Christina Kogler (15)

DU

Mein Atem geht laut auf und ab. Keuchend laufe ich den Berg hinauf. Schweiß steht mir mitten auf der Stirn, und ich werde verschlungen in Gedanken, Gefühlen.

Warum? Warum bist du nicht mehr da? Ich brauche dich! Ich brauche dich doch so sehr!

Ich laufe, höre meinem Atem zu. Renne mir meine Angst aus dem Bauch, zumindest versuche ich es. Rennen, laufen, schneller, schneller, schneller. Ich kann nicht mehr, bleibe stehen. Langsam sacken meine Knie zusammen, und ich sinke auf den schlammigen Boden.

Reglos den Kopf in die dreckigen Arme gestützt, wiege ich mich hin und her.

Versuche mich zu beruhigen.

Wer warst du eigentlich? Warum bist du weg?

Weinen ist wunderschön! Wie oft habe ich diesen Satz aus deinem Munde gehört. Das ist auch jener Satz, mit dem man dich wohl am Besten beschreiben könnte.

Oder sollte ich sagen "konnte"?

Ich kann mich erinnern, einmal war ich traurig. Ich wollte weinen und konnte es nicht. Da bist du zu mir gekommen. Hast aus deinen pechschwarzen Augen eine Träne mit der Spitze deines Zeigefingers aufgefangen. Langsam fuhrst du mit deiner Träne zu meinem Mund, legtest sie auf meine Lippen. Ich spüre heute noch das salzige Etwas, dass fast ein wenig süßlich war.

Seit jener Zeit kann ich immer weinen.

Außer heute. Heute kann ich es nicht.

Weißt du, eigentlich haben deine Tränen einen ganz eigenartigen Geschmack. Es mag vielleicht ein wenig lächerlich klingen, und ich habe es dir nie erzählt, aber seit jener Zeit habe ich immer verschiedene Tränen gekostet, meistens meine eigenen. Sie alle haben verschieden geschmeckt. Ein wenig sauer, süß, salzig, aber keine Träne war so wunderbar wie deine.

Schade, dass ich nicht mehr mit dir weinen kann, deine Tränen kosten.

Dann, als du älter wurdest, kam der Tag, an dem du weggegangen bist. Du wolltest uns nicht verlassen, wolltest nur anderen, ärmeren Menschen helfen. Das habe ich an dir immer so bewundert. Du liebst die Menschen. Wolltest schon immer ein paar ihrer Fehler durch gute Taten ausbessern. Du bist weg, in ein fremdes Land gegangen.

Dein Traum war es, dass Menschen nicht weinen müssen, sondern weinen dürfen, können.

Einen Welt voll Friede, überströmt mit deiner Liebe.

Du bist gegangen, aus meinem Leben verschwunden. In andere Leben, die dich wahrscheinlich nötiger brauchten.

Jede Woche kam ein Brief von dir. Aus Afrika, Brasilien, Chile. Hast mir immer Bilder geschickt von Schulen, die du errichtet hast. Du bist aufgeblüht in den fernen Ländern.

Hast mir oft geschrieben von viel Lachen und auch wunderschönem Weinen. Manchmal aber kamen Briefe, die traurig waren, du hieltest das Elend der Menschen nicht mehr aus. Dann waren deine Briefe verschwommen von Tränen. Zum Schluß stand aber immer da: ich werde den Menschen trotzdem helfen. Und jetzt, und jetzt, und jetzt ...

Vorige Woche habe ich auch auf einen Brief von dir gewartet. Er kam nicht. Aber heute kam ein Brief von einer Frau. Sie schrieb, du seist tot.

Tot, richtig tot, von einem Auto überfahren. Du, die du das Leben so sehr liebtest.

Ein Kind ist auf die Straße gerannt, und du hast es gerade noch retten können. Dir selbst aber, konntest du nicht mehr helfen.

Ich stehe auf. Klopfe mir den Schmutz ein wenig von den Kleidern. Erst jetzt sehe ich die wundervolle Blumenwiese neben mir. Ich lege mich in dieses nach Honig duftende Blumenbett. Schaue in den Himmel, beobachte die Wolken, höre das Rauschen des Baches, spüre den leichten Windzug, freue mich und weine Tränen. Ein salziges Etwas, fast ein wenig süßlich schmeckend.