Christof Capellaro (17)

 

Verfehlungen

 

Matt fällt das Sonnenlicht auf den Asphalt. Die Hitze ist hier über der Stadt besonders unerträglich, aber die Kinder die am Straßenrand spielen, scheint das nicht zu stören. Ene-Mene-Muh, draus bist du, der Finger des kleinen Mädchens zeigt unerbittlich auf einen ihrer Mitspieler und er muß den Kreis verlassen. Jetzt ist er draußen.

Gewaltig erhebt sich das Haus des Dichters auf dem Hügel; etwas abseits liegt es. Weiße Mauern. Davor ein ebenso weitläufiger und unüberblickbarer Garten der über die Grenze des Gartenzaunes hinauswuchert.

Der Reporter schwitzt, als er an den Kindern vorüberkommt, die ihn anzulächeln scheinen. Flirrende Hitze steigt auf. Durchsetzt von einem stechenden, ganz bestimmten Duft: Flieder.

Gewaltige violett-blaue Dolden hängen an den Gartenzäunen hervor, treten aus den Hecken und aus dem Gestrüpp, das die Gärten der fast unbezahlbaren Villen zur Straße hin abschirmen soll. Eine Villa in gebührendem Abstand zur nächsten. Die Kinder lärmen noch immer.

Der Reporter setzt einen Fuß vor den Anderen, nähert sich beständig dem großen weißen etwas, das da oben liegt.

"In dieser Gegend bin ich noch nie gewesen", denkt er.

Von unten hört man die Geräusche der Stadt, - ihrer ganz alltäglich- pulsierenden Hektik von der hier am Rand nichts zu spüren ist.

Nur die Linienbusse haben dieselbe Farbe wie die im Zentrum.

Eben biegt einer ab.

Die Stadt läuft auf sich zu. Sich entgegen. Verfehlt sich. Verläuft sich.

Er hat das große weiße Gebäude erreicht. Das Geschrei der spielenden Kinder dringt nur noch leise an sein Ohr. Der Koffer mit dem Tonbandgerät ist schwer. Er stellt ihn ab. Benutzt die freigewordene Hand dazu, gegen die schwere hölzerne Tür zu klopfen. Die weiße Hauswand ist rauh und undurchlässig.

Ein Buch des Dichters spielt in einem Villenviertel, das am Rand einer Stadt liegt, so ähnlich wie dieses. Ein vierhundert Seiten starkes Buch. Beeindruckend. Bücher über zweihundert Seiten liest er in den seltensten Fällen fertig, aber dieses war ganz anders gewesen. So verzweigt, in ganz eigenen Gängen verlaufend - wie überhaupt alle Bücher des Dichters. Der Dichter sagt ihm etwas das - wie soll man es ausdrücken - auf eine gewisse Weise neu, auf eine andere aber dennoch vertraut ist durch jeden einzelnen Buchstaben, durch jede einzelne Zeile. Und das, obwohl seine Romane äußerst kompliziert, verworren ja fast labyrinthisch sind.

Der Reporter hatte sich immer schon gefragt, woher das wohl kam und hatte den Dichter immerschon persönlich treffen wollen. Ihm die Fragen stellen, die er bisher nur sich gestellt hatte.

Durch einen glücklichen Zufall hat er diese Gelegenheit jetzt. "Sie machen das schon", hatte der Chefredakteur gesagt und ihm zugezwinkert.

Nun also steht er vor dieser Festung, die der Dichter bewohnt. Aber obwohl er noch mehrmals klopft, antwortet im Inneren niemand. Der Reporter ertappt sich dabei, daß er den Dichter im Gedanken schon mit du anspricht. Die Sonne steht am höchsten Punkt, brennt mit größtmöglicher Intensität nieder. Der Lärm der Stadt und der, der spielenden Kinder ist verstummt. Aber im Inneren der Festung rührt sich nichts. Nach einer Weile versucht er vorsichtig die Tür zu öffnen und steht schließlich im Inneren des Gebäudes. Ein Schwall lauter Musik überströmt ihn. Opernmusik. Sie scheint aus dem ersten Stock zu kommen. Der Reporter geht durch das Haus. Die Gänge sind verwinkelt, die Mauern weiß und rauh wie draußen. Irgendwann kommt er in ein rechteckiges Zimmer, tief drinnen im Haus. An den Wänden hängen Teppiche. Ein Bücherregal. Daneben ein alter hölzerner Schreibtisch, hinter dem der Dichter sitzt. Auf dem Schreibtisch steht eine Schreibmaschine, daneben liegt ein Stapel leerer weißer Blätter. Sonst nichts. Der Dichter wendet sich um;

"Das ist er also", denkt der Reporter.

Er streckt ihm die Hand hin.

Ein alter, unrasierter Mann mit langem grau-weißen strähnigen Haar.

"Was wollen sie ?"

Seine rauhe Stimme geht in der Opernmusik fast zur Gänze unter.

Er sagt ihm, daß er von der Radiostation komme, sagt deren jetzt belanglosen Namen.

"Nehmen sie Platz".

An der Wand steht ein Sofa.

Der Raum hat sogar ein Fenster. Durch Glas, das von hellen, halb zurückgezogenen Vorhängen umrahmt ist, sieht man hinunter auf die Stadt.

"Ich darf ihnen also ein paar Fragen stellen ?"

"Dazu sind sie ja gekommen".

Der Reporter packt das Tonbandgerät aus und stellt es auf den Boden. Langsam läuft Zentimeter für Zentimeter braunes Tonband von einer Spule auf die andere und erzeugt dabei ein leise-knisterndes Geräusch. Der Dichter sieht in Richtung des Fensters. Er scheint der Musik zu lauschen. Dem Reporter kommt der Dichter weit weg vor.

Der Reporter möchte Fragen stellen, bleibt aber nur regungslos sitzen.

Dann setzt sich der Dichter wieder an seinen Schreibtisch.

Der Reporter nimmt allen Mut zusammen:

"Woran arbeiten sie gerade ?"

"An einem Roman. "Der Gefangene"".

"Warum leben sie so abgeschieden ?"

Mit einem Klicken springt das letzt Stückchen Tonband auf die zweite Spule und das Gerät bleibt stehen.

"Ich - Ich.."

Der Dichter schweigt und sieht den Reporter mit einem stechenden Blick an, sodaß dieser nicht wagt weiterzufragen. Weiterzubohren.

"Das ist also jener Blick, der alles einfangen kann", denkt er.

Draußen regnet es inzwischen leicht.

Über der Stadt liegt dichter, undurchdringbarer Nebel.

"Wissen sie," sagt der Dichter plötzlich, "da gibt es eine Oper", jemand will einen Fürsten ermorden lassen, aber durch einen unglücklichen Zufall ermordet der Auftragskiller die Tochter des Auftraggebers." "Oder Aida." "Kennen sie Aida". Der Reporter schüttelt den Kopf. "Da werden zwei Menschen lebendig eingemauert, stellen sie sich vor - - - soetwas, soetwas möchte ich schreiben. Aber es gelingt mir nicht. Nichts gelingt mir. Ich fülle nur meine Leere auf. Mit jedem Buchstaben. Mit jeder Zeile."

"Welche Leere ? Warum ? und: Warum schreiben sie ?"

Der Dichter schweigt, aber der Reporter wird sich mit keinem stechenden Blick mehr einschüchtern lassen.

"Warum schreiben sie ? Warum, warum, warum ?" Immer lauter, fast übertönt er schon die Opernmusik."

"Ich bin ja allein. Und ich kann ... - ich kann dieses Haus nicht verlassen."

Entgeistert sieht ihn der Reporter an.

"Es ist, ein Labyrinth. Ein Labyrinth ist es. Ich entkomme ihm nicht mehr."

"Aber das Fenster, das Fenster"

"Das läßt sich nicht öffnen, versuchen sie es doch !"

Über der Stadt geht ein Gewitter nieder.

"Versuchen sie doch, es einzuschlagen, na los, es geht nicht, glauben sie nicht, ich hätte es nichts selbst schon versucht !"

Der Nebel lichtet sich.

Der Reporter ist aus dem Zimmer gegangen. Läuft durch die labyrinthischen Gänge des Hauses, immer langsamer einen Fuß vor den anderen, stoßt sich an den rauhen, weißen Wänden blutig.

Die Gänge laufen aufeinander zu. Sich entgegen. Verfehlen sich. Führen ins nichts. Er stolpert immer tiefer und tiefer in den Irrgarten immer tiefer und tiefer in das Innere des Hauses, der Festung, die ihn nicht mehr freigibt. Die Musik ist verstummt.

Von irgendwoher hört er Tastengeklapper.

Der Dichter hat ein neues, weißes Blatt in die Maschine gespannt und wieder zu schreiben begonnen.