Sarah Preyer (17)

Höhenflug

"Walter, du siehst heute aber wieder gut aus!"

Lächelnd tätschelt er sich die Wange und bewundert sein neues nußbraunes Jackett im Glas des Schaufensters, an welchem er gerade stehengeblieben ist. Das Schaufenster gehört zu einer Drogerie, und die Drogerie liegt im Parterre des Hauses, in dem Walter zwei Zimmer gemietet hat, oben im dritten Stock. Es ist Spätnachmittag. Walter kommt gerade von seinen Klavierstunden nach Hause, und betritt nun sein Wohnhaus. Gut gelaunt und auf dem schnellsten Wege will er gerade die ersten Treppen in Anspruch nehmen, weil ihn oben der Genuß erwartet, auf den er doch schon den ganzen Tag gewartet hatte. Er freut sich schon auf den süßen herben Geschmack, der in ihm aufsteigen würde, wenn er seinen Gelüsten endlich freien Lauf lassen durfte.

Erst am Nachhauseweg hatte er die Gute entdeckt und die Beherrschung bei ihrem Anblick verloren. Durch ihre unglaublich verführerische Ausstrahlung und ihre sinnliche Schokoladenhaut, aber vor allem durch die kleine Krone, welche man ihr an die Spitze ihres weichen Körpers gesetzt hatte, war es mit seiner Kontrolle vorbei, und Walter wußte sich nicht anders zu helfen, als die Schöne zu kaufen. Doch nun, kurz vor dem Treppenaufgang in die zweite Etage, wird sein Gedanke an dieses süße, flockig lockere Geschöpf, durch einen Satz überschattet, welcher sich plötzlich in ihm festsetzt und ihn umfängt. Walter bleibt stehen. Dann hebt er seine Hand und fährt sich nachdenklich durch das Haar, sowie er es in seinen Klavierstunden immer macht, wenn er kurz vor einem Wutausbruch steht. Er wickelt sich eine seiner rostroten Locken um den Zeigefinger, dann verkrallt er seinen Mittelfinger und Ringfinger mit der restlichen Lockenpracht und reißt ein bißchen daran, bis er so von Schmerz gepeinigt ist, daß er losbrüllen kann. Doch diesmal brüllt Walter nicht, er will sich selbst nur ein wenig quälen, vielleicht sogar bestrafen, um dann tief durchzuatmen.

Langsam lenkt er sein Erinnerungsvermögen zurück und tastet sich an diesen klitzekleinen Wortfetzen heran, der ihm gerade untergekommen ist. Und je mehr er sich daran erinnert, desto schwerer fällt es ihm, tief durchzuatmen, darauf zu achten, die düstere Luft des Stiegenhauses in sich einzusaugen, bis auch die kleine Zehe vom rechten Fuß eine Prise abbekommen hat. Doch dann kann sich Walter nicht mehr beherrschen, er hält den Druck in seiner Kehle nicht mehr aus. Schluchzend stottert er nach einigen "warum ich"- "warum ich nie"-Phrasen in den leeren Treppenschacht: "Ich habe meine geliebte Nußtorte in der Konditorei liegengelassen."