Marlene Happacher (16)

Das letzte Glitzern

Er sah helles Glitzern, sanft, fließend. Es gefiel ihm, und er blickte genauer hin. Sein Sichtfeld weitete sich, und er erkannte Augen, die ihn fragend und ängstlich betrachteten.

Ein entfernter Laut drang in seinen Kopf, zuerst zögernd, dann allmählich stärker und aufdringlicher. Er zweifelte, doch es war wirklich eine Stimme, sogar eine sehr bekannte. Er versuchte, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, doch kaum schien er etwas Greifbares gefunden zu haben, rückte erneut alles weit fort von ihm. Er kam sich einsam vor und war misstrauisch, selbst auf seine Sinne konnte er sich scheinbar nicht verlassen. Er rang mit allen Kräften nach etwas Klarheit und tastete im Geist seinen Körper ab, versuchte, sich sachte zu bewegen – es gelang ihm nicht.

Sein Leib erbebte, und er bemerkte, wie kalt ihm eigentlich war. Er schlotterte. Mit diesem Sinn, der ihn Kälte spüren lies – als bräche urplötzlich in seinem Hirn ein Staudamm – stürzten alle Sinne über sein Bewußtsein herein. Sie kamen so plötzlich: Viel zu laute Geräusche, verwirrende und bizarre Formen und Gestalten, deren Zweck er nicht ausmachen konnte; er atmete stickige Luft und schmeckte Blut auf seiner Zunge. Seine Wahrnehmung war erwacht, und was er wahrnahm, erschreckte ihn.

Er sprang auf, zog alle Schläuche an seinen Armen und an seinem Kopf hinter sich her, schleppte sich einige Schritte, nur um zu entdecken, dass ihm die Beine unterm Körper einknickten.

Er stürzte, und mit ihm auch der Mut, das Aufstehen nochmals zu versuchen. Verblüfft starrte er nur mehr an die schmutzig weiße Decke über sich und fragte sich, wo er war. Alle Erinnerung war weg. Er wußte weder, wer er war, noch, was er hier zu suchen hatte. Er bemerkte die herumschwirrenden Gestalten um sich nicht, denn ihre kühle Aufmerksamkeit, die anscheinend ihm zu gelten hatte, half nicht gegen die Verzweiflung, die in seinem Herzen anschwoll. Sie erfüllte ihn überschwemmte ihn und riss ihn mit sich. Er ließ er zu. Schemenhaft dämmerte ihm die Realität, doch sie schien ihm viel zu hart und viel zu wahr. Er zwang sich wieder an das weiche Glitzern zu denken, beruhigte sich und fiel in ein tiefes Koma zurück ...

Monate waren seitdem vergangen, und so sanft, wie er damals in den Schlaf zurückgesunken war, so sachte rückte auch dieses Mal die Erinnerung fort von ihm. Erst um so vieles später konnte er die Erinnerung ertragen und die gesehenen Augen und die wahrgenommene Stimme auch einem Gesicht und einem Körper zuordnen. Es war seine Liebste gewesen, sie hatte ihn nach der Operation besucht. Und das Glitzern, das angenehme, liebliche Leuchten waren die Tränen gewesen, die sie für ihn geweint hatte. Es hatte ihm nachher immer leid getan, dass er sich an ihren Tränen hatte erfreuen können, trotzdem hatte es ihn mit Kraft erfüllt. Kraft, die ihm das Liegen im Krankenhaus immer genommen hatte und an deren Stelle die Wut auf die beruhigend beigen Zimmerwände und der Zorn auf die maskenhaften Gesichter in den Gängen getreten war Wäre es ihm möglich gewesen, er hätte dieses Krankenhaus in die Luft gesprengt mit seinen bloßen zornerfüllten Schreien.

Er ließ alle Erinnerungen hinter sich, denn ihre Augen, in die er gerade blickte, verlangten seine ganze Aufmerksamkeit.

Es schien ihm, als hätte sie aufgehört, um ihn zu weinen, er konnte kein Glitzern, kein Glänzen erkennen. Sie stand an seinem Bett, ihre Kleidung war nicht weiß, ihre Haut nicht beige, doch ihr Gesicht ... maskenhaft. Er fürchtete sich.

Er wollte nicht die einzige Quelle, aus der er Kraft schöpfte, versiegen sehen.

Er blickte nochmals in ihre Augen ... keine Tränen.

Er ließ sich nichts anmerken, doch er wusste, dies war ihr letzter Besuch.

Sie ging.

Es verstrich eine Nacht, ein Tag und noch einer, er lag nur da, dachte nicht nach.

Unvermittelt stand er auf, hinkte ins Bad und betrachtete sich im Spiegel.

Dadurch konnte er oft in sich hinein sehen, doch dieses Mal sah er durch sich hindurch.

Er sah nur sein beiges Gesicht, die bleiche Haut, das stumpfe Haar.

Eine Erkenntnis packte ihn und schüttelte ihn.

Das Glitzern, das er immer gesehen hatte, hatte in seinen Augen geleuchtet und war nun erloschen.

Er blickte in die Leere, die sich in ihm auftat, ging mit schleifenden Schritten zurück an sein Bett; er legte sich hin und schloss die ermüdeten Augen.