Marlene Bitriol (18)

 

Regen, der inzwischen heftig genug war, um meine Augen zu füllen und zu ertränken, bewirkte, daß ich ihn beinahe überrannt hätte, den Jungen, der halb auf der Straße, halb auf dem Gehsteig stand, und mir nichts präsentierte als einen schutzlosen Nacken, so weit hatte er den Kopf gesenkt. Regentropfen, die diesen hinab rannen in Strömen, wuschen seine Farbe ab und ließen den Nacken weiß zurück, glitschig-weiß, sein Gesicht hingegen konnte ich nicht erkennen, auch nicht, als ich direkt neben ihm stand, dieses nämlich war beschützt, von Strähnen nassen Haars. Er gab mir das Gefühl, nicht gesehen zu werden, und so musterte ich ihn ungeniert, und fand schließlich nichts Interessantes mehr an ihm, nachdem meine Blicke magere Beine in ausgewaschenen Jeans gestreift hatten, ein schlichtes weißes T-Shirt, aus dessen zu großen Armlöchern weiße Arme hingen, die wiederum nachlässig in die Taschen der alten Jeans geschoben worden waren.

Einzig sein auf den Kanaldeckel zu seinen Füßen Starren bewegte mich dazu, mich forsch zu erkundigen: »Hast was verloren?«

Vermutlich würde er einfach den Kopf schütteln ohne mich, die Fragen Stellende, anzublicken, und ich würde etwas belustigt weiter schlendern können, kein Grund, mich zu beeilen, nässer würde ich nicht mehr werden können ... glaubte ich.

Doch er tat es, richtete einen Blick auf mich, strich sogar unbeholfen Haar aus dem Gesicht – »Nein«, sagte er dann.

Seine Augen konnte man durchaus mit Seen vergleichen, fand ich, nicht nur bei Regen, sie waren einfach See genug und umrahmt von Schilfwimpern, die wogendes Schilf waren, als er den Blick wieder senkte, und auch den Kopf in die ursprüngliche, hängende Position brachte.

Eine letzte Frage, die ich stellen mußte: »Wohin gehst du, wenn ... falls du weitergehst?«

Erneut blickte er empor, grübelnd, lächelnd: »Ich werde dann wohl an den See gehen, oder mich an den See schwemmen lassen.«

Bevor er es dieses Mal wagen konnte, den Kopf wieder zu senken, unseren Blickkontakt zu unterbrechen, fragte ich: »Wirst du jetzt gleich gehen?«

Nach einem letzten Blick durch das Kanalgitter schien er sich innerlich einen Ruck zu geben, ruckte auch äußerlich, als er die Schultern hob und wieder fallen ließ, um sich schließlich für die Höhe des linken Fußes zu entscheiden, für die Straße, und so neben mir her zu gehen.

Dort, wo der Gehsteig endete, sie plötzlich mit mir auf einer Höhe ging, und ich gezwungen war, auf sie herab zu sehen, dort, wo sich einem schon unwillkürlich und voller Vorfreude die Nasenflügel blähen im lockenden Geruch des nahen Sees, wurde sie, die bisher im Rhythmus eines unglaublich monotonen Herzschlags gegangen war, unruhig, ich fühlte es schon, bevor sie stehen geblieben war, und nur noch mit ihren Füßen scharrte. Sie würde warten, bis ich sie auffordern würde, mich an den See zu begleiten, allzu deutlich sagte mir dies ihr aufdringlich-fragendes Schweigen, das, ebenso wie ein Hauch ihres Parfums, vom Regen konserviert worden war, und das, so nahm ich an, noch lange, nach dem sie gegangen sein würde – sollte ich sie gehen lassen – in der Luft hängen würde. Jetzt richtete sie ihren Blick direkt auf mich, was ungleich schlimmer war, als die Ahnung, sie könne mich von der Seite anblicken – es waren die Augen eines Fisches hinter Glas, und ich verspürte den Wunsch, ihr dies zu sagen, doch ich nahm an, sie würde Rehaugen verstehen; vielleicht wäre sie nicht ganz so taub wie andere Mädchen, nur vermindert hörfähig, und das Wort Fisch würde zu ihr durchdringen – dann allerdings würde sie ‚Goldfisch’ verstehen und die fordernde Hand nach einem Ring ausstrecken.

»Nun«, sie hob die Schultern mit einem Frösteln der Enttäuschung, dann machte sie kehrt und ging davon, ging ganz langsam und ließ die Füße schleifen, wartend, von mir zurückgerufen zu werden. Wie aber sollte ich sie rufen – natürlich, ich hätte Tausende von Namen gefunden, sie zu nennen, doch als ich ihr so nachsah, erkannte ich, daß diese Namen zwar ihrer Vorderseite standen, ihre Rückseite diesen aber widersprach. Erst als mein Blick auf eine schillernde Ölpfütze zu meinen Füßen fiel, wußte ich, daß es nur einen passenden Namen geben konnte – Regenbogenpfützenforelle, doch diesem konnte ich es nicht erlauben, meine Gedanken zu verlassen und über meine Lippen zu gleiten.

Imponierend von hinten war ihr Haar, welches sich trotz Füßeschleifens nicht vom Regen besiegen ließ, und sich gegen diesen in Locken aufbäumte.

Eigentlich sollte sie es doch verdient haben, gerufen zu werden, schließlich war es sie gewesen, die mich aus den Spalten eines Kanaldeckels geborgen hatte, an deren Stimme – »Hast was verloren?« – ich mich heraus und empor gezogen hatte.

»Hey!« hörte ich mich brüllen, von allen durchdachten Möglichkeiten, sie zurück zu gewinnen, die denkbar schlechteste, sie aber drehte sich strahlend um: »Ja?«

Er bettete mich auf ein blaues Laken, als wollte er mir das Gefühl vermitteln, in ein Meer zu sinken, ein Meer der Liebe, und auch er hätte es vermutlich nicht anders ausgedrückt, hätte er mit mir gesprochen; denn er hatte mir gestanden, irgendwann während unseres von Satzfetzen unterbrochenen gemeinsamen, regennassen Schweigens, daß er Pathos liebe. In seinen Worten – den Pathos zu einem Gott erheben, ihm einen Altar zu errichten, ihm Fischopfertiere zu gewähren. Dies hatte er allerdings mit einem Augenzwinkern gesagt, hin zwinkernd zu einem verwesenden Fischkadaver, den der regenvolle See uns vor die Schuhe gespült hatte.

Vermutlich sollte ich nicht an tote Fische denken, da ich aufgebahrt auf seinem blauen Laken unter einem Alu-Foliensternenhimmel lag, und so lauschte ich auf Geräusche im Korridor vor seiner Wohnung, um dieses Bild durch Ablenkung aus meinem Kopf zu vertreiben – es war ein Korridor einsamer Herzen, die schlurfend und seufzend zu ihren Wohnungen gingen, die um diese Nachtzeit noch viel einsamer waren.

Solche Gedanken hatte ich benötigt, damit sich endlich ein verstohlenes Wohlbefinden einstellte, welches auch nicht schwand, als er ebenso verstohlen unter das blaue Laken schlüpfte – allerdings trug es auch nicht zur Steigerung meines Wohlergehens bei, seine Nähe und die Nähe seines Atems, denn er hatte sich innerhalb einer Viertelstunde von mir entfremdet; ich konnte ihn nicht mehr fassen, denn er glitt mir unter meinen Fingern durch, war naß und nackt – und auch sein Geruch war der eines Fremden, der eines Duschgels.

Als er sich von mir löste, sich in sitzende Position aufrichtete, um eine verbeulte Zigarettenpackung zu ertasten, kam dies einer nuklearen Katastrophe gleich, Kernspaltung, Spaltung des Kerns, zu dem wir irgendwann im Meer geworden waren – er hingegen steckte sich ungerührt den Tschik mitten ins Gesicht, und zwischen Rauchwolken blies er auch seinen Atem aus, hin und wieder, um die billigen Teekerzen in ihren bunten Aluminiumbehältern zu löschen, welche bisher dem blauen Bett Aura gewesen waren.

Der Busbahnhof war der einzige Ort, sie suchen zu können – er war vielen Menschen gleichzeitig Anfang und Ziel, während er mir hoffentlich eine schäbige Art der Erfüllung bringen würde. Jeder zu- oder abfahrende Bus könnte sie ausspucken, und jede Zigarette, die ich am Fahrplan lehnend rauchte, würde mich näher zu diesem Augenblick der Vereinigung bringen, vielleicht. Das einzige Wetter, das Busbahnhöfen gerecht wird, ist Regenwetter, und doch wirkt ein Bahnhof, regnet es tatsächlich, ungleich deprimierender, zeigt sich von seiner verschlissensten Seite, in allen möglichen Farbtönen zwischen braun und grau.

Es blieb mir nur, die Augen auf ein winziges Stückchen blauen Himmels zu heften, welches die Wolken zu verschlucken vergessen hatten, und dem prähistorischen Schnauben anfahrender, ebenso wie dem animalischen Ächzen bremsender Busse zu lauschen.

There’s music in the cafés at night, and revolution in the air – oder doch eher in mir selbst, denn in meinem Inneren revoltierte etwas gegen diese Gefühle, die mich heimgesucht hatten, diese Gefühle des Wartens und Suchens – zu deutlich zeigte mir das die Reflexion meines Gesichts in einem Bierreklamespiegel hinter der Bar, denn die dunkeln, erwartungsvollen Augen waren die Augen einer Suchenden. Ich erwartete, ihn zu finden, in den Tiefen meines Glases, und als ich dieses leer getrunken hatte, und ihn doch nicht fand, sollte mir wenigstens der Glasboden von Nutzen sein, sollte mir als Lupe dienen, ihn zu erkennen. So hielt ich das Glas an mein Auge und ein schleichender Whiskeytropfen trübte mir dieses.

Die Lockung eines regenüberfüllten Sees war wohl nicht die einzige, der ich gefolgt war – ich hatte gleichzeitig den Ruf des Fischs gehört, dem wir schon das letzte Mal begegnet waren, der heute nur noch ein Gerippe war. Um mir besser vorstellen zu können, was sie sagen würde, wenn sie plötzlich ebenfalls hier am Ufer erscheinen würde, dienten mir die Gräten des Fisches als Partner in einem fiktiven Zwiegespräch – er sollte meinen Part übernehmen, den männlichen, während ich das Mädchen spielte.

»Was machst du denn hier?« fragte ich den Fisch in meiner Hand mit hoher Fistelstimme, und er antwortete sonor: »Ich habe dich erwartet, Angebetete.«

Und wieder borgte ich mir eine Imitation ihrer Stimme und antwortete dem Fisch: »Aber, Darling ... es war doch nur ein One-Night-Stand ...«

Und der Fisch entzog sich offenbar meiner Kontrolle und meiner kontrollierenden Hand, denn er lachte auf liederlichste Weise und meinte: »Aber wir sind doch nicht gestanden dabei, Angebetete.«

Daraufhin schüttelte ich den Fisch rügend, so daß er zu dem zerfiel, was er eigentlich war, einem Haufen Gräten.

Die Oberfläche des Sees täuschte Glätte, Stärke vor, doch wie immer wich das Wasser vor meiner Nase, meinem Kinn, meiner Stirn zurück, als ich meinen Kopf darauf betten wollte – Zeit für die Heimreise.