Hans-Ulrich Gößl (19)

Ein Spielzug

Der neue Fahrgast schiebt die Abteiltür auf, er stellt den Koffer auf die Ablage, er sagt:

»Ich bin ein Mörder. Verzeihen Sie, wenn ich so offen bin, aber ich möchte, dass man weiß, woran man bei mir ist. Wissen Sie, eigentlich hat meine Zuneigung immer den impulsiven Menschen gehört, denen, die in einer Auseinandersetzung ein Messer zücken und ihrem Widersacher die Kehle aufschneiden. Ich lese in den Zeitungen immer wieder, dass ein Milchmann erschlagen wurde oder ein Postbote erwürgt. Ich habe diese Menschen immer bewundert.«

»Ich hingegen bin vielmehr ein strategischer Mensch, müssen Sie wissen.«

Er setzt sich umständlich.

»Spielen Sie Schach?«

Der Zug hat in einem kleinen Provinzbahnhof ohne Bahnsteige gehalten. Es ist früher Morgen, noch dunkel. Das Bahnhofsschild ist nicht zu lesen. Türen zischen. Mit einem leichten Rucken setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Der neue Fahrgast nimmt seinen Koffer von der Ablage und holt ein Schachbrett daraus hervor. Er wartet taktvoll mit einem fragenden Schweigen. Dann beginnt er, die Figuren aufzustellen. Seine Finger streifen lautlos über den schwarzweißen Raster, hastig, betasten die Figuren aber sorgfältig, rücken sie zurecht, drehen sie in ihren Kuppen.

»Ich gewinne meistens«, sagt der neue Fahrgast trocken, »wirklich. Obwohl ich kein besonders guter Spieler bin.«

Der Zug hat den kleinen Bahnhof hinter sich gelassen. Vor dem Abteil sind kurz Schritte zu hören, dann Stimmen, wieder das Zischen einer Tür, dann nichts. Der neue Fahrgast fingert eine Zigarre aus seiner inneren Manteltasche und beginnt sie gelassen zu schneiden.

»Eigentlich hätte man mich längst verhaften müssen. Sie werden staunen, aber man hat mich niemals verurteilt. Nicht dass es keine Beweise gegeben hätte. Ich bin ein strategischer Mensch und hinterlasse Spuren. Aber es wurde niemals ein Urteil gefällt. Um genau zu sein: In keinem Fall wurde Anklage erhoben ... Sie können beginnen.«

Der neue Fahrgast zündet sich seine Zigarre an, seine Wangen fallen ein, als er daran zieht. Er bläst den Rauch in die Luft, er sagt:

»Ich spiele gewissermaßen nicht, um zu gewinnen, müssen Sie wissen. Es interessiert mich mehr, den Spielverlauf zu beobachten, die aufbauenden Angriffe, von beiden Seiten, meine ich, bis einer einen Fehler macht, Sie kennen das ja, es macht einer einen Fehler, und plötzlich steht ihm das Wasser bis zum Hals, und er wird unkonzentriert, er wird nervös. Es freut mich, wenn mich jemand überrascht. Aber ich sage ja: Meistens gewinne ich ... Es stört Sie nicht, wenn ich rauche?«

Seine Finger liegen ineinander verschränkt am Rand des Schachbrettes, die beiden Daumen reiben unmerklich aneinander, bis die Handflächen sich lösen, die Finger eine Figur nach vor schieben, hastig, knapp.

»Es stört Sie nicht? ... Sie müssen verzeihen, ich trage leider nur Zigarren bei mir. Ich bin kein Mensch, der immer ein Messer bei sich hat, um jemandem die Kehle aufzuschneiden. Das habe ich noch nie gemacht. Dabei kann ich es mir vorstellen, Sie auch? Sie setzen das Messer an, und das flutscht wie in Butter, ganz leicht flutscht das in den Hals, wie unten bei einer Frau hinein, sag ich Ihnen, so stelle ich mir das vor. Wenn es Sie stört, sagen Sie es mir. Ich will Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten ... Sie sind am Zug.«

Der neue Fahrgast bläst den Rauch in die Luft und blickt aus dem Fenster, während er nicht am Zug ist. Eine Fliege surrt protestierend laut gegen die Scheibe. Der neue Fahrgast öffnet kurz das Fenster, um die Fliege nach draußen zu lassen. Er fragt:

»Warum haben Sie nie einen Menschen umgebracht? Es ist ganz einfach, sag ich Ihnen. Es muss ja kein Messer sein, wenn Sie damit Probleme haben und immer an Ihre Frau denken müssen, oder ich weiß nicht woran ... Ohh!«

Der neue Fahrgast lächelt kopfschüttelnd.

»Sehen Sie’s nicht?«

Der Zug fährt mit hoher Geschwindigkeit, und von der Landschaft ist nun wenig zu sehen; blaugraue Flecken, drei Bäume, der dunkle Horizont, hinter dem der Himmel alabasterfarben aufhellt. Der neue Fahrgast raucht lächelnd seine Zigarre.

»Wenn Sie wollen, können Sie auch eine Motorsäge nehmen, das ist grundsätzlicher, oder Sie können jemanden vergiften, wie Sie wollen, ihn kochen, ihn aufessen, zum Verkauf anbieten. Das ist Geschmackssache. Ich jedenfalls habe solche Menschen immer bewundert.«

Er lehnt sich entspannt in seinen Sitz zurück, betrachtet das Schachbrett, legt die Stirn in Falten. Er sagt:

»Auch meine Opfer waren meist Ahnungslose. Ich weiß nicht, weshalb die sich darauf eingelassen haben. Dabei haben sie’s bemerkt. Ich habe immer gesagt, wer ich bin. Ich möchte, dass man weiß, woran man bei mir ist. Ich öffne die Tür, ich stelle mich vor ...«

Die Tür öffnet sich, und der Kontrolleur verlangt wortlos die Fahrkarten. Danach ist abermals ein Zischen zu hören. Der neue Fahrgast blickt wieder nachdenklich aus dem Fenster.

»Glauben Sie, es wird ein schöner Tag?«

Er scheint das Schachspiel weniger angespannt als zu Beginn zu verfolgen, tippt die Asche seiner Zigarre in den Abfallbecher. Er spricht leiser.

»Ich habe wahllos Menschen umgebracht, aber nie ohne System, was es schwieriger macht, müssen Sie wissen. Und hinterher habe ich mich oft gefragt, ob ich nicht doch ein Messer bei mir tragen sollte, ein kleines Messer in der Hosentasche, das würde genügen ... Sehen Sie, jetzt sind Sie unkonzentriert.«

Der neue Fahrgast steht auf, greift sich in die Hosentasche, holt ein Taschentuch hervor und beginnt eine bereits geschlagene Figur abzuwischen. Dann stellt er sie sorgfältig wieder an den Rand des Schachbrettes. Er setzt sich wieder.

»Sie sind unkonzentriert. Sehen Sie’s denn nicht?«

Der Zug fährt langsamer. Es ist heller geworden, und der Wald im Hintergrund schimmert tannengrün, an den Spitzen ein wenig rosarot. Der neue Fahrgast hat seinen Mantel nicht ausgezogen. Er dämpft den Zigarrenstummel aus. Er legt den gegnerischen König um.

»Sehen Sie’s jetzt? Hier: In vier Zügen sind Sie matt. Sie haben verloren. Verzeihen Sie. Aber ich bin ein leidenschaftlicher Spieler.«

Der Zug schiebt sich stählern in einen Kleinstadtbahnhof. Als er anhält, fällt der Zigarrenstummel vom Fensterbrett und rollt ins erste Morgenlicht. Der neue Fahrgast packt das Schachbrett wieder in den Koffer. Er steht auf. Er öffnet die Abteiltür.

»Sie haben recht. Es wird ein schöner Tag.«

Der Bahnsteig ist leer, als er aus dem Zug steigt und im Bahnhofsgebäude verschwindet. Ein gelockertes Schild schwenkt im Wind.

Als wenig später der Kontrolleur die Abteiltür öffnet, entdeckt er den Toten, der sich an der Gepäckablage erhängt hat. Der Kontrolleur hebt einen Zigarrenstummel vom Boden auf und schließt gelangweilt das Abteil.

Der Zug fährt weiter, und der Tote bewegt sich leicht.