Lydia Scherenzel (16)

Hinterhof

1

In der Früh weckt mich Mama. Meistens bin ich noch ganz müde, aber ich muß trotzdem aufstehen und in die Schule gehen. Den Weg dorthin mag ich. Er führt an einem Park vorbei, der klein ist und grün. Mit Bäumen und Wiese. Ein paar Blumen. Wenn ich Zeit habe, bleibe ich stehen und sehe sie mir an. Die kleinen weißen, gelben, blauen. Alle sind sie schön, und riechen so gut. Manchmal kommt ein alter Man mit einem kleinen braunen Hund vorbei und führt ihn spazieren. Es ist immer der gleiche, ich mag ihn, er ist freundlich und lächelt mich an. Anders als die Kinder in der Schule. Sie lachen mich aus und bewerfen mich mit Papierkugeln. Ich will ihnen nicht zuhören, deshalb denke ich mich fort, weit, weit fort. In eine Geschichte oder ein Märchen, das mich schützt vor ihren Worten. Niemand erreicht mich dort und niemand weiß, wo ich bin. Sie sehen mich an, aber sie sehen mich nicht. Ihre Augen sind wütend und spottend und leer und lachen nicht mit ihren aufgerissenen Mündern. In den Pausen stelle ich mich ganz nahe ans Fenster und blicke hinaus auf die Straße, in die Baumkronen und die Gesichter der Menschen. Der Himmel ist so blau und so ruhig, daß ich das Geschrei hinter mir nicht mehr höre. Ich vergesse es, er hüllt mich ein mit seiner Ruhe, wie eine riesengroße Decke aus blauem Wasser. Ob so das Meer aussieht? Noch nie war ich dort, aber ich stelle es mir oft vor, möchte es so gerne einmal sehen, nicht nur Geschichten darüber hören.

Wenn die Glocke läutet, setze ich mich, allein, denn niemand sitzt neben mir. Ich höre die Worte wieder, die sie mir nachrufen, bis die Lehrerin kommt und sie ruhig werden.

Aber ich weine nicht mehr. Nicht hier, nur abends unter der Decke, wo niemand mich sehen kann.

Zu Mittag gehe ich heim, ganz schnell, damit sie mir nicht folgen. Im Stiegenhaus treffe ich manchmal den Mann, der die Treppen kehrt, mit seinem runden roten, freundlichen Gesicht. Unaufhörlich kehrt er, immer hin und her mit dem Besen. Jede Stiege. Ich glaube, wenn er unten angekommen ist, muß er oben wieder anfangen, aber das stört ihn nicht, er ist trotzdem nett und ruft schon von weitem: »Hallo Marie!« Ich bleibe dann kurz stehen und höre ihm zu, bevor ich weiter die Treppe hinaufsteige. Seine Bewegungen sind langsam und immer die gleichen. Manchmal schenkt er mir ein Zuckerl, wenn er besonders gut aufgelegt ist.

Oben wartet Mama schon, und Luis, dabei weiß er das wahrscheinlich noch gar nicht. So klein ist er noch, er kann nicht sprechen und nicht gehen, aber gerade das mag ich. Er hört mir nur zu und antwortet nichts, fragt mich auch nichts. Trotzdem ist er da und schaut mich an aus seinen kleinen Augen, verzieht den Mund und lacht. Mamas Augen sind immer so traurig, so schrecklich traurig. Sie lacht fast nie. Ich möchte ihr helfen, aber ich weiß nicht, wie, und warum sie traurig ist.

Am Nachmittag gehe ich hinunter in unseren Hinterhof. Er ist klein. Klein und grau und viereckig. Auf der linken Seite stehen die Mülltonnen, zu denen Mama immer die vollen Mistsäcke hinunterträgt. Drei sind es, drei aus schwarzem Plastik, nur die Mittlere hat einen Deckel, der rot ist. »Altpapier« steht darauf, und sie stinkt nie, so wie die anderen beiden manchmal, wenn sie zu voll sind und man sie nicht mehr zumachen kann. Aber auf der linken Seite des Hofes bin ich sowieso nie. Rechts hinten nämlich steht ein Baum, ganz nah an der Mauer. Er ist nicht besonders groß und nicht besonders schön, aber er ist der einzige, und er ist nicht grau, wie die Mauern um ihn herum. Lebendig ist er, braun und grün und lebendig, und im Winter weiß wie in einem Märchen.

Manchmal ist er das einzig Lebendige, dem ich nahe bin. Ich kauere mich nieder an seinem Stamm und fahre mit den Fingern die Furchen darin nach. Seine Rinde fühlt sich rauh an. Gerne lege ich die Wange darauf und mache ein bißchen die Augen zu. Manchmal kriecht eine Ameise vorbei, und ich sehe ihr nach, wie sie den Stamm hinaufläuft, als wäre sie schwerelos. Das Braun beruhigt mich und tröstet mich mit seiner Lebendigkeit.

Wenn ich die Mauern hinaufblicke, kann ich unser Badezimmerfenster sehen, ganz in der Ecke, in der mein Baum steht. Meist sitze ich genau darunter, so daß ich beinahe versteckt bin für die Leute, die den Hinterhof betreten und nur den Stamm des Baumes sehen. Noch weiter oben sieht man ein kleines eckiges Stück vom Himmel, blau mit weißen Wolkenpunkten darin. Wie Mamas Halstuch, das sie trägt, wenn es kalt ist. Ich schaue gern in den Himmel hinauf, und in die Blätter des Baumes. Geschichten erfinde ich dann, von Tieren und Wesen, die es in Wirklichkeit nicht gibt, und vergesse alles andere. Auch Menschen erfinde ich manchmal, aber ganz andere als die auf der Erde. Sie schreien nicht, lachen viel und verstecken nicht dauernd ihre Tränen. Es ist schön hier, trotz der grauen Wände und der Mülltonnen. Ich muß an nichts anderes denken, kann träumen, mich fortträumen, ganz weit. In meine eigene Welt.

Lange kann ich so sitzen und meine Geschichten erleben, bis Mama mich ruft vom Fenster aus. »Marie!« Ich soll hineinkommen, dabei möchte ich viel lieber noch hierbleiben, auch wenn es kalt ist. Sie ruft wieder. Ja, ich komme, ich stehe schon auf. Gleich.

Wenn ich am Morgen erwache, ist das Bett neben mir leer. Fast wirkt es so, als hätte nie jemand darin geschlafen, denn Decke und Kissen sind sorgfältig aufgeschüttelt, so wie er es immer macht, wohl um mir einen Gefallen zu tun, oder aus seinem Bestreben nach Ordnung heraus. Durch das Fenster fallen die Sonnenstrahlen, leuchten auf dem reinen Weiß des Lakens und Luis’ Gesicht in der Wiege, das zart wirkt und friedlich. Marie noch schlafend im Zimmer nebenan, zusammengekauert, fest in die Decke gewickelt. Leise trete ich ein, betrachte sie, wünsche, sie nicht wecken zu müssen. Die Sonne erhellt ihr Gesicht, das dem Fenster zugewandt ist, nur unter den Augen bleiben zwei kleine Schattenflecke, wie Grübchen. Sie ist mir nah in diesem Moment, wortlos, fast schmerzhaft, viel näher als sonst oft. Ich berühre sie leicht an der Schulter, rufe ihren Namen, bis sie die Augen öffnet, verschlafen noch, doch bereits mit dem ihr eigenen Ausdruck darin, einer Mischung aus Lächeln und einer darunter liegenden Trauer.

Ein paar hektische Minuten, Frühstück, Luis’ Weinen, immer die Uhr im Blick, dann hänge ich ihr den Rucksack um und lasse sie gehen, schaue ihr noch nach, wie sie die Stiegen hinabsteigt, mit ihren kleinen langsamen Schritten, die Hand am Geländer entlanggleitend, das sich spiralförmig nach unten windet. Die Vormittage fast alle ähnlich, erfüllt mit Tätigkeiten, die ich nur aus dem Gefühl der Notwendigkeit heraus erledige. Durchsehen der Post, Wäsche in die Waschmaschine, später aufgehängt und auf den Balkon gestellt, Zusammenräumen, Betten machen, kochen, putzen, sorgfältig mit feuchtem Tuch über den Staub, damit nur nichts hängenbleibt, alles sauber glänzt, dazwischen Sitzen am Schreibtisch mit Text und Wörterbuch, Seite für Seite übersetzt. In mir eine müde Gleichgültigkeit, die den ganzen Tag einschließt, jedes andere Gefühl überdeckt. Ich denke nicht nach, lasse die Gedanken vorbeiziehen wie Luftballons, ohne sie zu ergreifen. Graue Luftballons ohne Farbe, nicht bunt wie aus dem Supermarkt.

Immer wieder Luis, sein Lachen wie ein kleiner Sonnenstrahl, das Weinen beruhigt mit einem Lied, leise dahingesummt, dabei auf und ab, hin und her, bis er zurückfällt in den Schlaf. Abermals liegt er dann in seiner Wiege, das Babygesicht gebettet auf weiche Kissen mit blauen Spitzen am Rand, Geschenk der Großeltern, was sein muß, muß sein. Schöne weiße teure Kissen, dazu die Decke, eigens bestickt. Ich mache mir nichts daraus, aber Gustav mag sie, denn er legt Wert auf Dinge, die schön aussehen, den Schein wahren. Bald ist es fünf. Er wird heimkommen, Schlüsselklicken im Schloß, Mantel an den Haken gehängt, das Haar glatt und blond und gekämmt, wie immer, noch mit Krawatte, schwarz oder grün oder blau, dezent gestreift, nicht zu locker und nicht zu eng, ein dazu passendes Hemd mit selbstgebügeltem Kragen, Farbe je nach Jahreszeit und Anlaß. Üblicherweise dunkelblau. Zur Begrüßung küsst er mich, wie es sich gehört, manchmal mit der Andeutung eines Lächelns, das an frühere Zeiten erinnert und einen Anflug von Wehmut in mir aufkommen läßt. Dann: Kaffee im Wohnzimmer, er hantiert kurz in der Küche, während ich nach Luis sehe, läßt sich dann auf der Couch nieder, rechts Bein abgewinkelt über dem linken, Arme scheinbar locker über die Lehne gebreitet. Zwischen uns Schweigen. Kaum ein Laut im Raum, nur hin und wieder das ferne Brummen eines Autos, abgedämpft durchs Fensterglas, das Surren einer Fliege, klirrend der Löffel am Porzellan. Dann seine Frage, die er stellt ohne mich anzusehen, beiläufig, die Kaffeetasse in der Hand: »Wie war dein Tag?«

»Wie immer, nichts Besonderes, das Haus und die Kinder, außerdem ein neuer Text zum Übersetzen, du weißt schon. Französisch. Nichts Literarisches. Ein Sachbuch.«

»Ach. Immerhin ist das leichter.«

»Vermutlich, ja.«

Sein Blick ist gelangweilt, das Gesicht trotz der äußerlichen Vertrautheit fremd geworden, verrät mir nicht mehr, was in ihm vorgeht. »Machst du heute das Abendessen? Ich nehme Luis solange, ich sehe ihn doch so selten.« »Gut.« Mehr fällt mir nicht ein, was auch gäbe es zu sagen.

Er gibt sich emanzipiert. Sonntagskoch und Babyhüter. Manchmal Hemdenbügler, Tellerwäscher. Wann es die Arbeit eben erlaubt. Man tut, was man kann.

»Wo ist denn Marie? Schon wieder draußen im Hinterhof?«

»Ja«, antworte ich und eile ins Bad, öffne das Fenster. Dort sitzt sie, wie schon seit Stunden, niedergekauert unter dem Baum, der Blick abwesend, verklärt fast, still, nahezu unnatürlich still für ein Kind, ein schwebendes Lächeln im Gesicht, gen Himmel gerichtet. Zerbrechlich. Zerbrechlich und so verletzlich, daß ich es kaum wage, sie anzusprechen, zu erschrecken durch ein unbedachtes Wort, die seltsame Stimmung um sie zu zerstören. Leise rufe ich ihren Namen, beinah erschrocken über meine eigene Stimme. Marie! Sie hebt den Kopf und sieht mich an aus fernen dunklen Augen. »Komm doch herein, es ist spät. Und kalt. Du verkühlst dich noch.« Meine Worte so ungeschickt, nichtssagend, unfähig, sie zu erreichen. Dennoch erhebt sie sich, ihr Lächeln traurig, in die Augen zurückgezogen, geht langsam, den Blick abwendend, auf die Haustüre zu.

Morgens, nach dem Klingeln des Weckers, ihr Gesicht neben mir. Ernst selbst im Schlaf, nur die Augen geschlossen, näher als sonst. Alleine sitze ich in der leeren Küche, mache das Licht nicht an, lasse sie liegen im Dämmerschein, dem Morgenlicht, das kalt ist darin. Die Kaffeemaschine gurgelt, speit die braune Flüssigkeit, die ich so dringend benötige, nur langsam aus. Nur wenig später erreiche ich das Büro, trinke noch eine Tasse davon, die die Sekretärin gemacht hat, diesmal mit Milch, gelegentlich auch mit Zucker. Dann starre ich auf den Bildschirm des Computers, lasse die Finger über die Tasten fliegen, hin und wieder unterbrochen vom Läuten des Telefons, das mich zwingt, ein paar Augenblicke lang hineinzusprechen. Die Stunden sind monoton und gleichmäßig, vergehen weder langsam noch schnell, und ich versuche, nicht daran zu denken, wie viele von ihnen noch vor mir liegen. Der Bildschirm flimmert mich an, er wird mir noch die Augen ruinieren, ich weiß, eine Brille täte bereits Not.

Zu Mittag gehe ich nicht heim, esse bloß ein Sandwich, auf dem ledernen Schwarz des Sessels zurückgelehnt, manchmal im Gespräch mit einem Kollegen, den Blick aus dem Fenster gerichtet, das so hoch liegt, daß man nur ein Stück Himmel und die Fassade des gegenüberliegenden Hauses erblickt, wenn man hindurchschaut, es sei denn, man öffnet es und beugt sich hinaus, was ich nicht tue, da ich keinen Zweck darin erkennen kann.

Abends bin ich zu Hause, bei Juliane, bei den Kindern.

»Papa, wie heißen die Blumen, die aussehen wie Gänseblümchen, nur viel, viel größer?« »Margeriten, Marie, Margeriten.« Ich freue mich über ihre wenigen Worte, die sie zu mir spricht, ihre gewohnte Stummheit durchbrechend in einem Moment der Ausgelassenheit, beinahe einer Art von Vertrauen, das nur in manchen, seltenen Augenblicken zwischen uns besteht.

Beim Essen schweigen sie, alle beide, Juliane und Marie, nur das Baby schreit hin und wieder. Ich halte diese Stille nicht aus, diese verdammte Stille, muß hineinreden, mitten in die stummen Gesichter hinein, die ihren Blick im Teller versenken. Ganz egal was, nur reden, die Stille zerbrechen, nicht wahrnehmen müssen. Ich höre mir selbst nicht zu, spreche von der Arbeit, glaube ich, dem Wetter, der Politik. Wäre ich doch ... Aber nein, die Müdigkeit, dazu ein letzter Rest Pflichtgefühl, der mich zurückhält. Kann sie doch nicht jeden Abend allein lassen, ohne Mann im Haus. Und dann dieses Gesicht, so ganz ohne Frohsinn, umrahmt von einem schwarzen Haarkranz, um Mund und Augen schon leicht faltig geworden. Trotzdem hübsch, wenn es einmal den Ernst des Alltags fallen läßt und ein Lächeln sich zaghaft darin ausbreitet. Die Augen dunkel wie die der Tochter, ebenso fern. Ich kann sie nicht verstehen. Weggedreht ihr Körper auf dem Kissen, auch, als ich danach greife, ihn zu mir wende. Widerstandslos. Willenlos. Von Kopf bis Fuß. Reglos erstarrt unter mir. Inmitten des Gesichtes ein Mund, der keine Antwort mehr gibt, wenn ich ihn vergeblich suchend berühre.

Wieder ein Nachmittag allein in der Wohnung, Marie irgendwo draußen, Gustav noch nicht zurück von der Arbeit. Ich wasche ab, Schaumkronen auf den Händen, in der Nase Spülmittelgeruch, immer wieder Gedanken, die in mir auftauchen obschon ich sie zu verscheuchen suche, Erinnerungen, nur fetzenhaft teilweise.

Unser Hochzeitstag: Vom Himmel fiel Regen, nicht peitschend sondern kontinuierlich strömend, eine graue Wasserwand, vor die Sonne geschoben, hin und wieder dennoch ein Strahl, der hindurchdrang, weiß und hell. Trotz des Wetters ein Lächeln auf seinem Gesicht, ein junges ehrliches, tiefes Lächeln, das auf mein eigenes traf, sich mit ihm vereinte, gemeinsam weiterlächelte, lachte beinah. Liebeshochzeit, natürlich. Die Kirche kühl und stumm, die Worte des Priesters viel zu klein darin, begleitet von einem schrecklichen Hallen, das sich ausbreitete und in den Bänken verteilte, überall nichts als dieser Nachhall seiner eintönigen Stimme, die die Worte fallen ließ als wären sie zu schwer, um sie halten zu können. Unser Lächeln einsam in dem großen Raum. Für immer und immer. Heute, morgen, bis in alle Ewigkeit. Was bleibt von der Ewigkeit, wenn die Zeit sie überrollt, liegenläßt wie ein unnütz gewordenes Wort?

Danach, nur wenig später, ein paar Jahre, vielleicht nur Monate der Illusion, rosarote Welt im Glauben an eine andere Wirklichkeit, nur zu bald hinweggeschwemmt vom Alltag, der Gustavs Gesicht grau und müde machte. Auch die Verliebtheit hielt ihm nicht stand, bröckelte stetig, kaum merklich ab, entwich langsam aus mir, ohne daß ich sie halten konnte. Vielleicht auch wollte ich es nicht, vergaß, es zu wollen, seine abgenutzten leeren Worte hörend, deren anfänglicher Zauber mehr und mehr zur Erinnerung verblaßte. Nun diese Abende, an denen mein Warten vergeblich ist, er nicht heimkommt wie sonst, mich allein läßt mit den Kindern, der Leere, die die Wohnung erfüllt. Irgendwann, spät in der Nacht, doch noch sein schwerer Schritt, sein Atem, aus dem der Alkohol spricht und alle weiteren Worte unnütz macht. Stumm läßt er sich neben mir auf das Laken sinken, und ich täusche vor, bereits zu schlafen, tief und fest zu schlafen, obgleich ich wach liege und nach seinen Geräuschen lausche, den Lauten, die sein sich hebender und senkender Brustkorb verursacht, ehe sein Atem ruhig und gleichmäßig wird. Manchmal auch schlägt er mich, wenn er spät in der Nacht heimkommt und ich noch schlaflos wachliege, meist nicht mehr als ein oder zweimal, und dennoch hinterläßt der Schmerz eine Narbe, die ich nicht wieder vollständig zuzudecken vermag, so sehr ich dies auch wünschte.

Warum nur bleibe ich bei ihm. Immer noch sein Bild von früher, lächelnd unter der Kirchenkuppel. Dann getreten von der Wirklichkeit, verhöhnt und doch nicht getötet.

Und die Kinder.

Sie sollen nicht dieses Leben leben, diese Kindheit ohne Vater, diese Kindheit in Unsicherheit.

Du bist jung, sagt man mir, du bist jung, das Leben liegt noch vor dir. Aber sie irren sich. Das Leben liegt bereits hinter mir, die Zukunft wird Teil der Vergangenheit, ordnet sich unter, hebt sich nicht ab. Alles ist bereits gelebt, von Vornherein gewußt, bar alles Neuem. Ich warte, ich frage nicht mehr. Hoffe nicht mehr. Fürchte nicht mehr.

Morgens, auf dem Weg ins Büro, mit den Fingern aufs Lenkrad trommelnd vor andauernd roten Ampeln, diese ungewollten Gedanken, die sich in mein Bewußtsein drängen. Was will sie denn eigentlich? Helfe ich ihr denn nicht im Haus, schaue ich denn nicht auf die Kinder, wann immer meine Zeit es erlaubt? Natürlich, die Arbeit muß sein, Geld ins Haus, man muß schließlich leben, die Luft nährt nun mal nicht, aber ich habe doch gesagt, ich bliebe zuhause mit dem Kind, wenn es nur irgendwie reicht mit dem Geld, sie könne sich ja eine Stelle suchen, wir werden uns schon arrangieren, wie immer, aber ihre Antwort war nein, die Liebe zu groß zu dem kleinen Geschöpf, zudem diese Unsicherheit, sagt sie, diese Unsicherheit, das hält sie nicht aus. Wenn sie nur wieder lachte, wie damals, in den Augen beginnend und von dort bis über das ganze Gesicht hinaus, strahlend, schön.

Unsere Hochzeitsreise: In die Karibik. Palmen und Sandstrand, ihr junger Körper darauf, daneben das blaue Meer. Abendessen im Restaurant, dann spazierengehen im Mondschein, Hand in Hand. Die Welt noch wie ein schöner Traum. Zu schön vielleicht.

Nun die Abende im Wirtshaus, ohne sie natürlich, mit einer Gruppe Kollegen, flüchtigen Bekannten. Nicht besonders nett, aber was heißt das schon, deshalb braucht sie nicht so zu schauen, was erwartet sie denn, ich habe das nun mal nötig hin und wieder, außerdem nicht jeden Abend, oft bin ich doch daheim bei ihr, bei den Kindern. Dann immer dieser Blick, dieser starre, ich sehe doch, daß sie sich wegdreht, kenne das ja von daheim, dem Daheim meiner Kindheit, nichts Besonderes, ganz normal. Immerhin muß ich sie so nicht sehen, wenn ich in der Gaststube hocke, ein Glas vor mir auf dem Tisch, Bier oder Wein, je nachdem. Im Mund eine Zigarette, obwohl ich eigentlich nicht rauche, aber das gehört dazu, ich atme ja sonst den Rauch der anderen mit, der die ganze Stube verpestet. Allmählich dann werden meine Glieder angenehm schwer, auch der Kopf, keine konkreten Gedanken mehr, schon gar nicht an sie, nur schwimmendes Chaos oder scheinbare neblige Leere. Ihr Gesicht weit fort, ihr jetziges, nur das von früher taucht hin und wieder auf, mit seinem damaligen jugendlichen Lachen. Die Zeit ist mir egal , sie hat sich von den Uhren gelöst, mich verlassen, ich sitze und trinke, manchmal sprechend, manchmal schweigend, bis man mich hinauszieht auf die Straße, noch ein Schulterklopfen, dann stehenläßt in der Nacht. Durch die leeren Straßen, vorbei an kippenden Häusern, wanke ich heim, fern von Trauer, fern von Glück.

Wieder ist es fünf. Er kommt nicht, auch später nicht, um sechs. Ich lege Luis schlafen, bringe dann Marie ins Bett, mit Gutenachtkuß auf die Stirn. Irgendetwas tun müßte ich jetzt, etwas ganz Normales, Alltägliches, wie immer, nur die Gedanken nicht zulassen, ruhig bleiben. Ich sitze im Wohnzimmer, keinen Kaffee abends, vor mit Text und Wörterbuch, doch die Buchstaben verschwimmen, purzeln durcheinander, wollen ihren Sinn nicht preisgeben. Die Zeit kriecht tickend in der Uhr. Irgendwann das Geräusch der Tür, langsam aufgeschoben, leise knarrend, langsam zugemacht. Ich stehe nicht auf, verharre reglos im Sofa.

Er schwankt auf mich zu, stinkend nach Rauch und Bier, streckt die Hände nach mir aus, möchte mich umfassen, umarmen. Ekel steigt in mir auf, den zu unterdrücken ich nicht im Stande bin, Ekel vor diesem betrunkenen Gesicht, diesen Augen, diesen Armen. Ich muß mich abwenden, will ihn nicht berühren, nicht ansehen müssen. Dann, plötzlich, seine Hände, ausholend zum Schlag, der ziellos trifft, immer wieder, vor und zurück, mein Gesicht, meinen Bauch, meine Arme und Beine, einen Schmerz entfachend, der mich ganz erfüllt und mich hineinstößt in eine Wirklichkeit, die nur Traum sein kann, ein Alptraum, der Wirklichkeit ist, jetzt, heute, jenseits der Zeit.

Als ich aufwache, mit wieder nüchternem Kopf, bei Tageslicht, schäme ich mich. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an den gestrigen Abend, dennoch aber weiß ich sicher, daß ich sie geschlagen habe, mehrmals diesmal, immer wieder. Dabei wollte ich sie doch in den Arm nehmen, ihren Körper spüren, den Mund, wie damals. Meinen Kopf in ihren Schoß legen, ihre Finger küssen, einen nach dem anderen. Mit Nagellack oder ohne. Dann das Gesicht, den Hals, die Augen.

Stattdessen dieser Satz aus ihrem Mund, dieser eine verdammte Satz, den sie sagte, während sie den Kopf abwandte: »Warst du wieder im Wirtshaus?« Ich entsinne mich kaum mehr, was dann geschah und wie genau es geschah, nur an die Wut erinnere ich mich, diese unbändige riesige Wut, die mich plötzlich befiel und alles fortdrängte, meinen Blick trübte. Nichts mehr als Wut, in meinem Kopf, meinen Armen, meinem ganzen Körper, nur mehr Wut, überall. Und ihr Schreien.

Ich möchte es gutmachen. Mit ihr reden. Fortfahren, ein paar Tage oder auch nur einen Abend. Wie früher. »Juliane?« Sie sieht mich nicht an. »Ich werde mir Urlaub nehmen. Laß uns hinausfahren aufs Land, zu meiner Schwester. Auf den Hof.« Warum antwortet sie denn nicht, warum schaut sie mich nicht an?

»Es tut mir ja leid.« Jetzt habe ich ihn gesagt, diesen Satz, der mir so schwer über die Lippen kommt. »Wirklich ... Ich wollte das nicht. Ich ... du weißt ja ... war doch betrunken.«

»Ja.« Endlich, kurz, ihr Blick.

»Und die Kinder?« Sie kommt mit. Diesmal noch kommt sie.

»Wir werden sie mitnehmen. Marie kann doch freibekommen von der Schule, für einen Tag.«

»Gut.« Vielleicht, vielleicht verzeiht sie mir. Wenn ich geduldig bin. Ein bißchen warte. Die Zeit heilt alle Wunden. Und ich schäme mich ja.

Mama spricht so wenig mit Papa. Dabei fragt er sie so viel. Was sie denn essen möchte. Wohin sie spazierengehen will. Aber sie schaut ihn fast gar nicht an und sagt nur »ja« und »nein.« Nur wenn Papa Luis hält und er sein ganzes Hemd verkleckert und so lustig dreinschaut, lacht sie manchmal. Dann freue ich mich. Ich möchte nicht, daß sie traurig ist. Auch Papa ist traurig, glaube ich. Nur zeigt er es nicht.

Ich bin oft draußen. Bei den Schafen und den Ziegen. Und im Garten natürlich, der viel größer ist als der Park in der Stadt. Es ist schön hier. Schöner als daheim. Wenn nur Papa und Mama mehr reden würden. Ich verstehe ihr Schweigen nicht. Bitte, bitte, sie sollen wieder reden. Ich wünsche es so. So sehr wünsche ich es. Sie sollen sich doch vertragen. Ich kann auch auf Luis aufpassen, damit sie mehr Zeit haben. Ihn hinaussetzen auf die Wiese und mit ihm spielen. Ja, das werde ich tun, jetzt gleich. Sicher freuen sie sich.

2

Ein Schrei weckt mich. Ganz laut und schrill ist er. Nicht wie Mamas Stimme, aber ich weiß trotzdem, daß sie es ist. Sie klingt so fremd und hört nicht auf. Schreit und schreit.

Ich habe Angst. Ganz schreckliche Angst. Ich möchte ihr helfen, aber ich kann nicht. Ich traue mich nicht hinaus. Ganz fest halte ich meinen Teddy, damit uns nichts passiert. Ich mache mich klein und verkrieche mich unter der Decke. Es ist so dunkel. Immer noch schreit Mama, sie hört nicht auf. So laut. So voller Angst. Hoffentlich passiert ihr nichts, bitte bitte nicht.

Ich muß hinaus, ich muß ihr doch helfen. Die Tür knarrt so laut, sie schreckt mich. Jemand könnte mich hören. Dort ist sie, ich kann sie sehen. Sie weint und schreit, und er schlägt sie, ganz fest schlägt er sie. Überall hin. Warum tut er das, warum hört er nicht auf? Sein Gesicht ist so böse. Ein fremdes Gesicht, nicht das von Papa. Trotzdem ist er es, und ich fürchte mich so vor ihm. Vor diesen Augen. Was macht er mit Mama, er verletzt sie doch.

Jetzt schaut sie mich an, und ihre Augen werden ganz verzweifelt. »Marie!« ruft sie, »geh weg, bitte bitte geh weg, schau mich nicht an, Marie ...« »Mama!« schreie ich, ganz laut, »Mama!«

Er hat mich gesehen. Seine Augen schauen mich an, so wütend. Gleich schlägt er mich, gleich kommt er und schlägt mich. Die Angst wächst, sie wird ganz schrecklich groß. Ich laufe weg und verstecke mich wieder unter der Decke, ganz tief darunter. Ich traue mich nicht hinauszuschauen, vielleicht kommt er, sicher kommt er gleich. Mama wimmert jetzt, aber sie schreit nicht mehr. Nur manchmal kurz und schrill. Ich muß wieder weinen, und Teddy wird ganz nass von meinen Tränen. Die ganze Nacht weine ich und kann nicht aufhören. Auch nicht, als es still wird. Ich glaube, ich werde nie wieder schlafen können. Ich kann nichts mehr spüren, nur die Angst und das nasse Kopfkissen. Nur mehr die Angst, sie geht nicht mehr weg und bleibt immer da. Immer, immer.

Diesmal hat Marie mich gesehen. Mich angesehen, während er mich abermals schlug, mit vor Schreck geweiteten Augen, in denen wässrig die Tränen standen. Ihr weinendes Gesicht, ich sehe es immer noch vor mir, es verschwindet nicht mehr, ist in mich eingebrannt, felsenfest. Ich ertrage es nicht, möchte die Tränen aus ihren Augen nehmen, sie trösten, und bin doch nicht im Stande dazu, denn sie spricht kaum mehr mit mir. Meine Worte prallen ab an einer unsichtbaren Wand, die sie umgibt, sie schaut mich nur an, stumm, so schrecklich stumm.

So hätte sie mich nicht sehen dürfen, nicht so.

Ich bin es, die sie verletzt mit meiner Untätigkeit, die sie allein läßt, ihr keinen Halt mehr gibt. Ich muß ihr helfen, muß sie herausholen aus dieser, unserer Welt, die sie krank macht, ihren Blick entfremdet, sie fortdrängt aus der Wirklichkeit.

Fort, ja, fort. Aber wohin. Wohin, wenn das Haus kein Zuhause mehr ist und das Heim kein Daheim mehr?

Mama schaut mich immer so fragend an. Sie redet auf mich ein, aber ich möchte ihr nicht antworten. Ich höre sie nicht mehr. Ihre Worte haben keinen Sinn. Warum soll ich sprechen? Ich will nicht. Immer noch habe ich Angst und möchte mich verstecken. Im Hinterhof. Wo niemand mich sieht. Wie gut, daß ich den Hinterhof habe. Und meine Geschichten. So schön kann ich träumen dort, und ganz weit weg sein. Am liebsten möchte ich nie mehr zurückkehren und immer weiterträumen. Immer, immer weiter. Ich will nicht mehr aufwachen. Nicht hier.

»Marie!« Mama ruft mich wieder. »Marie! Wir fahren auf Urlaub, Marie! Fort von hier, weit fort.« Ich schaue sie an. Ich glaube, sie freut sich. Sie hat keine Angst. Jetzt nicht. Ja, Mama, fort. Laß uns gehen.

»Wohin?«

»Zu Großmutter, Marie. Zu den Katzen, dem Hund und dem Wald. Ins Grüne.«

»Und Papa?«

»Er bleibt einstweilen hier, er muß doch arbeiten.«

Ich freue mich auf Oma. Und auf die Bäume. Es ist schön bei ihr.

Mama nimmt mich an der Hand. Auch Luis kommt mit, er liegt schon im Tragetuch. Und schläft. Mama geht mit uns hinaus, unter den blauen Himmel, zum Auto. Ihre Hand ist warm. Warm und groß.

Nun ist sie fort. Weg, verschwunden. Im Schlafzimmer hängt noch ihr Geruch, ein sanftes blumiges Parfum. Den Kasten hat sie nicht ganz ausgeräumt, es liegen noch ein paar alte Kleider darin, die sie kaum mehr trägt.

Auf Urlaub wollte sie fahren. Eine Woche oder zwei. Eventuell auch länger. Mit den Kindern natürlich, allen beiden. Maries Zimmer wirkt leer, obwohl sie viele Sachen dagelassen hat. Alles ist aufgeräumt, bis ins letzte Eck, jedes Buch steht gerade im Regal, jedes Spielzeug an seinem Platz. Als hätte nicht erst gestern ein Kind darin gewohnt. Auch die Wiege ist fort, nur eine Babyrassel liegt noch unter dem Bett, und eine frische Packung Windeln in der Kommode. Die hat sie wohl vergessen.

Diesmal konnte ich sie nicht halten, versuchte es auch gar nicht, als sie mir ihren bereits fertigen Entschluß präsentierte.

»Bist du sicher?« fragte ich bloß.

Ihr »ja« war bestimmt.

»Bis wann?« Sie schüttelte nur den Kopf. Datum der Rückkehr unbekannt.

Wenn sie meint. Vielleicht ist es gut so. Die Küche ist nicht leerer als sonst, eigentlich. Ich fühle mich nicht einsam, nur auf gewisse Weise leer. Im Grunde war es lange schon so, so ähnlich wenigstens. Die Kinder werden mir fehlen. Aber ich sehe sie ja wieder. Ich werde mich schon arrangieren. Vielleicht, ja, vielleicht werde ich auch sie vermissen. Vielleicht auch nicht. Man wird sehen.