Nicole Gimpl (17)

 

Loslassen

 

– Es wäre besser für Ihre Freundin, wenn man die Maschinen abschalten würde.

 

Die Worte des Arztes klingen in mir nach, als wäre mein Körper eine einzige, große, leere Halle. Viel mehr hat er gesagt, doch das ist das Einzige, das ich registriert habe.

 

– Die Verletzungen sind zu schwerwiegend.

 

Das ist nicht sie, die da vor mir liegt. Weiß, schwach, und das bißchen Leben in ihr an Maschinen gebunden. Das kann sie nicht sein. Sie ist mir doch vertrauter als mein eigenes Spiegelbild, aber die Person, die ich hier sehe, erscheint mir unendlich fremd.

 

Vier Schritte sind es vom Bett bis zur Tür, und mich überkommt ein fast unwiderstehlicher Drang, diese aufzureißen und einfach wegzulaufen. Weg von ihr, obwohl wir uns einmal geschworen haben, einander nie allein zu lassen.

Statt dessen bleibe ich stumm sitzen und halte ihre Hand in der meinen. Das ist das Einzige, was ich tun kann; hier sitzen und darauf warten, dass die Ungewißheit ein Ende nimmt.

 

Wie oft habe ich schon ihre Hand gehalten, auch vor wenigen Stunden, als man sie nach dem Unfall in den OP schob. Da lächelte sie noch. Oder habe ich mir das eingebildet? Sie lächelte. Sie lächelte immer; wenn es ihr schlecht ging, sogar unter Tränen.

 

Jetzt lächelt sie nicht mehr.

 

- Diese Stille. -

 

Nur dieses monotone Piepen, das mir sagt, dass sie noch am Leben ist.

Noch am Leben.

 

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie es passiert ist. Zu viele Menschen haben mich das gefragt. Ich weiß, dass ich hinter ihr hergefahren bin. Ich weiß, dass ich dabei war, aber ich weiß nicht, wie es passiert ist.

 

– Sie stehen unter Schock. Sie sollten sich hinlegen.

 

Ich will mich nicht hinlegen. Darf mich nicht hinlegen. Wir haben uns doch geschworen, einander nie allein zu lassen, egal, wer uns weh tut. Und ihr wird weh getan.

 

– Sie zittern. Ist Ihnen kalt?

 

Ich zittere, seit ich hier bin. Doch nicht, weil mir kalt ist. Kälte spürt man, und ich spüre nichts mehr. Es ist, als würde ein Teil von mir hier vor mir liegen.

 

– Es wäre besser ...

 

Ich will es nicht hören.

 

Noch nie hat es so geschmerzt, sie anzusehen. Ich wünschte, sie würde flüstern oder auch schreien. Noch nie hat ihr Schweigen so weh getan.

 

Doch mitten in der Stille höre ich sie plötzlich kreischen, höre die Bremsen quietschen, höre ihren Aufprall auf dem regennassen Asphalt.

 

Ich schließe die Augen. Aber auch jetzt sehe ich das verhaßte Bild, das ich nicht sehen will:

die mintfarbenen Vorhänge, das Waschbecken mit dem Desinfektionsmittel, die Maschinen, deren Teil sie ist.

Noch ist sie am Leben.

 

– Sie sollten nicht hier sitzen. Ist nicht gut in Ihrem Zustand.

 

Es ist der falsche Augenblick für Belehrungen. Die falsche Stunde, der falsche Tag, das falsche Leben.

Sie hat mich nie belehrt. Ich mußte ihr nichts erzählen, und gerade deswegen erfuhr sie alle meine Geheimnisse, die guten und die schlechten.

 

Wie oft bin ich wach gelegen und habe ihr, wie jetzt, beim Schlafen zugesehen. Wie oft habe ich mit ihr gelacht und viel zu oft geweint. Wie oft ... und doch erscheint mir jetzt alles zu selten.

 

Wenn die ganze Welt mich anlog, war sie die Einzige, die ehrlich zu mir war. Sie war der einzige Mensch, in dessen Arme ich flüchten konnte, wenn ich nicht mehr wußte, wohin ich gehörte. Jetzt sind ihre Arme von Nadeln zerstochen.

Jetzt ist niemand bei mir, der mir verspricht, dass alles wieder gut wird. Manchmal braucht man Lügen, um die Wahrheit leichter zu ertragen.

 

– Sind Sie schon lange mit ihr befreundet?

 

Ich weiß nicht, ob es Wochen, Monate oder Jahre sind, die ich mit ihr verbracht habe. Ich habe die Zeit verloren. Plötzlich war sie da, nahm mich gefangen mit ihrem Lächeln und veränderte alles in mir. Mein Leben begann mit ihr, und ich weiß, wenn dieser Piepton verstummt, stirbt ein Teil von mir.

 

– Sie sieht so friedlich aus, finden Sie nicht?

 

Ich sehe sie kämpfen, gegen etwas, das man nicht sehen kann. Merke, wie sie kämpft, obwohl sie regungslos hier liegt. Ich spüre jeden einzelnen Nadelstich auf meinem Körper, fühle jeden Atemzug, der sich durch ihren Leib quält.

Noch ist sie am Leben.

 

Ich war dabei.

Habe alles gesehen und vergessen.

 

– Kann ich irgend etwas für Sie tun?

 

Ich will, dass sie mich ansieht, dass sie aufsteht; will, dass es so ist, wie es immer war und dass es nie endet.

 

- Ich will mit ihr allein sein. -

Das, wogegen sie ankämpft, kommt immer näher.

 

Sie ertrug es nie, wenn man von ihr ging, ohne sich verabschiedet zu haben. Jetzt ist es Zeit, ein letztes Mal Abschied zu nehmen.

Ich versuche, sie nicht anzusehen, denn ich will sie nicht so in Erinnerung behalten. Ich will nicht, dass ich, wenn ich an sie denke, immer nur dieses Bild von ihr vor meinen Augen habe. Langsam lockere ich den Griff um ihre Hand.

 

Ich lasse sie los.

 

– Zum ersten Mal gehen wir getrennte Wege.