Georg Petz (14)

Der Kritiker

Ein Kritiker aus echtem Guß,
der jeden kritisieren muß,
spart nicht mit seinem Kommentar;
egal, ob’s falsch ist, oder wahr.

Einst nahm Herr Müller, seines Zeichen-
s ein Kritiker ganz ohnegleichen,
von seinem Brettchen an der Wand
ein Buch mit dickem Lederband.

Doch ward das Lesen ihm zur Qual:
»Kitschismus!« brüllt es durch den Saal.
»Das ist Klischee!« schreit er entsetzt
und jede Zeile wird zerfetzt.

»Grammatikfehler, stümperhaft!«
Er ballt die Faust mit voller Kraft,
doch ratscht er trotzdem wach und munter
sein ganzes Schimpfwortwissen runter,

zerpflügt den Text, macht ihn zur Schnecke,
kurz, Goethes Faust fliegt in die Ecke,
und an der kalten, weißen Wand
zerreißt der dicke Lederband.

Stolz schwillt dem Kritiker die Brust.
Er ist sich seiner Kunst bewußt.
»Unrealistisch«, schnauft er, »schlecht!«
Was er auch sagt, er ist im Recht.

Er schlägt mit Worten, daß es funkt,
denn er ist immer Mittelpunkt.
Kaum einen bringt er nicht zu Sturz,
er ist ein Mensch, ich faß’ mich kurz,

der eben kritisieren muß:
Ein Kritiker aus echtem Guß.

(1992)