Maisa Tuhcic (15)

Der verzauberte Schmerzkreis

Heute Nacht kämpfe ich wieder mit dem Schmerz. Er sticht mich mit seinen scharfen Speeren, er fordert salzigen Regen in meinen Augen. Ich weiß, dass ich stark, erwartungsvoll und mutig sein muss. Aber ich kann es nicht! Wie kann ich mich beherrschen, dass ich nicht weine und dass ich nicht schreien muss bei noch einem Abschied? Es sieht so aus, als ob das Leben ein unendliches Seil ist, auf dem ununterbrochen Abfahrten und Ankünfte einander ablösen, und dass wir zu ewigem Herumstreifen verurteilt sind: Von einem Lächeln des Glücks zu einem anderen, zwischen denen wir am Rand der Hölle wandern. Ich bitte den Schmerz und die Tränen, für einen Augenblick aufzuhören, weil ich heute Nacht einen klaren Kopf brauche und ein scharfes Auge. Dass ich alle Gründe für ein Dableiben und eine Abfahrt schaue. Dass ich mit meiner geringen Fähigkeit versuche, in die nahe Zukunft zu blicken, dass ich für einen Augenblick einen Propheten spielen und nachdenken, dass ich mithilfe einer Kristallkugel sehen kann, was mich morgen erwartet. In einer anderen Stadt, einem anderen Land, mit anderen Menschen. Leider, wer weiß, wie viele Male ich einen Punkt geben muss, auf diese Liebe, auf unsere Chance, die wir vielleicht gehabt hätten. Du und ich. Wie soll ich denn diesem salzigen Regen meiner Augen sagen, dass er nicht fallen soll? Wie kann ich meinem Herzen befehlen, dass es nicht schmerzt, dass es sich versteinern soll? Heute Nacht bin ich ein Feldherr, dem befohlen wurde, die Schlacht zu verlieren. Ich habe viel Zeit in dieser Stadt verbracht, aber jetzt muss ich weiter. Wer weiß schon, wohin und für wie lange? Diese Stadt, diese Menschen, die ich kennen gelernt habe: gekreuzte Lebenswege – eine Station der Traurigkeit in der Laufbahn meines Daseins. Es passierte mir schon früher, dass ich stehen bleibe, mich gewöhne und dass ich weitergehen muss. In eine unbekannte Zukunft, in meine Unruhe. In jeder Stadt habe ich einen Teil von mir selbst zurückgelassen. Einen kleinen Teil meines Herzens, das geblutet hat bis zur nächsten Station. Ich muss gehen, weil mich diese Stadt niemals bis zum Ende aufnehmen wird. Niemals! Du und ich, wir sind zwei Welten, eine Million Lichtjahre voneinander entfernt. Zwei Planeten, die sich nicht um die gleiche Sonne drehen. Du bist ein Träumer und glaubst an das Schicksal, du hast es mir einmal gesagt. Aber du musst wissen, dass jeder sein Schicksal in sich trägt. Du vermagst mit der Traurigkeit zu spielen, so sehr, dass du sie herausforderst, dir und anderen Schmerz anzutun. Aber damit du es weißt: Ich gehe nicht fort ohne einen Grund. Jeder hat seine Gründe, für alles, was er im Leben tut. Meine Abfahrt ist nicht absichtlich, auch nicht zufällig. Ich muss es tun. Es sind schwere Zeiten und es ist schwer, ein Mensch zu bleiben. Vielleicht schleicht sich Argwohn in deine Gedanken und du fragst dich, warum ich umherstreife, warum ich mich nach weiten Städten sehne, die ein Teil von meiner Vergangenheit sind und die ich zwanglos verlassen habe. Ich möchte nicht zusehen, wie du dich mir gegenüber veränderst, wie sich aus einem Freund und Liebhaber ein Wesen entwickelt, dessen Herz sich in ein Unkraut des Hasses verwandelt. Wie du jeden Tag mit immer größeren Schritten von mir weggehst. Verzeih’ mir, ich habe ein bisschen Prophet gespielt. Aber die Zeit des Todes, in der wir leben, hat mich gelehrt, dass ich alles um mich schwarz sehe. Das Leben, das ich lebe, ähnelt einer Verwirrung, und hat mich gelehrt, eine Dichterin zu werden, damit ich bestehen kann. Ich schiebe das Glück und die Liebe von mir, damit es weniger wehtut, wenn die Träume gestürzt sind. Wenn sie die giftigen Pfeile der Zeit umbringen. Heute Nacht kämpfe ich mit dem Schmerz, mit meinen Gefühlen, mit dieser Liebe, die mir den Schmerz bereitet. Vielleicht hast du recht. Vielleicht will ich wirklich, dass die Traurigkeit mein Begleiter wird. Wie kann ich morgen mit jemand anderem von der Zukunft träumen? Wie kann ich wieder lachen, lieben? Es ist verrückt, dass ich dich überzeuge und dir sage, dass alles vergehen wird, wie alles im Leben vergeht. Ich sage dir nicht die Klugheit aus den Büchern und auch nicht die Gedanken eines Philosophen. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Vielleicht ist mein Fliehen vor dir, vor der Wirklichkeit, der Grund, warum ich weggehe, weil mich so viele verlassen haben. Der erste Tag, der erste Morgen ohne deine Gestalt wird mehr wehtun als die Verzweiflung. Die Nacht wird mir mehr Schmerz bringen, aber jeder weitere Morgen wird weniger schmerzlich sein. Während meine Gestalt, wie alle anderen Gestalten, von denen, die uns verlassen haben, in der Erinnerung nur ein blasser Schatten des nicht erlebten Glücks bleibt. Vielleicht können wir es nicht glauben, aber alle unseren glücklichen Tage, alle unsere Traurigkeiten und Lieben sind nur eine vergängliche Wahrheit. Der Fluch, den ich in mir trage, zieht mich durch den unwiderstehlichen Ruf in die Tiefe des unbekannten Schmerzes. Mein Schicksal lautet: herumzulaufen. Ich weiß, dass ich stark und mutig sein muss. Aber es geht nicht … Der Schmerz sticht mich mit seinen scharfen Speeren. Bleierne, salzige Regen fallen aus meinen Augen. Der Abschied tut mir weh, mehr als die vergangenen. Oder scheint es nur so? Jetzt habe ich mich entschieden: Ich muss so schnell wie möglich weggehen.
Bitte verzeih’ mir! Im Namen der zukünftigen Tage, an denen das Glück für dich lachen wird. Aber ohne mich. Im Namen einer neuen Liebe, die dir mehr schenken wird als ich mit dieser Traurigkeit, mit der ich geboren bin und mit der ich einmal für immer einschlafen werde.