Anselm Johannes Basilius (14)

Die Heimkehr

Es war still im Dorf als Rudolf Birnstingel ankam. »Provinz,« sagte er leise und lächelte. Rudolf sah sich kurz um, steckte seine Hände in die Manteltasche und sagte zufrieden: »Alles beim alten.«

Mit der linken Hand zog er einen Adresszettel hervor, überflog ihn, trat noch einmal zur Vergewisserung zurück, kurzer Blick auf das Ortsschild: Kleinstetten, und tief befriedigt, das Heimatdorf nicht vergessen zu haben, steckte er den Zettel wieder ein.

Er erschrak fast, als er den Greis bemerkte, der plötzlich hinter dem Schild hervorkam.

»Entschuldigung,« begann Rudolf, »ich suche Mühlsteg 14.«

Der Angesprochene schwieg.

»Mühlsteg 14,« wiederholte Rudolf, aber der Mann schien zu jeglicher Konversation unfähig.

Schweigen.

»Habe ich sie irgendwie verletzt -? ... Ich ... Es tut mir leid ... Ich ...«

Der Alte hob bedächtig seinen Kopf bevor er in fast unheimlich klarem Hochdeutsch antwortete: »Hier kennt jeder die Straßen.« Der Greis ging langsam weiter und murmelte vorwurfsvoll: »Der kennt die Straßen nicht.«

Als sich der Greis entfernte blickte Rudolf auf das Dorf hinab: Bis auf wenige Seitenstraßen bestand es nur aus einer Straße, die sich durchs Dorf zog, und so errötete er ein wenig.

Entschlossen schritt er in den Ort, betrachtete die Häuschen: alle über fünfzig Jahre, mit Holzdächern, die in der Masse etwas lächerlich wirkten.

»Welch eine Idylle,« dachte Rudolf. Er entdeckte, daß es im Dorf sogar ein Geschäft gab. »Lebensmittelhandlung« stand da. »Freitag halbtags; Samstag, Sonntag geschlossen,« ergänzte Rudolf.

Und als er so durch den Ort wanderte, erblickte er ein kleines Häuschen, das überraschenderweise beleuchtet war. »Jo & Hannes' Beisl« stand da, und in Rudolf erwachte das Bedürfnis nach Obstler. Da bot sich das Lokal eben an, und vielleicht würde er auch jemanden wiedererkennen, was die Suche bedeutend einfacher machen würde.

Aus dem Lokal trat ein Bauer mittleren Alters, der, als er Rudolf erblickte, kurz innehielt und ihn geringschätzig ansah. »Sie suchen Mühlsteg 14?«

Rudolf nickte verstört.

»Fremde kriegen bei mir sowieso keine Auskunft.«

»Ich bin aber hier geboren,« rechtfertigte sich Rudolf, »ich bin sozusagen Kleinstettler.«

»Na dann« sagte der Bauer, wandte sich ab und verschwand in einem Häuschen.

Jetzt brauchte Rudolf wirklich einen Schnaps. Die Kneipe entpuppte sich als kleiner Raum, in dem auf einigen Tischen Karten gespielt wurde. Es setzte kurz Stille ein, als Rudolf das Zimmer betrat und den Obstler bestellte.

Er bewegte sich zu dem ihm räumlich Nächststehenden, überlegte es sich unterwegs anders, hob einen Bierkrug hoch, klopfte mit einem Kugelschreiber daran und sagte: »Darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten.«

Als keine Reaktion erfolgte, fragte sich, ob sich so viel Höflichkeit für derart sture Säcke nicht zu viel war. Rudolf hob abermals den Bierkrug, streckte den Arm aus, und ließ den Krug vom höchsten Punkt fallen.

»Birnstingel mein Name, Rudolf Hannes Birnstingel.«

Die Dorfbewohner sagten fast unisono: »Ach, Birnstingel.« Sie erhoben sich, gähnten und verließen die Kneipe.

»Ja -. Ja, was ist den jetzt schon wieder?« brüllte Rudolf verzweifelt.

Ein Jüngerer kehrte tatsächlich um und sagte: »Es geht los!«

Nachdem Rudolf das Lokal verlassen hatte, und auch die ganze Straße leer war, erblickte er etwas, das ihn zutiefst ins Staunen versetzte: Eine Frau, ganz in unmöglichen Gelb gekleidet, bewegte sich hüpfend zu einer Tür.

»Liebe Frau,« schrie Rudolf.

Doch er wurde ebenso liebenswürdig ignoriert. Darum zupfte er an ihrem Rock - irgendwie mußte er sich doch bemerkbar machen.

Die Frau mußte das falsch gedeutet haben, denn als sie sich zu Rudolf umdrehte, beschimpfte sie ihn mit Flegel und Lustmolch, während sie unablässig auf Rudolf eindrosch.

Er erwachte in einem Komposthaufen, verschmutzt, stinkend, doch Rudolf befand das nicht unbedingt als schlecht, denn so hatte er sich unabsichtlich den Dorfbewohnern angepaßt.

Als Rudolf das Fest erreicht hatte, war es schon in vollem Gange. Auf der Totenfeier amüsierte er sich prächtig: er trank, er stank, er tanzte.

Rudolf glaubte den Leichenschmaus verpaßt zu haben, und so begab er sich in die Küche, um etwas von den Resten zu sich zu nehmen. Als auch die anderen Gäste Hunger verspürten, fragten sie: »Ja, wo bleibt er denn?«

Worauf die Köchin, mit großem Tablett, antwortete: »Er ist angerichtet.«

Der Älteste stand auf, hob sein Glas: »Er ist heimgekehrt!«