Nina Kossegg (17)

Scherben

"Du bist schön." Seine Worte und seine Fingerspitzen malten ihr ein neues Gesicht, eines, das alle Häßlichkeit überdeckte und das sie für ihn wohl liebenswert machte. Sie selbst konnte es nie finden, sooft sie auch danach suchte und sich im Spiegel betrachtete. Und so lachte sie meist, wenn er wieder ihre Schönheit lobte, sanftes Streicheln auf dem schönen Gesicht, manchmal aber verbarg sie das Häßliche unter seinen Armen, dann schwieg sie nur.

Irgendwann schien seine Kunst, ihr schöne Gesichter zu malen, versagt zu haben. Sie wußte nicht genau, wann es passiert war, aber er konnte sie nicht mehr ansehen. Bald schon spürte sie, daß er sie nicht mehr lieben mochte. Sie konnte alleine nicht schön genug sein, denn nichts an ihr war liebenswert. Eine andere Erklärung fand sie nicht.

Und eines Morgens war er dann fort, eigentlich überraschte es sie nicht einmal. Sie hatte ja von Anfang an nicht gewußt, weshalb er sich überhaupt für sie interessierte. Irgendwann mußte er ja einfach erkennen, daß sie nicht schön war und seiner nicht wert.

Als sie den Schalter betätigt, reflektiert der Spiegel das Licht, blendet sie, und eine Weile blinzelt sie sich selbst an. Sie versucht, sich mit seinen Augen zu sehen, schafft es nicht, versucht es mit anderen Augen, den Augen all jener, die ihr einmal sagten, sie sei hübsch oder gar schön. Schließlich laufen ihr Tränen über die Wangen, ihr Bild wohltuend verschleiert; sie schaltet das Licht wieder aus.

Wenn sie durch die Straßen geht, im Tageslicht, schaut sie zu Boden, nur Nachts fühlt sie sich frei. Jetzt ist sie sich ihres Aussehens noch mehr bewußt als früher, vielleicht, weil selbst er sie nicht mehr ansehen konnte. Manchmal machen ihr die vielen Menschen auf der Straße Angst. und wenn sie dieses Gefühl gar nicht mehr loswerden kann, das Gefühl, angestarrt zu werden, läuft sie, rennt, bis sie zu Hause ist.

Dort sperrt sie sich in ein Zimmer, das sie völlig verdunkelt, dort tanzt sie, sobald sie sich selbst nicht mehr sehen muß. Die Musik, die sie umgibt, ist zu laut, ist für sie aber gerade laut genug, um ihren eigenen Atem, ihren eigenen Herzschlag nicht mehr hören zu müssen. Ihr ganzer Körper wird zum Fell einer Trommel, und sie spürt den Rhythmus im Bauch, im Kopf – überall. Ihre Hände werden zu Schmetterlingen, die flatternd Geschichten erzählen. Vielleicht ist sogar ihr ganzer Körper Bewegung in der Dunkelheit, jedenfalls kann sie im Tanz alles vergessen. Manchmal wirft sie diesen Körper um sich wie im Fiebertraum, dann wiegt sie ihn wie ein totgeborenes Kind.

Sie versucht, wieder so zu leben, wie sie es vor ihm getan hat, versucht, alles wieder als selbstverständlich hinzunehmen. Aber er hat ihr Zweifel zurückgelassen. Da sind diese Worte in ihrem Kopf, die sie wiederholt, umkehrt, dreht, und die doch die gleichen bleiben: "Du bist schön."

Immer wieder betrachtet sie sich im Spiegel, sucht das, was er vielleicht gesehen hat, immer öfter, findet es nicht – manchmal ist vielleicht ein Ahnen in ihr.

Nachts läuft sie durch die Straßen, sucht Freiheit nach der Enge ihrer Wohnung, manchmal geht sie sogar mit hoch erhobenem Kopf, wenn es keiner sehen kann. Sie spricht zu den Sternen, zu den Straßenlampen ebenso, sie will es nicht unterscheiden. Nur das Licht zählt.

Wieder zu Hause tanzt sie, stundenlang, bis sie nicht mehr denken muß, bis die Erinnerung verblaßt. Wenn sie tanzt, ist sie unerreichbar und niemand sieht.

Plötzlich steht sie vor dem Spiegel, nur eine Sekunde lang, dann schlägt sie zu. Die Arme um den Kopf geschlungen, steht sie da in der Stille, die das gläserne Brechen hinterläßt. Zögernd läßt sie die Arme wieder sinken, der Boden ist voller Scherben und Blut. Sie bückt sich und nimmt die größte, und wieder sieht sie, betrachtet ihre Augen, die Nase, schließlich den Mund. Fassungslos sieht sie, wie er zu lachen beginnt. Sie lacht wie irr, hemmungslos, bis ihr Körper sich krümmt und die Spiegelscherbe in ihren Händen zittert. Als sie ruhiger wird, fährt sie sich durchs Haar.

"Du bist schön." Sagt sie zu denen im Scherbenhaufen. Zärtlich nimmt sie die Scherben und drückt sie in ihr Gesicht.