. Sie sagt ein paar Worte, die ich nicht verstehe, lässt dann ihren Blick meinen Körper entlangschweifen, bis er hängenbleibt an dem Rucksack auf meinem Rücken. Was ich denn wünsche, fragt sie, nun englisch, immer noch freundlich, und hinter ihr taucht ein weiteres Gesicht auf, diesmal kurzhaarig und braun, immerhin. Ich stammle den Namen meines Vaters hervor, Fabio, er wohnt doch hier? Natürlich, kommt sofort die Antwort, nur ist er im Moment nicht hier – wer ich denn eigentlich sei? Er ist nicht hier. Nicht hier. Wie ein Echo hallt es in mir nach, immer lauter, die Worte wachsen, werden größer und größer, ein Block, der sich vor mein Bewußtsein schiebt. Das kann nicht sein, darf nicht sein, und war doch immer so, vom Augenblick meiner Geburt an. Er war nicht hier. Ist nicht hier. Wird nicht sein. Nie. Ich möchte weinen, Tränen, die ich 18 Jahre lang in mir aufbewahrt habe, irgendwo in einem fest verschlossenen, unbekannten Winkel, langsam tropfen sie in meine Augenhöhlen, verschleiern meinen Blick, zwei winzige Tränen. Das blonde Gesicht der Frau verschwimmt, verzerrt sich, doch sie lächelt immer noch. Warum wird sie nicht böse, warum schickt sie mich nicht fort, fort von hier, wo ich nicht hingehöre, ihre Freundlichkeit beschämt mich, ich möchte weggehen und um Entschuldigung bitten, sagen, daß ich mich geirrt habe – wer ich denn sei? Ich bin Fabios Tochter, erwidere ich. Nichts weiter. Mehr ist nicht zu sagen, mehr auch könnte ich nicht hervorbringen, denn ich fühle mich mit einem Mal müde, schrecklich müde, aber erleichtert. Ruhig. Immer noch bin ich sicher, daß sie mich gleich fortschicken wird, es tut mir leid, aber das kann nicht sein, sie müssen sich irren, er hat keine Tochter – statt dessen ruft sie aus: Ilona! Und umarmt mich plötzlich, ich spüre ihre Wärme an meiner Haut, eine angenehme, ehrliche Wärme, dann schiebt sie mich ins Haus, irgendjemand nimmt mir den Rucksack ab, aber ich nehme nicht wahr, wer es ist. Warum kennt sie meinen Namen, denke ich nur, das ist unmöglich, woher weiß sie, daß es mich gibt, während ich noch nie von ihr gehört habe... Plötzlich bin ich umgeben von Menschen, die durcheinanderreden in einer Sprache, die ich nur bruchstückhaft verstehe: Der Sprache meines Vaters. Mehrmals werde ich umarmt, Kuß auf die Wangen, rechts und links. Lachende Gesichter schreien mir Worte entgegen, deren Sinn mir unverständlich ist, ich kann nichts erwidern, nehme kaum den Raum wahr, in dem ich mich befinde, sehe nur, daß um mich her Menschen sind, und immer noch kann ich nicht glauben, daß sie mich nicht fortschicken. Jemand zieht mich in einen Raum nebenan, das Stimmenknäuel schiebt sich hinter mir her und gruppiert sich um den runden großen Tisch in seiner Mitte. Man drückt mich auf einen Stuhl und bietet mir auf Englisch Tee an, als ich wieder nicht verstehe, ich nicke nur, denn immer noch sind alle mir bekannten Worte unerreichbar fern. Es ist, als müßte ich von neuem sprechen lernen um diese Welt zu verstehen, die nur ein Traum sein kann, nichts als ein schöner verzweifelter Fiebertraum, an dessen Ende unweigerlich das Erwachen auf mich wartet. Plötzlich sitzt das braunhaarige Gesicht neben mir, es ist ein Junge, groß und mager, seine Beine sind unter dem Tisch versteckt, doch sein Gesicht hebt sich mit einem Mal ab von der Fremdheit der mich umgebenden Menschen. Es blickt mich lächelnd an, fast grinsend, dabei trotzdem schüchtern. Hai fame, fragt er auf Italienisch, hast du Hunger. Ich spüre, wie ich mich verkrampfe. Die Leere in meinem Magen kehrt wieder, schneidet ein Loch in meinen Bauch, das stetig wächst und mich auszuhöhlen droht. Nein danke, sage ich gewohnheitsmäßig, no grazie. Ich spüre den Schmerz nicht mehr. Nicht daran denken, nur warten, daß er verschwindet, Hunger geht vorbei, wenn ich nur fest genug daran glaube.

Die Frau am anderen Tischende ist jedoch bereits aufgestanden, stellt eine Schüssel mit Trockenobst und Schokolade vor mich hin. Ich bemerke sie erst jetzt, ihr Gesicht ist faltig, die Haare weiß, ungefärbt, und ihre lebendigen Augen blicken mich aufmunternd an. Mangia pure! Iß nur. Es ist ganz einfach, du brauchst nur die Hand zu heben, nach dem Essen zu greifen und sie zum Mund zu führen, dann kauen und schlucken, etwas ganz Alltägliches, sieh nur, alle Menschen machen es, du brauchst keine Angst zu haben, es ist ganz normal. Ich darf nicht, mein Bauch ist bereits voll, viel zu voll. Aber es ist schon geschehen, die Schokolade süß in meinem Mund, bittersüß. Ich fühle mich elend, frage brüchig nach der Toilette, la, a sinistra, dort links, schnell stolpere ich hinein, verschließe die Türe hinter mir. Langsam sinke ich auf die Knie und beuge mich nach vorn, mein Finger kratzt im meinem Hals, ich spucke ihn aus, dann wieder, und wieder mißlingt es, du mußt tiefer hinein, noch tiefer, vergiß nur nicht, die Spülung zu ziehen. Es klopft an der Türe, klopft so laut, daß ich zusammenzucke, ja, ich komme gleich. Wieder der runde Tisch, eine Reihe fremder Gesichter, die mich erwartend anblicken. Es ist mir unmöglich, meine Lippen zu Worten zu formen, ich starre sie nur an, immer nur starre ich. Wie ich mich schäme. Vor dem Fenster das Meer: Dunkle, ferne, beruhigende Masse. Ich lasse mich zurück in meinen Sessel sinken, irgendwoher kommt sogar ein Lächeln, das sich zaghaft in mein Gesicht schleicht. Stai male, fragt jemand, ist dir nicht gut? Doch, doch, es ist nichts, wirklich nicht. Immer noch mein Lächeln, unbewußt, fast eingefroren. Das blonde Gesicht kommt auf mich zu und lacht mich auf Englisch an: Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Stella, ich bin Fabios Frau. Seine Frau, natürlich. Ihre Hand weist auf den braunhaarigen Jungen, unser Sohn Giulio, dann auf die weiße alte Frau, Fabios Mutter. Meine Großmutter, denke ich und blicke in ihr Faltenlächeln, das näherkommt und sich über meine Schulter beugt, als sie mich umarmt. Ihre Haut ist rauh und warm, und es haftet der Duft von Oliven an ihr. Stellas Hand zeigt weiter, Dario, Fabios Vater: Ein zahnloses Lächeln fliegt mir entgegen, aus großen faltigen Augen. Und hier unsere Tochter Alexia, die Jüngste, erst acht Jahre alt. Sie ist ebenfalls blond, wenn auch nicht so hell wie ihre Mutter, sondern mit einem an rot erinnernden dunklen Glanz. Gedankenwirbel drehen sich in meinem Kopf, rasend schnell, lassen mich schwindeln. Ich habe einen Bruder und eine Schwester, halb zwar, aber was heißt das schon. Großmutter und Großvater. Eine Familie, die schon hier ist seit ich denken kann, und ich habe nichts davon gewußt, all die Jahre nichts gewußt. Nichts von dem Haus am Rande des Meeres, der Stadt an die es grenzt und den Stimmen darin. Nichts von meinem Vater. Ihr Lächeln spinnt mich ein, umnebelt meinen Blick, Schlaf kriecht in meine Glieder und senkt sich auf meine Augen, während die Konturen des Raumes und der Menschen unscharf werden und weiter und weiter von mir abrücken. Ich möchte schlafen, bringe ich hervor und vergesse dabei, daß niemand hier Deutsch spricht. Man versteht mich trotzdem, jemand nimmt mich am Arm und führt mich in einen kleinen Raum irgendwo in diesem Haus, das mir so groß erscheint. Nostra sorella austriaca e stanca, unsere österreichische Schwester ist müde, höre ich von fern, dann sinke ich in weiße Kissen und falle endgültig in den Schlaf.

Irgendwann in der Nacht erwache ich, erschrecke über die Fremdheit des Raumes, in dem ich mich befinde, besinne mich dann und sinke zurück in einen unruhigen Halbschlaf, in dem Traum und Erinnerung zu einem untrennbaren Ganzen verschmelzen. Erzählungen meiner Mutter, ihre Worte in meinem Ohr, dazu Bilder, die farbig auf und ab tanzen: Es war in Venedig, ein heißer Sommer voller Träume, und die Tauben liefen über dem Markusplatz. Sie wußte es, obgleich sie sie noch nie gesehen hatte, als sie allein aus dem Bahnhof trat, mit nichts bepackt als einem Rucksack und dem Wunsch nach einer neuen, allen Erwartungen entkommenen Freiheit. Er war fasziniert von ihrem Haar, das schön und goldbraun im Wind flatterte, um die Wette mit den Flügeln der Tauben, die sie kreischend umkreisten. Sie hat es mehrmals erzählt, laut und hell auflachend: Es waren meine Haare, die uns zusammenbrachten, stell dir nur vor, meine Haare! Ihre Haare also fingen seinen Blick, mehr noch als die scheinbare Ziellosigkeit in ihren Augen, die sie offen machte für die Welt, mehr auch als die Gleichgültigkeit gegenüber der Schaulust der anderen Touristen und ihre schlichte, unaufdringliche Kleidung. Er warf ihr Worte zu, wohlklingend und unverständlich, hinweg über die Stimmen ringsum, und sie fing sie auf mit einem Lächeln. Sein eifriges Bemühen, sie zu unterhalten belustigte sie, und so ließ sie sich führen über Brücken und Kanäle, mitten hinein in die vielen kleinen Gassen der Stadt. Bald schon glitten ihre Hände ineinander, und ihr Lachen hallte von den alten Mauern wider und verklang leise über dem Wasser, dessen Gestank sie nicht erreichte, so versunken waren sie in den Anblick des Mondes, der sich glitzernd darin spiegelte. Als die Nacht zur Gänze über die Stadt hereinbrach, suchten sie sich gemeinsam ein Zimmer. Es war nicht groß, sehr schlicht nur, doch das Mondlicht verzauberte es und ließ ihre erhitzten Gesichter strahlen in seinem weißen Licht.

Der Morgen kroch langsam herein, doch die ersten Sonnenstrahlen weckten sie sogleich aus ihrem kurzen Schlaf. Sie wußten beide, daß ein Zug sie bald für immer von ihm forttragen würde, zurück in ihre Heimat, es sei denn, sie entschiede sich zu bleiben, oder er begleite sie in die Ferne. Doch mit der Nacht war auch der Zauber erloschen, ließ nichts übrig als die Erinnerung und die nüchterne Gewißheit um den nahenden, endgültigen Abschied. Ihre beiden Leben würden weiterlaufen wie bisher, in zwei verschiedenen Städten zweier verschiedener Länder, parallel vielleicht, doch nie sich kreuzend. Es folgten ein paar wenige Briefe, geziert mit der Erinnerung anfangs, dann langsam verebbend. Der letzte enthielt die kurze, sachliche Notiz, daß sie schwanger sei.

Ich erwache früh. Die Nacht ist finster, dann dämmrig. Das Haus so groß. Sie hat es mir nur einmal ganz erzählt, was geschah am Tag meiner Entstehung. Ich war elf, glaube ich, zu jung, um nachzufragen, oder zu erschrocken. Ich hatte mich an ihr Schweigen gewöhnt, das nur manchmal von einer beiläufigen Bemerkung durchbrochen wurde: ihre Haare. Der Mond über Venedig. Ich sehe sie noch deutlich vor mir: Ihr gelbes Sommerkleid mit den weißen Punkten, an dem der Knopf unter der Brust zu klein war, da sie den alten verloren hatte. Ich hatte ihn als Kind abgerissen, und ständig mußte ich diesen zu kleinen Knopf nun anstarren, während ihre Worte auf mich herabsanken. Ihre zarten Hände fuhren geschickt über Teller und Tassen, auf denen weißer Schaum tanzte, und ihre langen Haare fielen strähnig in ihr Gesicht. Ich kann mich kaum mehr an ihre Worte erinnern, und dennoch weiß ich genau, was sie mir erzählte. Venedig muß schön sein, dachte ich. Die Tauben auf dem Markusplatz. Ihre Haare im Wind. Habe ich nie nach ihm gefragt, wollte ich später wissen. Natürlich, war ihre Antwort, und dann erzählte sie mir, wie er aussah, mein Vater: Groß und schwarzhaarig, mit dunklen feurigen Augen und einer Stimme, die immer zu singen scheint. Wo er sei? Weit fort, mein Kind, in dem Land, wo immer die Sonne scheint und die Luft nach Brandung riecht. Mein Vater ist ein Märchenprinz. Schön, geheimnisvoll und unerreichbar. Märchenprinzen kann man nicht haben, Kind. Ja nicht einmal anschauen. Sie sind immer weit fort, denn die Welt ist voller Abenteuer.

Die Sonne liegt warm auf meinem Gesicht. Angenehm. Ich blinzle zum Meer hinaus: Es ist glatt und blau, eine Spur dünkler als der Himmel, der sich darüber wölbt. Irgendwo im Haus höre ich Schritte. Jemand zieht eine Spülung, dann knarrt eine Tür. Ich bin nicht allein. Seltsam. Vielleicht ist mein Bruder schon wach, und meine Schwester. Oma und Opa. Schlaft ihr noch? Schnell schlüpfe ich in mein Gewand, die Freude treibt mich hinaus, sie ist plötzlich da, unerwartet. Ich bin wach, möchte ich rufen, hört nur - an der Tür mache ich Halt. Was werde ich tun, heute, morgen? Mein Vater ist fort. Ich kann nicht bleiben, bin doch nur eine Fremde. Der Boden knarrt, als ich darüberschleiche, und schreckt mich. Mein Bruder lächelt mich an: Guten Morgen! Sein Deutsch ist brüchig, und trotzdem vertraut. Die braunen Haare stehen in der Luft. Nostra sorella si e svegliata! Unsere Schwester ist wach. Buongiorno! Hai dormito bene? Es schallt durcheinander, doch ich verstehe sie. Ja, danke, ich habe gut geschlafen. Und wieder: Hast du Hunger? Die Frage wie ein Schlag ins Gesicht, der den Traum zerschlägt und mich zurückholt in meine alte Wirklichkeit. Ich bin eine Gefangene in mir selbst, gefangen in meinem Körper, mit meinem Körper. Der Schlüssel ist verloren, lange schon bevor die Tür zuschlug, versunken, auf den Grund des Meeres vielleicht. Ich bin zu schwach, um zu tauchen. Nur schwimmen kann ich, langsam schwimmen und mit meinen Tränen das Wasser nähren. Werde ich untergehen? Es macht mir nichts aus.

Nochmals: Hai fame? Nicht sehr, sage ich. Ein Apfel wäre schön. Una mela. Man stellt Äpfel und Bananen vor mich hin. Auch Kekse. Ich blicke sie nicht an. Langsam kaue ich. Nur nicht zu schnell, dann fühlst du den Hunger. Der Apfel ist gut: süßsauer. Fabio kommt übermorgen, bis dahin zeigen wir dir die Stadt, wenn du willst. Er ist mit einer Theatergruppe auf Reise, sie spielen auch hier. Wir werden es uns ansehen. Aha. Mein Vater, der Märchenprinz: Ein Schauspieler. Aber ich kann bleiben. Hier - bleiben. Zuhause?

Die Tage vergehen schnell: Sonne und Meer, Fahrt in Orange zur Stadt hinunter, ein und aus durch Autobustüren. Nein, du kannst nicht in der Mitte einsteigen, da müssen die Leute hinaus, nur vorne und hinten. Alles muß man mir erklären, ich bin ungeschickt, weiterhin fremd, und doch: näher. Man lächelt mich an, denn ich kann es nicht wissen. Die Sprache ist wie Melodie in meinem Ohr, verschlungene, seltsame Wortreihen, über die die Stimmen hoch und niedergleiten. Man spricht langsam mit mir. Ein wenig verstehe ich schon. Im schlimmsten Fall lieber Englisch, das ist sicherer. Aber nicht zu oft. Die Stadt ist voller Autolärm, der über die Straßen hetzt, und trotzdem auf eine seltsame Weise ruhig: Überall riecht es nach Meer. Ich sehe Kirchen und Dome, das Theater, die Oper. Mein Bruder bringt mich zu den Felsen hinter dem Strand, auf deren Spitzen die Sonnenstrahlen tanzen und zitternde Schatten auf die Wellen werfen. Die Möwen umkreisen uns kreischend, manche auch sitzen ruhig auf den Felsen, stumm wie wir. Ich möchte nicht sprechen, denn es ist so schön, zu träumen. Ja, ich träume, muß träumen, doch ich will nie mehr erwachen, immer nur hier sitzen und dem Meer zusehen, das so viele Geheimnisse in sich trägt. Kennen Märchenprinzen das Meer, Mama? Oh ja, mein Kind, sie reiten darüber hinweg mit Pferden aus Sonnengold, und der Wind ist ihr Gefährte. Der Wind. Er fährt angenehm kühl durch meine Haare, berührt sanft meine Augen, die auf der Linie am Horizont ruhen, wo Himmel und Meer sich die Hand geben. Ich kann sehen, daß die Erde rund ist. Rund wie eine Murmel. Mein Bruder sammelt Federn für unsere Schwester, läuft barfuß den Strand entlang. Ich helfe ihm. Die kleinen weißen mag sie am liebsten, mit dem weichen Flaum am Rand. Sie wird sich freuen. Und lachen, auch für mich.

Vor dem Abend fürchte ich mich. Abends muß man essen, warm sogar. Alle sitzen um den runden Tisch im Wohnzimmer, zu dessen Fenster das Meer hereinblickt. Es schwimmt bereits in schwarzem Dunkel. Stella bringt dampfende große Töpfe und stellt sie vor uns hin. Wie gut das riecht ... Mein Magen verkrampft sich. Ich soll zuerst bekommen. Nur ganz wenig, bitte, bitte nicht viel, nur nicht. Man hört mich kaum. Ich starre meinen Teller an, auf dem ein unüberwindbarer Berg mir entgegengrinst. Buon appettito! Langsam tauche ich die Gabel ein, langsam zum Mund, langsam kauen. Wie in Zeitlupe. Es schmeckt gut, duftend und würzig. Nur nicht daran denken. Alle Augen richten sich auf mich, denn ihre Teller sind lange schon leer. Ob es mir nicht schmeckt? Doch, doch, sicher, mir ist nur ein bißchen schlecht. Das Kind ißt zu wenig, verstehe ich. Es geht schon. Ich lächle sie an. Morgen kommt Fabio. Abends.

Das Theater ist klein und rot. Rote Vorhänge, roter Teppich, rote Stühle. Das Licht ist spärlich, doch es blendet mich, denn wir sitzen ganz vorne. Weiß er, daß ich da bin? Er weiß es nicht, aber er wird sich freuen, sagen sie. Seine verlorene Tochter. Überall Raunen und Wispern, das verhalten im Saal hängt, das Falten von Mänteln, Schuhgetrappel. Das Licht erlischt, und warm schlägt das Dunkel über mir zusammen. Seltsam, ich bin nicht aufgeregt, dabei müßte ich es doch sein. Als der Vorhang fällt, kehrt die Fremdheit wieder. Ich gehöre nicht hierher, bin nur flüchtiger Gast, Zuschauer. Ich nehme das Stück kaum wahr, warte nur auf den Augenblick, in dem er erscheinen wird. Vater. Märchenprinz. Manchmal kommen sie doch, Mama, alle hundert Jahre, mit einem Pferd, das weiß ist oder fuchsbraun. Irgendwann sind auch hundert Jahre verstrichen. Stella berührt mich plötzlich am Arm, und unwillkürlich zucke ich zusammen. Er ist da. Ganz nah vor uns, nur wenige Meter entfernt, auf der Bühne. Du hast recht, Mutter: Er ist groß, und seine Haare sind schwarz, schwärzer als Tinte. Das Gesicht nicht mehr jung, aber sympathisch, die Furchen darin sind Lachfältchen, das sieht man. Sicher lacht er oft, nur jetzt nicht, denn jetzt spricht er auf die Frau vor ihm ein, die sich windet wie eine Schlange. Biegsam. Das also ist er: Mein Vater. Ein Fremder. Aber er spielt nur, Kind, er spielt nur. Alles ist Schauspiel.

Ich sehe ihm zu, seinen Bewegungen, die langsam und gleitend sind, höre seine Stimme, die angenehm tief in mein Ohr tropft. Die Zeit dehnt sich, scheint stehenzubleiben, und immerzu denke ich: Vater. So also sieht er aus, so also spricht er, so bewegt er sich. Nicht wie ein Märchenprinz. Märchenprinzen gehören in Bücher, Erzählungen erwecken sie zum Leben, um sie dann von der Wirklichkeit wieder verdrängen zu lassen ins Fabelreich der Buchseiten. Nur in der Phantasie junger Mädchen existieren sie noch, bis sie auch dort eines Tages zu Grabe getragen werden. Seltsam, die Fremdheit verliert sich nicht, wandelt sich langsam, vermischt sich mit Neugier. Auch ein wenig Angst, aber weit weg, im Hintergrund.

Der Vorhang fällt, ich klatsche automatisch, und als die Schauspieler sich verbeugen winkt Stella wild mit den Armen. Sieht er uns? Wir drängen uns durch die Menschen, die zum Ausgang strömen, bis zur Garderobe der Schauspieler. Stella zieht mich. Wie gut, daß ich ihre Hand fühle, ich könnte sonst nicht gehen, meine Beine sind widerspenstig. Immerzu stolpernd. Ich lasse mich ziehen. Plötzlich ist ihre Hand fort, und sie wirft sich in seine Arme, die sich ausbreiten wie zwei große Flügel. Ich stehe nur und warte, möchte unsichtbar sein, oder weit fort. Über dem Meer. Schwebend. Meine Beine wollen nicht stehen. Es ist hell, viel zu hell, überall Spiegel, das Rauschen von Stimmen, das mich einhüllt. Ich gehöre nicht hierher. Stella löst sich von ihm, schiebt mich vor, unerwartet schnell. Tua figlia. Deine Tochter. Seine Augen richten sich auf mich, weiten sich vor Erstaunen. Sie halten mich fest, sind dunkel und warm. Ich sehe seine Unsicherheit, sehe sein schwarzes Kostüm, seine Hände, die leicht zittern. Um uns plötzlich Stille. Die Zeit steht. Immer nur blickt er mich an, ungläubig, freudig und fragend zugleich. Meine Augen antworten schüchtern, doch ich schlage sie nicht nieder. Schuhe klappern, Stimmen rufen, Gesichter schweben vorbei, als er sich vorbeugt, ein Lächeln formend, mit der Andeutung einer Umarmung, die in der Luft hängenbleibt, da er es nicht wagt, sie zu Ende zu führen. Ich stehe still, meine Augen immer noch schauend, unter meinen Füßen der Boden, fest und kühl. Er streckt langsam die Hand aus, vorsichtig: Sie ist warm und feucht. Groß. Seine Lippen durchbrechen die Stille zwischen uns, bewegen sich: Benvenuto. Willkommen.

Heute gehen wir essen. Pizza. Willkommensmahl, für Fabio und für mich. Der erste gemeinsame Abend. Ich sitze ihm gegenüber, neben ihm Stella, strahlend. Ihre Haare schimmern blond. Schön. Quale pizza vuoi ?, welche Pizza möchtest du, fragt er und sieht mich an. Ich starre die Karte an, lieber keine, danke, no grazie, möchte ich sagen, aber er kommt mir zuvor, fängt sogleich an, mir Vorschläge zu machen: Pizza vegetariana, falls ich Gemüse möchte, oder einfach Margherita, das ist immer gut. Ja, nicke ich, aber ich werde nur ein Stückchen essen, ein kleines. Hunger habe ich nicht, nur mein Magen ist flau, leicht übel, nichts weiter. Die Pizza ist groß. Ich kann den Teller nicht sehen, der Rand bedeckt ihn zur Gänze, knusprig und braun. Mein Vater lacht, man prostet mir zu, Guten Appetit, auf Deutsch, nur für mich, immerzu lächelnd. Ich starre in meinen Teller, nein, ich darf nicht essen, kann nicht, und muß doch, kann nicht fort. Ich fühle ihre Augen auf mir ruhen, iß doch, jetzt Englisch, ich habe kaum Hunger, möchte ich sagen, wie immer, schon der Duft macht mich satt. Meine Hände bewegen sich langsam, beginnen zu schneiden, das Besteck liegt kalt darin, angsterfüllt starre ich sie an, ungläubig, doch sie ruhen nicht mehr. Langsam essen, ganz langsam,. Um mich her Gelächter, Stimmen, auch die seine, ich möchte zuhören, mitlachen, doch meine Gedanken kleben fest an den Bissen in meinem Mund, kreisen unaufhörlich, sperren mich in ein Korsett, das ich nicht zu durchbrechen vermag. Ständiges Zählen, was habe ich heute schon gegessen, wieviel darf ich noch, rechnen, dabei immer zuviel, viel zuviel. Ein Stückchen Teller blinkt mich an, wird größer. Beinahe ein Halbkreis. Vaters Gesicht ist braungebrannt, die Zähne weiß, er trägt jetzt einen blauen Pullover. Ti piace la pizza, schmeckt es dir. Ich erschrecke, lächle automatisch, stehe dann abrupt auf, um auf die Toilette zu hasten. Die Tür hinter mir versperrt: sicher. Ich übergebe mich nicht. Stattdessen mein Gesicht im Spiegel, bleich: Sein Mund. Auch die Nase, ein wenig. Und die Augen, dunkelbraun. Wieder die Gaststube, Vatermund, aus dem Worte fallen, rhytmisch, unaufhörlich. Manchmal begegne ich seinem Blick, und hinter seinem Lächeln liegt Unsicherheit, die er zu verbergen sucht und die ich trotzdem bemerke, da sie sich in meiner eigenen spiegelt. Ich bin müde, möchte schlafen, die Augen schließen. Träumen. Ihre Stimmen spinnen mich ein, schließen mich aus, ich bin stumm, die Welt ihrer Worte zu fern, um sie zu betreten, zu fremd. Morgen werde ich sprechen. Morgen.

Ich möchte dir etwas zeigen, sagt er, mitten in den Beginn des Tages hinein, der noch erfüllt ist von der Stille des gestrigen Abends. Ich frage nichts, nicke nur, und schon treten wir hinaus, die Tür knarrt, als sie zufällt, und frische Kühle umweht uns, getränkt mit den ersten, zaghaften Sonnenstrahlen. Wir steigen einen leichten Hang hinauf, schweigend, das Haus fällt zurück, wird kleiner und kleiner, bald wie ein Spielzeug, zufällig in die Landschaft geworfen, winzig. Ich höre seinen Atem, tief und gleichmäßig, meine Nase fängt für einen Augenblick seinen Geruch, bevor ihn der Wind davonträgt, würzig und süß. Vor mir seine Füße, langsame Schritte, die ein paar Erdbrocken abtreten und sie den Hang hinabstoßen, hüpfend, klein, sich drehend.

Die Bank liegt auf dem Gipfel des Hügels, unweit der Felsen, die tief unten im Meer versinken, inmitten einer Gruppe junger Bäume, deren Äste sich darüber verflechten und ein Blätterdach bilden. Wir setzten uns stumm auf das alte, verblichene Holz, umgeben von hellem Grün, in dem wispernd der Wind spielt. Die Sonne fächert es auf in unzählige Schattierungen, dünkler dort, wo die Blätter einander überschneiden, sonst heller, dazwischen die dünnen Striche der Äste, braun. Der Himmel ist blaßblau, kaum eine Wolke darin, klettert die Felsen hinab bis zum Meer, in dessen Blaugrün die Sonne sich spiegelt. Ich fühle, wie er nach Worten sucht, tastend, vorsichtig, die Luft verbirgt sie, macht sie durchsichtig, unsichtbar. Mein Vater, der Fremde. Ilona, sagt er plötzlich, spielt mit meinem Namen, wiegt ihn sacht hin und her, um ihn von allen Seiten zu betrachten. Ilona. Wie seltsam das klingt aus seinem Mund: fremd und schön. Er beginnt zu reden, langsam zuerst, dann fließender, in gebrochenem Deutsch, vermischt mit Englisch und Italienisch. Ich lausche seinen Worten, die sich zu einer seltsam holprigen Melodie zusammenfügen, wage dabei nicht, ihn anzusehen, lasse meinen Blick über den Erdboden wandern, das Grün entlang, bis er die Klippen hinab ins Blau fällt. Nur manchmal schaue ich auf, beiläufig scheinbar, leise. Seine Augen ruhen in der Ferne, verloren zwischen Himmel und Erde, um dann plötzlich wiederzukehren und mich von der Seite zu mustern, scheu, um nichts zu zerbrechen, das noch gestaltlos in der Luft hängt. Der Klang seiner Stimme ist stetig, formt sich zu Bildern, die in mein Bewußstsein dringen, ohne daß ich den eigentlichen Sinn seiner Worte erfasse:

Die Bank in der Herbstsonne, darauf das Laub, tanzend im Wind, knisternd unter seinen Schuhen, schmetterlingsgleich. Stellas Finger in den seinen, ihre Worte verschluckt von der Stille, unnötig mit einem Mal, überflüssig. Der Beschluß, hierzubleiben, geschlossen in stummem Einverständnis, erst später in Worte gekleidet. Das Haus war alt, als sie es kauften, brüchig, die Mauern nur mehr fleckenhaft weiß, das Dach voll von Löchern. Sie renovierten es mit nichts als der Kraft ihrer Hände, malten, kletterten, bauten und sägten, während ich im Kindbett schrie, weit fort im Ungewissen. Ein Traum nahm Gestalt an, geträumt in jenem Herbst auf dem Hügel, als der Wind den Geruch der Brandung die Felsen hinauftrug. Nun umwehte er das Haus, das sich langsam mit Leben füllte. Ihre Kinder lernten gehen im Angesicht des Meeres, begleitet vom beständigen Kreischen der Möwen. Meine ersten Schritte schluckte der Schnee, kalt und klein durchbrachen sie seine Kruste aus Eis, während die Kälte in der Luft meine Finger erstarren ließ. Hier ist der Winter ein Fremder. Schnee nur im Bilderbuch, stattdessen der Schaum auf den Wellen, wenn sie sich am Ufer brechen, kräuselnd weiß. Seine Erzählung ist sprunghaft. Die Bilder wandern ungeirrt der Zeit, über Jahre hinweg, durch Vergangenheit und Gegenwart. Ich höre ihm nur zu, unterbreche ihn nicht. Irgendwann verstummt er, und in die neuerliche Stille hinein werfe ich die Frage, die ich lange schon fürchte, und die doch unumgänglich ist: Warum hast du dich nie gemeldet? Er erschrickt nicht, hat darauf gewartet, gewußt, daß es so kommen wird, und trotzdem sieht er mich nicht an. Mehrere tausend Kilometer sind weit, sagt er. Zu weit, um Vater zu sein, hatte er geglaubt, zurückdenkend an ihren gemeinsamen unausgesprochenen Beschluß, sich nie wiederzusehen, den auch der letzte Brief nicht veränderte, weder für sie noch für ihn. Zwei Länder, zwei Menschen, zwei Leben, nicht willig, sich selbst aufzugeben um eines kurzen Traumes willen. Er schweigt, bläst seinen Atem in die Luft, unsichtbar. Ich verharre wartend, sehe ihn nicht an. Die Stille ist anders, voll nun, nicht mehr stumm und leer. Die Nacht in Venedig, gelbgrau der Mond in den Augen meiner Mutter. Sein Blick darin, verzaubert. Die Glocken, die den Morgen einläuteten. Ob er sie geliebt habe? Er schweigt wieder, in Gedanken weit fort. Ja, sagt er dann, so wie man lieben kann in einer Nacht, die nicht bestimmt ist für die Ewigkeit.

Er verstummt, seine Worte hallen nach in der Luft, sinken langsam zu Boden. Der Morgen schweigt uns an, steigt mit der Sonne. Sein Blick ist fragend. Ich beginne zu reden, die Worte drängen plötzlich hinaus, ohne daß ich sie halten kann. Bin ich es wirklich, die da spricht? Ich erzähle von dem Bild des fremden Mannes, das meine Mutter in der untersten Lade ihres Schreibtisches aufbewahrte, inmitten eines Stapels Briefe, allesamt mit blauem Kuvert. Rundherum ein roter Gummi, brüchig bereits. Ich fürchtete immer, ihn zu zerreißen, wenn ich ihn vorsichtig löste, um heimlich das Bild zu betrachten, das meine Mutter mir nur einmal gezeigt hatte, mit den Worten: So sieht er aus: dein Vater. Es war unscharf, doch ich konnte sehen, daß er lachte, die Arme auf eine Brücke gestützt, sein Kopf in der Mitte des Kanals dahinter, zwischen Häuserfassaden. Breites Lächeln in schwarz-weiß, verpackt in Kompottglasgummirot. Märchenprinzfoto. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, streift mich. Traurig. Ich habe Angst davor, du zu sagen, spreche weiter von jenem fremden Mann, der eine Traumgestalt blieb, ungreifbar, und doch irgendwo auf dieser Welt Wirklichkeit. Es bedarf nicht der Frage, warum ich gekommen bin, warum jetzt. Orientierungslosigkeit im Vorgefühl eines herannahenden Sommers, die Zukunft verschwommen wie milchiges Glas. Vergangene Kindheitsjahre hinter mir, nicht wiedererlebbar. Kein Ort, um zu bleiben, keiner, um für immer fortzugehen. Nur die Ahnung eines fremden Landes und ein unbekanntes lächelndes Fotogesicht. Ich hebe den Blick von den Wellen und sehe ihn an. Irgendwo zwitschert ein Vogel, glockenrein. Es ist schön, daß du da bist, sagt er. Die Worte spielen im Wind, hüpfen auf und ab, bevor sie verklingen. Ja, sage ich dann, unmerklich nickend.

Warum ißt du nicht? Vaters Stimme ist hilflos, unsicher steht er in der Tür, nähert sich dann dem Bett, auf dem ich hocke, die Beine eng an den Körper gepreßt, möglichst klein. Barfuß. Meine Zehen sind kalt, Schatten im Zimmer. Nochmals: Warum, jetzt leise. Mein Hals verkrampft sich. Die Augen starren in die Luft, starren hindurch, haltlos. Ich kann nicht, flüstere ich, non posso. Kann nicht und darf nicht. Eine Träne entgleitet mir, fällt aus mir heraus, klein und glitzernd. Salzig. Eine zweite und dritte, langsam rinnen sie die Wangen hinab, kühl. Zaghaft streckt er die Hand aus, hält inne, in der Luft verharrend. Ich kann seine Ratlosigkeit spüren, die Unbeholfenheit in seinem Blick, die sich in seinen Bewegungen spiegelt. Es ist still, nur mein Atem durchschneidet die Luft. Ich beginne zu zittern, lautlos, immer noch weinend. Seine Hand berührt warm meine Schulter, den Tränen trotzend, die meine Bluse durchweichen. Warm und angenehm schwer.

Die Finger meiner Schwester liegen klein in meiner Hand, dabei immer noch schüchtern, wie in dem Augenblick, als sie sie zaghaft hineinlegte und mit den meinen verschloß. Barfuß gehen wir über das Gras, das unsere Zehen und Fußsohlen kitzelt. Vor uns Fabio und Stella, gefolgt von Giulio, der plötzlich stehenbleibt, auf uns wartet und Alexias zweite Hand ergreift. Wir wirbeln sie hoch in die Luft, lassen sie fliegen, und ihr jauchzendes Lachen springt zum Himmel hoch, um dann dankbar auf uns herabzufallen. Die Sonne spielt mit ihrem Kleid, läßt die Farben aufleuchten, kräftig und satt. Die Bäume nicken uns zu, bilden einen lichten Wald, der sich an den Hügel schmiegt, auf dessen Kuppe wir uns befinden. Leise singt der Wind in ihren Ästen, trägt den Duft der Pinien vom Meer herauf, dunkelgrün und harzig. Wir wandern weiter, hüpfend den Hang hinab, bis wir die ersten Häuser erreichen. Willst du ein Eis?, fragt Fabio unerwartet, und überrumpelt bleibe ich stehen, vergesse dabei, wie gewöhnlich sofort den Kopf zu schütteln. Alle blicken mich erwartungsvoll an, Alexias Augen leuchten, und ohne zu wissen, was ich tue, nicke ich leicht mit dem Kopf. Erschrocken möchte ich nein sagen, doch Fabio hat bereits das Geschäft betreten, türglöckchenklingelnd, und meine Schwester zieht mich hinter ihm nach. Quale vuoi, welches möchtest du, fragt sie, bis ich verschüchtert auf das kleinste deute, immer noch ungläubig. Ich werde es wegwerfen, denke ich schnell, auf keinen Fall essen, das ist unmöglich. Der Verkäufer drückt mir grinsend den Stiel in die Hand, klingelnd fällt die Tür ins Schloß, und wir sind zurück in der Sonne, die sich langsam zu neigen beginnt, um in wenigen Stunden ins Meer zu fallen. Alexias Eis ist rot, verschmiert ihren lachenden Kindermund, während sie vor mir herläuft, zurück zu ihrem Zuhause am Rande der Stadt. Ich tue es ihr gleich, kalt liegt das Eis in meinem Mund, zergeht langsam auf meiner Zunge. Kurz drängen die Zahlen in meinen Kopf, doch dann fallen sie von mir ab, lösen für ein paar Minuten, vielleicht Stunden, ihren Druck. Ich gehe darüber hinweg, weiterhin essend, langsam und vorsichtig. Das erste Eis dieses Sommers. Dieses Jahres vielleicht. Ich weiß es nicht mehr.

Als wir zurückkommen, ist es bereits später Nachmittag, doch immer noch ist die Luft angenehm warm. Meine Großeltern sitzen auf der Bank am Meeresufer und winken uns zu. Laßt uns baden, ruft Fabio plötzlich, und schon wenige Minuten später stürmen wir zu fünft ins Meer hinein, auf die noch hell strahlende, gelbe Sonne zu, die nur mehr knapp darüber thront. Das Wasser umspült weich meinen Körper, als ich spritzend hinter Vater hineinlaufe, gefolgt von Stella und meinen Geschwistern, deren fröhliche Stimmen die Luft erfüllen. Kreischend flattern die Möwen über mir, und vom Ufer her sehe ich Großmutters Gesicht und ihre immer noch wild winkenden Arme. Vater wendet sich um, und ein Lachen entspringt seinem Gesicht, als er mich erblickt. Meinen Namen rufend verschwindet er im Blaugrün des Wassers, und noch ehe ich ihn wieder sehen kann, tauche ich ebenfalls unter, ein Lächeln auf den Lippen, das der sonnenbeschienen Wasseroberfläche entgegenstrahlt.