Christof Capellaro (17)

Regentage wie dieser

I

Der Regen kommt mit einem Tief aus dem Westen und keiner scheint Notiz davon zu nehmen. Der Regen fällt, wäscht weg und versickert. In der morgigen Zeitung nur kurz aufscheinend. In der Mittwochsausgabe würden wir wahrscheinlich schon wieder »heiter« schreiben. Wir tauschen Schriftzeichen aus, und mit neuer Schwärze wird etwas anderes auf frisches Papier gedruckt. Etwas, das vorgibt, sich tatsächlich zu ereignen, oder ereignet zu haben. Aber im Grunde ereignet sich hier ohnehin nichts.

Man lernt, damit zu leben, und ehrlich gesagt, lebe ich ja nicht schlecht von dieser Zeitung, bei der ich Chefredakteur bin. Diese Stadt aber ist und bleibt mir fremd. Ihre tatsächliche Beschaulichkeit und Provinzialität genauso, wie ihr aussichtsloses Streben nach Größe. An die Fenster meines Büros schlagen Regentropfen, zerschellen daran und rinnen ab. Hinter diesem Fenster das Theater. Seit zwanzig Jahren muß ich jenes häßliche größenwahnsinnig-überdimensionierte Theatergebäude sehen, das zwar fast zur Gänze aus Glas besteht, aber dennoch mehr undurchsichtig-überheblich als erhaben wirkt.

Da ist heute ja Premiere und ich muß irgend jemanden hinschicken.

Den Müller. Der will in der Kulturredaktion was werden und sieht sich soetwas bis zum Schluß an. Hoffentlich schreibt er wenigstens einen brillanten Artikel. Aber eigentlich ist es egal, wenn ich nur selbst nicht hingehen muß.

Ich gebe der Sekretärin Bescheid, daß ich nach Hause gehe. Gleichmäßiger Regen auch an ihrem Fenster.

Auf dem Flur hält mich jemand von der Lehrredaktion auf. Ich soll einen Artikel durchsehen. Jaja; sage ich, stecke ihn ein und weiß genau, daß ich ihn nicht lesen und morgen wieder nur mit jaja kommentieren werde, und daß er das auch weiß und ihn mir trotzdem gibt. Mir hat auch keiner geholfen, als ich hier angefangen habe, und jetzt bin ich Chefredakteur. Ich sage dem Müller, daß er ins Theater gehen soll, und er ist auf eine idiotische Weise unterwürfig und freundlich. Beim Portier steht der Chef, und ich vergesse fast, ihn zu grüßen und ihm einen schönen Abend zu wünschen.

Draußen warten zwei von der Wetterredaktion, die ich prinzipiell nicht grüße. Wie kann man seine Erfüllung darin finden, Wetter für ein Provinzblatt vorauszusagen.

Den riesigen Pfützen auszuweichen macht Mühe.

Ich gehe in Richtung Bushaltestelle und vorher noch schnell in eine Trafik. Die Augen der Trafikantin schweifen unruhig durch den Raum. Ich kenne sie flüchtig. Sie lobt unser Blatt, das ich aus Gewohnheit hier kaufe. Das zeigt wieder, wie bescheuert die Leute eigentlich sind, denke ich, verabschiede mich und gehe.

Die Zeitung eignet sich als Regenschutz, und an der Haltestelle betrete ich das Wartehäuschen.

Der nächste Bus ist meiner.

Die Busse hier sind immer schon so peinlich sauber gewesen, wie die übrige Stadt. Meine Nachbarn rivalisieren darum, wer den grünsten Rasen in seinem Vorgarten hat. Lächerlich.

Ich steige aus. Ins Haus. Meiner Frau einen Kuß. Ihr helles Haar riecht auf eine unnatürliche Weise nach Haarshampoo.

»Heute regnet es aber stark«, sagt sie.

»Aber unserem Rasen tut es gut«, sage ich.

»Mit jedem Regen wird er ein Stückchen grüner«, sagt sie. Wir hatten den grünsten Rasen von der ganzen Siedlung.

Sie hat sich an das Reihenhausleben auf eine beängstigende Weise gewöhnt. Hätte ich gewußt, wie schnell sie sich mit dem Reihenhausleben abfindet, hätte ich mich wahrscheinlich nie in sie verliebt.

Draußen ist es schnell dunkel geworden, und nur noch das Auftreffen des Regens auf den Waschbetonplatten der Terrasse ruft ihn uns noch ins Gedächtnis. Aber irgendwann hört man auch nur noch ein unbestimmtes Rauchen, und dann hört man auch das nicht mehr.

II

Es war völlig still. Nur noch ein paar Pfützen, die langsam austrockneten, erinnerten an Regen. Schönwetter war über die Stadt hereingebrochen. Es war heiß, als ein Mann aufwachte, sich schlaftrunken und verwundert umsah und bemerkte, daß er im Freien lag, allein auf einer Bank, die offenbar zu einer Bushaltestelle gehörte. Ein Bus fuhr ein, der Fahrer den Blick starr geradeaus gerichtet. Der Mann fixierte die Tafel, die Liniennummer und Zielort des Busses auswies. Aber da stand nur irgendein Name und irgendeine Zahl, die er beide noch nie gehört oder gelesen hatte. Als er unentschlossen sitzen blieb, schlossen sich die Türen und der Bus fuhr ab.

Allmählich begriff er, daß ihm nicht nur das, sondern auch alles andere völlig unbekannt war, ja, er schien sich selbst seines Namens nicht mehr zu entsinnen, konnte nicht einmal mehr darüber mutmaßen. Da war kein Anknüpfungspunkt, der ihm irgendwelche Hinweise hätte geben können. In der Richtung in die der Bus gefahren war, lag eine unbekannte Stadt. Er beschloß, in die Stadt hineinzugehen, und während er erst vorsichtig, dann immer schneller einen Fuß vor dem anderen auf ungewohnten Asphalt setzte, durchfluteten ihn unzählige Gedanken und warfen sich übereinander, dort wo vor Minuten nur die Leere gewesen war. Er versuchte, sie zu ordnen. Vielleicht sollte er sich eine Zeitung besorgen, der er möglicherweise irgendwelche Hinweise über diese Stadt entnehmen könnte.

Als er das Zentrum erreicht hatte, betrat er eine Trafik. Die Augen der Trafikantin flackerten im Raum umher, und sie grüßte ihn seltsam selbstverständlich, als ihr Blick an ihm hängen blieben. »Gut wie immer«, lobte sie die Zeitung, die sie ihm ohne zu fragen gab. Er sah sie verwundert an und verließ grußlos das Geschäft. Die Trafikantin lächelte ihm nach. ‚Heute wieder sehr beschäftigt, der Herr Chefredakteur.‘ Sie schloß die Tür hinter ihm und begann wieder Zeitungen zu ordnen.

Er blätterte die Zeitung durch und warf sie bald wieder weg, weil sie keine brauchbaren Informationen enthielt. Die Stadt fand er seltsam, irgendwo zwischen provinzieller Beschaulichkeit und hoffnungslosem Streben nach Größe. So erschienen ihm auch die Leute, die ihn alle sehr freundlich ansahen und oft sogar grüßten. Auf seinem ziellosen Weg durch die Stadt kam er an einem Gebäude vorbei, dessen Portier ihm zurief: »Da sind sie ja. Herr Müller hat schon nach ihnen gefragt, kommen sie schnell.« Er betrat verwirrt das Gebäude über dem der Name der Zeitung stand, die er gekauft hatte. »Müller drittes Stockwerk, übrigens«, der Portier kannte seine Vergeßlichkeit. Auch ein Chef kann sich schließlich nicht alles merken.

Auf dem Weg zum Aufzug hielt ihn jemand auf. »Ich habe schon wieder einen Artikel, – wenn sie ihn lesen möchten ...« Geistesabwesend nickte er zur Seite, jaja, laß sie reden.

Im Aufzug begann ihn jemand etwas über eine Wetterseite zu fragen. Als er ihn unschlüssig anstarrte, meinte der andere: »Wenn sie keine Zeit haben, können wir ja auch kurz zu ihnen gehen«, und zog ihn im zweiten Stock mit ihm in ein Büro.

»Sollen wir jetzt über die Hitzewelle auch so eine Serie machen wie über den Regen, so ganz auf Katastrophe, das kommt doch gut an, oder?«

»Ja, ja, ich glaube die Leute mögen das«, meinte er und trat ans Fenster.

»Wir kriegen also den Platz?«

»Platz gibt es immer genug.«

»Guter Witz, Chef«, murmelte der Wetterredakteur, als er das Büro gezwungen lachend verließ.

Vor dem Fenster lag ein gläsernes Gebäude, das er sofort überdimensioniert fand. Sah irgendwie nach Theater aus.

Als er den Artikel einstecken wollte, den ihm die Frau vor dem Aufzug gegeben hatte, stellte er verwundert fest, daß da schon so ein Zettel war. Er überflog beide Artikel, die ungeschickt geschrieben waren und warf sie dann kopfschüttelnd in den großen, leeren Papierkorb.

Er begann sich zu wundern über dieses Büro und den Menschen, der es mit dieser Aussicht aushielt und begann den Schreibtisch nach persönlichen Gegenständen zu durchsuchen, fand aber nur einen Stapel Visitenkarten.

Chefredakteur, das war also dieser Mann. Plötzlich begann ihn zu interessieren, wie und wo er lebte.

Der Bus bog in eine Siedlung.

Alle Häuser gleich.

Reihenhäuser.

Er ging die Siedlung entlang, blieb manchmal stehen und sah sich um. Am Ende hatte er das richtige Haus gefunden. Vorsichtig schaute er über die Hecke, drückte die Klinke der Gartentüre hinunter und stand unvermittelt in einem fremden Vorgarten, der von einer übermäßig gepflegten Rasenfläche, die grünste der Siedlung, bedeckt war.

Seine Spannung stieg, als er sich dem Haus näherte und die Haustüre öffnete, mehr um zu sehen, ob sie sich öffnen ließe, als um tatsächlich einzutreten, aber dann stand er schon in dem fremden Flur.

Er erschrak, als eine blonde Frau ihm entgegenkam.

»Hallo Schatz«, sagte sie und gab ihm einen Kuß. Er sah sie kurz verständnislos an,

schließlich blieb er in diesem Leben, das nicht seines war, weil es offenbar alle von ihm erwarteten.