Andrea Kern (17)

Wortlos

Ich möchte Ihnen ein Geständnis machen. Nein, nein, lenken Sie jetzt nicht ab. Lassen Sie diese abwehrende Bewegung ihrer Hände, zu der Sie nun ansetzen, beide Handflächen mir entgegengestreckt, als wollten Sie das von sich schieben, was zu sagen ich Ihnen zugedacht habe. Haben Sie keine Angst vor Intimität, denn Sie gefallen mir.

Zugegeben, wir kennen uns nur kurz, viel zu kurz für solche Offenherzigkeiten, auch wenn der Anschein von Vertrautheit sich zwischen uns gelegt haben mag und wir womöglich für einander leichte Sympathien empfinden, da wir jetzt ja ein nettes Gespräch miteinander führen, beide um diesen Tisch herum, in diesem Café.

Aber genau deswegen will ich Ihnen mein Geständnis ablegen, damit keine Ungereimtheiten bleiben, wenn Sie diesen Raum verlassen, damit Sie nicht verwirrt sind, wenn Sie gehen.

Hören Sie auf, verlegen zur Seite zu blicken, sehen Sie mich an, sehen Sie jedes Wort, das ich spreche, wenn ich nun bekenne.

Ich bin eine Schweigerin, und wenn ich rede, dann sage ich nichts.

Überrascht Sie das? An Ihrem Gesichtsausdruck kann ich erkennen, daß Sie erstaunt sind, dieses Geständnis zu hören. Natürlich, Sie konnten dies ja auch nicht ahnen, als Sie das Café betraten, mich sahen, die Frau mit dem aufmerksamen Blick in die Leere.

Oder Sie ahnten derartiges vielleicht doch, haben es nur nicht erwartet in diesem Augenblick, konnten solches auch nicht erwarten, als Sie mich ansprachen, mich baten, an meinem Tisch Platz nehmen zu dürfen.

Sehen Sie mir in die Augen. Ich gestehe, ich verbringe den größten Teil meines Lebens schweigend. Ich kann tagelang schweigen, kann tagelang kein Wort über die Lippen bringen, könnte es für Wochen, für Monate, wenn nicht diese Kleinigkeiten wären, diese Wortwechsel zwischen Tür und Angel, Begrüßungen, flüchtige Unterhaltungen, Höflichkeiten.

Jedes Wort, das ich nach einer längeren Periode des Schweigens formen muß, klingt unverständlich, undeutlich, da meine Stimme dann schrill und heiser ist, verzerrt, als müßte ich von Neuem beginnen, Sprechen zu lernen.

Manchmal schmerzt dieses Worteformen, wenn die Stimmbänder zu ungeübt sind und die Zunge taub im Munde liegt, unfähig, die treffende Bewegung zu finden. Dann sehne ich mich nach dem Stillschweigen, denn ich schweige leidenschaftlich gern.

Hören Sie auf, verlegen am Tischtuch zu zupfen, hören Sie statt dessen mir zu, denn die Frau, die Sie anlächeln, ist eine Schweigerin, das müssen Sie wissen, sich dessen immer bewußt sein.

Mehr noch. Meine Leidenschaft stößt manchmal an die Grenzen der Boshaftigkeit, auch das möchte ich Ihnen gegenüber zugeben, denn meine stille Anwesenheit ist schleichend, durchdringend. Diese Begeisterung für das Schweigen ließ mich sensibel werden und geübt. Ich kann schweigen, wie andere Menschen schreien können. Gespräche versiegen, weil ich nicht spreche, und in meiner stummen Anwesenheit werden die anderen still, bis jeder Teilnehmer des Gespräches schweigt und bedrückt zu Boden starrt. Dann erst kann ich sie verstehen, denn ich kann in ihrem Schweigen lesen.

Ich höre schweigende Menschen sogar im Verkehrslärm oder im Konzertsaal, wenn sie der Musik zuhören. Auch hier wollte ich sie belauschen, die Schweigenden, hier in diesem Café, bis Sie kamen und mich unterbrachen.

Natürlich, ich verstehe, was Sie mit diesen leichten Bewegungen ihrer Hände andeuten wollen, daß wir uns doch unterhalten haben, mit lauten verständlichen Worten. Aber erinnern Sie sich, ich habe doch nichts wirklich gesagt.

Sehen Sie, jetzt lachen Sie, jetzt glauben Sie mir. Ich habe Ihnen mein Geständnis abgelegt, denn Sie gefallen mir. Bleiben Sie sitzen und schweigen Sie, oder fehlen Ihnen die Worte?