Anselm Basilius (16)

Weiß

Grau war die Zelle, in der Poschke saß. Sie hatte noch andere Eigenschaften, aber das Grau ließ diese verblassen. Grau war auch Poschke in seiner Häftlingskleidung, mit seinen faulenden Zähnen und der ausgeblichenen Farbe seiner Haare. Poschke saß also da – ein Mann, der an nichts dachte und nichts sehen konnte, außer dem Grau der Wände und des Ortes überhaupt, und er merkte, daß jemand gekommen war, und er blickte nicht auf, weil er wußte, was er sehen würde: Grau.

Er hieße Matze, fing der Neue an zu sprechen. Es sei ihm egal, ob er oben oder unten schlafe. Bei dem Wort "schlafen" blickte Poschke auf. Dann schloß er die Augen und sagte: "Ich schlafe unten." Schön, erwiderte Matze, die Augen zu schließen und sofort zu schlafen, seien das Einzige, was er in zehn Jahren Knast gelernt habe, und das egal wo.

Der Neue putzte sich die Zähne, und Poschke sah ihm gelangweilt dabei zu. "Ich schlafe gerne," sagte Matze, als er bereits im Bett lag, die Hände am Hinterkopf, die Füße überkreuzt auf der Decke liegend.

"Wegen den Träumen. Es ist immer derselbe Traum: Ich wandere am Schnee entlang, und ich weiß nicht, woher ich komme, und wo ich hin will, nur, daß ich jetzt in diesem Weiß herumwandere. Und wenn ich mich zur Seite drehe, kann ich das Meer sehen: Es ist dunkel und kalt, aber irgendwie rein. Ich sehe Vögel, die tanzen im Kreis, und ich laufe zu den Vögeln, und sie bewegen sich schneller, und ich bin kurz vor ihnen, zwei Meter vielleicht, da fliegen sie alle auf, hoch in die Luft hinein fliegen sie, und stehe da und spüre, wie kalt es ist. Weißt du, Poschke, es ist wunderschön."

Am nächsten Morgen, die Wolken hatten sich zusammengezogen und es regnete, standen Poschke und Matze fast gleichzeitig auf; sie sahen sich wortlos an, dann sagte Poschke: "Ich kenne Deinen Traum." Poschke fuhr sich durch die Haare, langsam und bedächtig zwar, aber seine Finger zitterten, das spürte er am ganzen Körper, daß seine Finger zitterten, und er lachte nervös kurz auf, dann sagte er: "Ich kenne ihn, weil es mein Traum ist. Mein Traum. Seit zehn Jahren ist er das."

Erst am Abend, erwiderte Matze: "Weißt du was, in zwei Tagen sind wir beide draußen. Wir könnten dort hin fahren ins ewige Eis, dort, wo es kein Grau gibt und keinen Dreck. Wo alles glitzert, vor Reinheit, der Reinheit des Wassers, des Schnees und der Sonnen." Beide lagen in ihren Betten, und das fahle Mondlicht, das durch die Fenster hereinfiel, beleuchtete ihre Gesichter. Matze richtete sich auf: "Wir könnten zu den Vögeln fahren, Poschke, und wir könnten tanzen mit ihnen, einfach nur tanzen, bis wir zu müde sind dafür. Dann werden wir schlafen, traumlos schlafen, lange und fest."

Am Morgen darauf sagte Poschke: "Ich weiß nicht. Vielleicht gibt es dieses Land gar nicht. Was ist, wenn wir suchen und feststellen, daß es dieses Land nicht gibt? Was würde aus unserem Traum, dem Weiß und den Vögeln? Ich glaube nicht, daß ich das will, Matze."

Vor dem Einschlafen, in der folgenden Nacht, beugte sich Matze herunter und fragte: "Geh’n wir?"

Und Poschke flüsterte, in den Traum versinkend: "Geh’n wir."