Lisa Holm (14)

Sprachlos

Man war ganz allein, obwohl die Straße von Menschen wimmelte. Alles ging reibungslos, still, der tägliche Weg zur Arbeit verlief ohne teure Verspätungen. Nur das Knistern der Anzüge und Röcke war zu hören. Die Menschen flossen vorbei, wobei sie sich ärgerten, daß jemand gegen die Strömung schwamm, denn eine Frau war stehengeblieben und sah verzweifelt auf die Straße vor sich. Sie fürchtete sich leicht, und gerade jetzt fürchtete sie sich vor der Zeit. Die Zeit hatte ihr schon immer Furcht eingeflößt, wie alles, das sie nicht ändern konnte.
Der Gehsteig war nicht länger grau, er war lebendig. Er schien zu kriechen und zu verschwinden unter den Leibern der arbeitsamen Angestellten. Sie wurde unruhig, auch sie könnte in die Peinlichkeit einer Fünf-Minuten-Verspätung geraten. Sie fühlte bereits jetzt die genervten, stierenden Blicke derer auf sich, die niemandem zu nahe kommen wollten und nun doch sie berühren, anrempeln mußten, weil sie ja unverständlicherweise nicht mehr mitschwamm.
Doch sie konnte unmöglich fort. Der Fluß teilte sich 20 Zentimeter vor ihr, und schloß sich hinter ihr wieder. Kein Blick, kein Wort. Man hatte ihr ohne jeden Grund eine Insel gegeben.
Sie hätte ihren Rock auch im Gehen zurecht zupfen können, doch sie befand sich auf ihrer Insel, die sie auf keinen Fall verlassen wollte. Sie hatte sie erobert, und es war ein Triumph. Inseln im Fluß waren Hydranten und Papierkörben vorbehalten. Doch so eine Insel besaß sie nun.
Menschen die sie kannte, Kollegen aus dem Büro, die flüchtig ein Wort mit ihr gewechselt hatten und Vorgesetzte, die sie nur vom Sehen kannte, gingen, sie ignorierend, vorbei. Und das freute sie. Die Inselbesitzerin wollte es schließlich niemandem gönnen, sich die Insel mit ihr zu teilen. Ein herrliches Gefühl hatte sie in ihrem Körper, eine Art Besitzesfreude, die sie noch nicht gekannt hatte, bis zum heutigen Morgen.
Ihr Herz pochte. Die Zeit! Sie konnte ihren Besitz, ihre schöne Insel nicht nur wegen der laufenden Zeit verlassen. Sie wurde von Panik ergriffen. Noch nie war ihr die Langeweile des Stroms aufgefallen, die Trägheit ihres eigenen Lebens. Und jetzt, plötzlich, verging die Zeit so schnell! Die Zeit, wieviel davon konnte sie noch hier verbringen? Wieviel davon hatte sie schon vergeudet? Wie viele kostbare Sekunden waren bereits vergangen?
Und dann kamen sie. Die Chefs in Grau, die zum ersten Mal etwas nicht haben würden, daß sie schon besaß. Anscheinend waren die so eifersüchtig auf die Inselbesitzerin, daß sie sie nicht einmal grüßten!

Ihr Kopf war so klar wie lange nicht. Ihr war, als hätte man sie nach langem Schlaf geweckt, ihr Leben schien ein entfernter Traum zu sein. Tief atmete sie ein, die warme Luft brannte in ihren Lungen. Sie befand sich in einem Wald, weit von jeder Uhr entfernt. Sie saß, in eine Decke gewickelt, in einer Astgabel und beobachtete. Sie sah runde Tropfen, wie sie von den Blättern sprangen. Es regnete warm. Sie konnte das weiche Gras sehen, und einige Insekten, die sie umschwirrten. Sie spürte jeden Flügelschlag. Außerdem hörte sie eine ganz eigene Melodie, die sie tanzend davontrug, durch den Wald.
Völlig erschöpft vor Glück erwachte sie wieder. Sie fühlte den Schweiß auf ihrem Rücken, hielt es für den Regen, die Gänsehaut auf ihren Armen, und hielt es für Flügelschläge. Sie lächelte zufrieden.

Der Strom hatte sich nun endgültig mit ihrem Eiland abgefunden! Zaghaft griff sie nach ihrer Puderdose. Sie hielt den Spiegel hoch, sah ihr Gesicht, und es kam ihr so anders, so voll und schön vor. Und sie lachte, lachte, daß ihr die heißen Tränen das sorgfältige Make-up verschmierten. Da fühlte sie die fragenden Blicke des Stroms auf sich und das Blut, wie es in ihr Gesicht kam, um es zu röten. Sie packte den Spiegel weg. Schuldbewußt blickte sie sich um, dann auf die Uhr, wobei sie einem Mann den Ellenbogen in die Rippen stieß. Sein böser Blick traf sie. Es war der erste Blick dieses Tages, der nur ihr galt, und sie schämte sich, daß er kein freundlicher war.

Nicht länger als einige Augenblicke später wurde sie, sich noch bei dem Mann entschuldigend (der schon weitergeschwommen war), von ihrer Insel gedrängt. Hilflos schwamm sie im mitreißenden Strom, blickte sehnsüchtig auf ihre Insel zurück, die gerade von Leibern überflutet wurde. Schauer liefen über ihren Rücken, Freudenschauer. Denn zu ihrem Erstaunen verschwand ihre neugewonnene Freude nicht. Eigentlich hatte sie sogar noch die Melodie aus dem Wald im Kopf.
Fröhlich durchschritt sie die Vorhalle des Büroblocks, und als sie sie hinter sich hatte, nahm sie nicht wie der reißende Strom den Lift, sondern stieg singend die Treppe hinauf. Die Sprachlosigkeit war vorbei.

(1997)