Susanne Müller (14)

WIRKLICHKEITEN

1

Ich habe mich weggeträumt, habe versucht zu fliehen, habe versucht, eine heile Welt für mich und meine Seele zu finden.

Meine Seele und ich sind uns insgeheim Feind, auch wenn es keiner von uns wirklich zugibt; müssen wir doch nach außen hin den Schein wahren, uns zu verstehen. Wir müssen zusammengehören. Es hat so zu sein.

Und doch gehen wir oft getrennte Wege, sind unterschiedlicher Meinung, haben unterschiedliche Ziele. Sofern einer von uns gerade Ziele hat.

Meine Seele ist mein tiefstes, ehrlichstes Ich, an dem ich nichts ändern kann; ich bin wie ich bin, gerade deshalb können wir uns nicht verstehen. Ich hege immer noch die Hoffnung, etwas an mir verändern zu können, träume den so oft geträumten Traum, eines Tages aufzuwachen und jemand Anderer zu sein, eine neue, bessere Hülle um ein verändertes inneres Ich, mein Wunsch-Ich, für das andere Werte gelten, das ich mir anzutrainieren versucht habe und worin ich immer wieder gescheitert bin.

Ich habe mein Leben in die Traumwelt verlegt, habe gelernt, Scheuklappen und einen schützenden, stacheligen, andere abstoßenden Igelpanzer anzulegen und damit durch den Alltag zu gehen. Die Augen zu verschließen, aufzuhören zu fühlen, bis ich wieder, ohne beobachtet zu werden, in meinen Träumen versinken kann. Im Traum gelingt es mir noch, zu glauben und zu hoffen, die Realität ist eine andere. Zwei Ebenen, die aufeinander zu und voneinander weg gleiten, bis sie in mir zu verschmelzen beginnen.

Im Traum sind meine Seele und ich noch eins.

 

2

 

Ich habe begonnen, zwischen Realität und Wirklichkeit zu unterscheiden, bin der objektiven, kalten Realität, dem pflichtgefüllten Alltag dieser Welt mehr und mehr entflohen. Ich habe versucht, mich mehr der Wirklichkeit zuzuwenden, meinen subjektiven Werten der Realität, dem weicheren, wärmeren Teil dieser Welt, habe in die aquarellartige Ewigkeit des Himmels geblickt und die Blätter beim Tanzen beobachtet.

Und dann bin ich hinübergeglitten in die Traum-Wirklichkeit, habe versucht, mir meine eigene, bessere Welt auszumalen, in der ich Ziele verfolge und lerne, richtig zu wollen.

Anfangs war es rettend, zu entfliehen. Es wurde zu meinem einzigen Ziel, mich endlich im Schutz meines dämmrigen Zimmers freizumachen von der ewigen Rationalität meiner Umwelt. Wollte die ewige Kontrolle, die diese Welt verlangt, die Pflicht ablegen und als einziger Geist den Körper verlassen, den Körper und seine Bedürfnisse keine Rolle mehr spielen lassen. Auch ohne Hülle sein.

Damals begann ich richtig zu schreiben, begann Schreiben als mein einziges Ziel zu sehen, wünschte mir frei verfügbare Zeit ohne den Druck von Pflichten und Terminen, wollte mich ungestört meiner Gedankenwelt hingeben.

Damals glaubte ich noch, mich an etwas freuen zu können.

In meiner Traumwelt hatte es keine rationalen Unterbrechungen beim Erfinden gegeben, ich hatte schreibend schillernde Welten und fantasievolle Worte geschaffen.

In der Realität holte der Alltag mich ein, verfolgte mich in meiner Traumwelt, stieß mich immer tiefer in die Welt der Gedanken, indem er mich davonlaufen machte.

Augen zu und durch. Irgendwann würde ich mein Ziel erreicht haben, mein Wunsch-Ich aus dem Traum, könnte die Augen öffnen und in der Wirklichkeit weiterleben. Irgendwann würde der dunkle Tunnel zu Ende sein.

 

3

 

Der Igelpanzer wird dicker. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche, auf mein Wesentliches. Ich unterscheide nicht mehr zwischen Kalt und Warm, zwischen Hunger und Sattsein, ich schaffe es, das Magenknurren zu ignorieren. Es ist nicht wesentlich. Ich unterscheide nicht mehr zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Schmerz und Wohlsein. Die Welten beginnen manchmal zu verschwimmen, mich unsicher zu machen. Doch ich lasse die Unsicherheit nicht zu.

Dinge geschehen automatisch. Ich stehe auf, gehe zur Schule, lasse die Worte der Lehrer durch mich hindurchfließen, nehme sie nicht an. Sitze wie hinter einer Isoliermauer. Ich habe aufgehört zu lernen und Hausaufgaben zu machen, schreibe längst nur noch für mich selbst, um meine Welten zu bewahren.

Ich nehme nichts wahr; längst ignoriere ich das Nörgeln meiner Mutter, weil ich nichts esse, das Mahnen der Lehrer, weil ich nicht lerne, die bohrenden Fragen und das Gespött der Mitschüler. Wozu antworten? Ich bin stumm Menschen gegenüber, bin es tief in mir immer gewesen; habe es früher nur zu verpacken versucht in künstlichen Hüllen aus belanglosen Worten. Die Vergangenheit hat sich entfernt, ist verschwommen, undeutlich, ein Ruf aus weiter Ferne. Ich suche nicht nach ihr. Es ist nur Gegenwart und – vielleicht, irgendwann – Zukunft.

 

4

 

Lethargie. Tage, die aus einer einzigen, grauen ebenen Fläche bestehen, kraftlos, ohne Sonnenauf- oder Untergang. Träge, zähe Müdigkeit kriecht in meine Glieder und zieht mich nach unten, ein Schmarotzer, der mich nach und nach völlig einnimmt. Ich übe zu vergessen. Stummheit, Blindheit, Taubheit. Nur die eigene Welt. Nicht fühlen.

Keine schriftlichen Träume. Ich habe Kraft und Wille zu schreiben verloren. Ich bin tatsächlich stumm geworden, die anderen haben doch Recht, ich bin sprachlos. Auch meine geschriebenen Worte haben nichts zu sagen. Kein schillernder Schmetterling in hässlicher Puppe mehr. Nur noch vertrocknete, graubraune Hülle. Ein Automat, kein Denken, kein Fühlen. Fast ist es Frieden.

Was ist Wirklichkeit, was ist Traum?

 

5

 

Ewigkeit. Schweben. Eins sein mit der Luft, der Melodie des Himmels und den geweinten Tränen. Ein trauriger Tanz im Atem der Unendlichkeit. Blaue Weite, steinerne Seele, nur beim Tanzen traurigschöne Wehmut.

Ich werde nicht ans Ziel kommen. Ich bleibe schweben in der Ewigkeit, wo ich untergehe, nicht auffalle, ein Punkt von vielen bin. Keine Regeln, die mich zwingen zu leben. Keine Realität, in die Menschen mich zurückholen wollen. Ich schweige, bin eine Mauer.

Warum helfen? Sie werden es nicht können.

Ich finde meine Freiheit.

Keine Wirklichkeit mehr, keine Ziele, kein Körper. Nur ein Geist ohne Seele, der sich freigemacht hat vom Irdischen. Keiner kann ihn zurückholen.

Was ist Leben? Was ist Ich?

Ich bin nicht mehr.