Christine Jeindl (17)

Mein Lieblingsbuch

Es ist blau und es hat eine rauhe Oberfläche. Nicht wirklich rauh; gerade so, dass ich es spüre, wenn ich mit den Fingerspitzen darüberstreiche. Ich kann es richtig fühlen ...

... Wie damals, als ich es zum ersten Mal in meinen Händen hielt.

Ich hatte gar nicht danach gesucht, als ich es plötzlich fand. Auf einmal war es da. Ein Buch, wie ich es nie zuvor gesehen hatte: auf dem Buchrücken kein Titel, kein Autor, nur Blau; und auf der Hinterseite statt eines Klappentextes nur eine Liste von Namen.

Was hatte das alles zu bedeuten? Wer hatte dieses Buch geschrieben?

Die Namen kamen mir bekannt vor, aber ich wusste nicht woher. Waren es vielleicht Dichter oder Philosophen, von denen ich irgendwann einmal etwas gehört oder gelesen hatte? Nein, diese Namen waren mir auf eine andere Art vertraut. Wie Menschen, mit denen ich schon einmal geredet hatte. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Unheimlich.

Eine Angst überkam mich. Ich will es nicht lesen! Ich stand da, hielt das Buch in meinen Händen, und schloss die Augen. Vielleicht sollte ich es einfach fallen lassen und langsam weggehen, als hätte ich es nie gefunden. Ich konnte dieses Buch nicht lesen. Meine Angst, es nicht zu verstehen, war einfach zu groß.

Also beschloß ich, es jemandem zu geben, in dessen Händen es einen Sinn ergeben würde ...

Aber als ich die Augen öffnete und sah, dass das Buch in meinen Händen war, spürte ich, dass entweder ich es lesen würde oder niemand.

Am schönsten fand ich die Gedichte.

Manche waren so traurig, dass meine Tränen die Wörter verwischten und sie zu einem Meer vereinten, in das ich dann tauchte, ganz tief ...

Andere waren Reime der Glückseligkeit, kindliche Schwärmereien. Ich schwebte im Himmel. So hoch, dass ich gar nicht umblättern wollte.

Manchmal war das Lesen sehr schmerzhaft. Schreckliche Sachen passierten, und ich wusste nicht einmal warum. Aber ich durfte nichts überblättern, musste alles lesen, Zeile für Zeile. Und es tat weh.

Später versuchte ich, diese Seiten auszureißen ... aber es ging nicht.

Dann kam eine Stelle, die ich nicht lesen konnte. Ich meine, ich verstand die Wörter, und die Sätze waren logisch, aber trotzdem verlor ich immer wieder den Faden und las weiter, ohne zu verstehen. Nein, eigentlich las ich gar nicht mehr. Sah die Wörter nur mit den Augen, konnte sie nicht in mich aufnehmen. Weil es nicht meine Wörter waren, sie bedeuteten mir nichts. »Warum versuche ich eigentlich krampfhaft, mich auf etwas zu konzentrieren, das mir gar nicht wichtig ist? Nur weil es jemand vor mir geschrieben hat? Weil es mir jemand vor-geschrieben hat?«

Ich klappte das Buch zu, legte es auf meinen Schreibtisch, und schaute es lange an ...

Es war langweilig geworden, interessierte mich einfach nicht mehr. Lustlos und frustriert begann ich dann doch wieder, darin zu blättern. Ich suchte nach einem Gedicht, das mich aus dieser Gleichgültigkeit reißen würde. Aber ich fand keines. Wahrscheinlich war es doch ein schlechtes Buch. Ein paar Seiten waren nicht einmal bedruckt.

Ich fühlte Wut. Wut auf das Buch, weil es doch nicht so faszinierend war. Und Wut auf mich selbst, weil ich mich so leicht hatte faszinieren lassen. Als diese Wut so groß war, dass sie keinen Platz mehr in mir hatte, nahm ich einen Stift und schrieb sie in das Buch. Auf eine von den blöden leeren Seiten. Und als diese voll war, suchte ich gleich die nächste unbedruckte Seite. Dabei stolperte ich aber über ein wunderbares Gedicht und die Wut war weg.

Jetzt wusste ich, warum manche Seiten leer waren. Für mich. Ich konnte in mein Buch schreiben! Was ich wollte, wie ich wollte. Ich wollte! Und ich schrieb auf die weißen Seiten, manchmal auch zwischen die Zeilen eines schon vorhandenen Gedichts. Es war ein so unglaublich schönes Gefühl. Ich schrieb, ich las, und die langweilige Stelle malte ich mit bunten Farben an, damit ich mich nie wieder über sie ärgern musste.

Oft schreibe ich eigenartige Gedanken, verwirrende Geschichten, traurige Gedichte.

Oft lese ich, trete ein in eine andere Welt und bleibe für eine Zeit dort.

Und manchmal streiche ich mit meinen Fingerspitzen über die rauhe Oberfläche, um es einfach nur zu spüren. Wie damals, als ich es fand.

Wenn du kommst und mich fragst: »was liest du?«, antworte ich: »ich weiß es nicht«. Und wenn du dann neugierig wirst, sofort die Hand nach meinem Buch ausstreckst und mich fragst: ,»darf ich mal kurz schau’n?« werde ich zusammenzucken und sagen: »nein, bitte nicht«.

Aber wenn du dich neben mich setzt und gar nichts sagst, mich schreiben und lesen lässt, wie ich will ... Wenn du eine Zeit lang einfach nur neben mir sitzt und ich spüre, dass du da bist ... dann lese ich dir vielleicht etwas daraus vor. Wir könnten Gedichte miteinander teilen, die uns beiden gefallen; und wenn ich wieder eine schmerzliche Stelle lesen muß, bitte ich dich vielleicht darum, meine Hand zu halten.

Und wenn du willst, kannst du auch etwas hineinschreiben. Einen Traum vielleicht, eine Geschichte, oder ein schönes Wort ...

Aber nur, wenn du wirklich willst.

Denn das Buch ist mein Leben ...

... Und es ist mein Lieblingsbuch!