Sarah Preyer (17)

Jetzt!

Julia wandert ins Tal.

Sie macht sich, entnervt von dem Genörgel ihrer Mutter, über ihre Antriebslosigkeit und von den Anrufen ihres Freundes, der nur über sich und ihre Lustlosigkeit, Bierrunden zu schmeißen, palavern will, auf den Weg zu dem sonnenbeschienenen Plätzchen, unten am Bach. "Antriebslosigkeit!" zischt sie böse. "Was heißt hier Antriebslosigkeit!"

Seit längerem schon, legt sie eine eigenartige Gleichgültigkeit an den Tag.

Sie ist nicht unglücklich, nicht unzufrieden, nicht traurig, nicht schwach, nicht depressiv zwischen hoch und tief, sie ist –?

Verläßlich ignoriert sie den einst geliebten Duft der Heufelder, konzentriert sich auf den schlammigen, abfallenden Weg, dem Fichtenwald entgegen. Julia spürt die Kälte, durch den plötzlich aufgekommenen Wind und zieht sich ihre Strickjacke, die sie schon seit heute morgen mit sich herumträgt an. Sie blickt kurz zum Himmel. "Regen!" stellt sie fest und unbeeindruckt weiter. Sie verfolgt die Windungen des Weges; hört die Spatzen nicht, die sie aufgeregt auf ihrem Gang begleiten, sieht die Glockenblumen nicht, deren blau zu dieser spätsommerliche Zeit schon verblasst.

Doch plötzlich, kurz vor der letzten Biegung, die sie sicher zu ihrer Bank geführt hätte, liegt da ein Stein, herrenlos, mitten Weg . Sie stolpert, rutscht aus und fällt nach hinten, ein Ruck, ein Knall, einer Erleuchtung, entmutigt, liegt sie auf dem Boden, die Hand eigenartig verdreht, die Hand eigenartig verdreht, den Hinterkopf unschön in den Schlamm gepolstert.

"Scheiße!" flüstert sie und starrt den Himmel an wo die Regenwolken immer bedrohlicher zusammenrücken.

Vorerst überlegt sie was sie tun soll, doch dann denkt Julia nach.

"Steh auf Mädchen, aufstehen, bleib nicht liegen, denk nicht daran, ist doch nicht wichtig, nicht wichtig, was mit dir ist, bist doch glücklich. Bist zufrieden, hast doch allen, bist nicht allein, nicht krank, brauchst doch nicht denken, ich meine, wozu.

nein, nicht, nicht konzentrieren, aufhören, nicht krampfhaft den Bauch spüren wollen, dir nicht wehtun, nicht anstrengen, nicht denken, denken, ist ungesund, nicht, aufstehen, Julia, steh auf!"

Julia bleibt liegen. Spürt, wie die Nässe des Dreckes durch ihre Kleider kriecht, Sie hebt die Hand, Betrachtet, ihre von Dreckspritzern umrandeten Muttermale auf ihrem Unterarm.

"Mädchen, was tust du nur, liegst im Dreck, ach Mädchen, steh auf!"

Sie rührt sich nicht. Starrt fasziniert auf ihren Arm, dann auf ihre Hose, ihren Pullover.

"Hoppa, hoppa, Reiter, wenn sie fällt dann schreit sie, fällt sie in den Graben, fressen sie die Raben, fällt sie in den Dreck, ist das Mädchen weg." Dann lächelt sie, zieht ihre Beine leicht an und dreht sich um. Nach und nach, zuerst die Nasenspitze, dann die Lippen, das Kinn, die Wangen, nach und nach presst sie ihr Gesicht in den undurchdringlichen Schlamm. Bis sie nichts mehr fühlt, bis sie nur mehr den Geschmack des Dreckes auf ihrer Zunge zergehen läßt.

Und plötzlich, als sie kaum noch Luft zum atmen hat, als sich in ihr schon alles zusammenzieht und nach Luft fleht, fallen erste Regentröpfchen vom Himmel. Zuerst langsam, dann immer schneller fallen sie auf ihren Rücken, ihre Füße, waschen den Dreck ab, der sich schon an sie angesaugt hat. Lösen zuerst die schon eingetrocknete Kruste, bringen dann die ersten Farben ins Spiel. Zuerst den roten Pullover, dann, die blaue Hose.

Und Julia rührt sich, zuckt mit der Fußspitze, bewegt einen Finger, dann noch einen, hebt den Kopf. Setzt sich zuerst auf die Knie, streckt den Rücken. Steht dann ganz auf, linker Fuß, rechter Fuß, hebt den Kopf. Sie legt ihr Gesicht in den Nacken. Der Regen wäscht zuerst ihre Stupsnase, ihren schmalen Mund, ihre Wangen, ihr Kinn, bis sie, spürt, wie der verflüssigte Sand, endgültig von ihrem Gesicht abrinnt, dick und schwer, zu Boden tropft.

Sie hebt ihre Hände, fährt sich durch das gereinigte Haar, hüpft aus der Lacke und läuft mit ausgestreckten Armen hinunter ins Tal.