Stefanie Panzenböck (14)

 

Vorsichtig tastete Anna sich am Stiegengeländer die Treppen hinauf. Ihr Kopf dröhnte, und für Bruchteile von Sekunden mußte sie die Augen schließen. Die Leute, die ihr begegneten, nahm sie nur noch schemenhaft wahr.

Irgend jemand sagte etwas zu ihr; sie kannte ja eigentlich alle; aber sie verstand ihn nicht, und sie kümmerte sich auch nicht darum.

Ein paar Mädchen, die ihr entgegenkamen, rempelten sie an. »Haben sie alle schon genug von dir?«

Sie blieben kurz stehen und sahen sie hämisch an.

»Dein Lippenstift ist verschmiert!«

Lautes Lachen folgte.

Anna klammerte sich an das Stiegengeländer, als würde sie es als Waffe benutzen können. Sie sah nur noch die großen Münder, die vor Lachen fast zu zerreißen schienen, sie dehnten sich immer weiter aus, wollten sie aufsaugen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie dort verschwinden würde.

Anna versuchte weiter zu gehen. Die Mädchen versetzten ihr noch einen kräftigen Stoß, sie stolperte und verlor das Gleichgewicht auf ihren zu hohen Absätzen, fiel zu Boden. Es drehte sich alles um sie.

»Soll ich dir helfen?«

Anna blickte auf. Der Junge, der vor ihr stand, lachte höhnisch. Sie erkannte ihn wieder, hatte aber seinen Namen vergessen. Vor einer halben Stunde etwa hatten sie sich heftig geküßt; aber vielleicht verwechselte sie ihn ja auch mit jenem, mit dem sie gerade vorher ... egal.

»Ja.« preßte sie heraus und streckte ihm die Hand hin. Ruckartig zog er an, und Anna schlug gegen die Mauer.

»Schlampe«, flüsterte er ihr zischend ins Ohr, während seine Hand nach ihrer rechten Brust faßte. Dann ließ er sie stehen.

Anna atmete tief durch und versuchte, sich zu orientieren. Mit zitternden Händen strich sie ihr Kleid zurecht. Wenn sie zehn Jahre älter gewesen wäre, wäre es ihr wahrscheinlich gut gestanden.

Sie konzentrierte sich und stieg dann schnell die Treppen hinauf und folgte dem Schild »WC«. Sie stieß die Tür auf und stolperte zum Waschbecken und von dort in die nächste Kabine. Sie kniete sich vor der Muschel hin, ihre Finger krallten sich daran fest. In der Nebenkabine schien gerade jemand damit beschäftigt zu sein, seinen Zeigefinger in die Speiseröhre zu zwängen. Das in Sekundenabständen wiederkehrende Würgen ließ Anna zusammenzucken. Sie hielt sich die Ohren zu – erfolglos. Plötzlich wurde ihr Körper heftig geschüttelt, und sie mußte sich übergeben. Hastig tastete sie nach der Klospülung – sie haßte diesen Geruch von Erbrochenem. Als sie sich den Mund abgewischt hatte, kauerte sie sich zitternd am Boden hin und zündete sich eine Zigarette an.

»Haben sie schon genug von dir?« Der Satz dröhnte mit zehnfachem Echo in ihrem Kopf.

»Genug von dir!«

»Schlampe!«

Dabei hatte sie sich immer vorgestellt, wie beeindruckt alle von ihr sein würden, wenn sie in ihrem Alter so viele Freunde haben konnte, wie sie wollte, wie ihre sie anbetenden Anhängsel aus ihrer Klasse sie noch mehr verehren und ihre Rivalinnen vor Neid erblassen würden. Alle würden sie bewundern, und alle männlichen Wesen der höheren Klassen würden bei ihr Schlange stehen.

Anna betrachtete sich. Ihre unregelmäßig rot lackierten Fingernägel leuchteten grell im dämmrigen Licht. Langsam stopfte sie die Watte in ihren Schuhen zurecht, dann zog sie sich an der Türschnalle hoch. Sie drückte die Zigarette aus, die mit einem zischenden Geräusch im Wasser der Klomuschel verglomm. Dann öffnete sie die Tür und ging zum Spiegel. Ihr Lippenstift war tatsächlich verschmiert, die Wimperntusche verronnen. Eifrig begann sie sich nachzuschminken. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihre kindlichen Züge nicht verdecken. Ihr Gesicht sah aus wie eine abbröckelnde Maske.

»Wie ein altes Kind«, hatte ihre Großmutter einmal gesagt. Was wußte die schon. Anna rückte ihren BH unter dem Kleid zurecht. Sie würde ihren Vater anrufen, daß er sie abholen kommt. Sie mußte weg von diesem Ort, wo sie so gedemütigt wurde. Trotzig starrte sie in den Spiegel.

»Schlampe«. »Soll ich dir helfen?« »Haben sie genug von dir?«

Sie würde es allen zeigen, daß sie ihren Stolz hatte. Ruckartig stieß sie die Tür auf und stolzierte in den hell erleuchteten Ballsaal hinein. An der Wand sah sie den Jungen von vorhin. Grinsend kam er auf sie zugeschlendert.

»Komm mit«, sagte er. Er hielt ihr die Hand hin. Anna zögerte. Wenn sie jetzt wegging, würden sie sie alle morgen ignorieren, dann wäre sie uninteressant. So würden sie wenigstens über sie lästern. Ja, sie sollten über sie lästern, besser als gar keine Beachtung.

Sie griff nach seiner Hand. Wortlos führte er sie zu einer Tür in einem Seiteneingang. Er öffnete sie, stieß Anna hinein.

Hinter ihnen hörte man kein Flüstern, kein empörtes Tuscheln, man war es von ihr schon gewöhnt. Mit ihren dreizehn Jahren hatte sie schon oft genug Aufsehen erregt. Jeder hatte sein Schicksal – das war das ihre.

Niemand verlor noch ein Wort über die beiden, als sich endlich die Tür hinter ihnen schloß.