Hans-Ulrich Gößl (17)

Troppo Stanco

Der letzte Vormittag in Mailand.
Wir haben uns hingesetzt, die Beine verschränkt, ruhen uns aus, die Sonne im Gesicht. Das Licht, das über die Dächer steigt, legt sich hier zu Boden, her zu uns und den Tauben, es legt sich in die Rillen des Pflasters und blüht grün in die trockene Luft.
»Du bist müde.«
Sie sagt es nur als Feststellung; keine Frage dahinter. Sie trägt ihr violettes T-Shirt, blickt wie ich um sich, wartet wie ich. Es ist wärmer als zu Hause. Wir tragen hier alle T-Shirts. Zu Hause liegt Schnee. Erst am Abend wird es kälter, wenn die Sonne untergeht, dann braucht man Jacken. Ihre Haare verbergen mir ihr Gesicht, auch die Sonnenbrillen. Sie hat die Hände in den Hosentaschen und zieht den Kopf zwischen die Schultern. Ich weiß, dass nun wieder ihr Lächeln kommt, dass sie mich ansieht, die Augenbrauen hochzieht, ihre Augen dann klein werden, sie den Kopf etwas zur Seite legt, sich mir zuwendet, wartet, die hochgezogenen Augenbrauen, ihr Lächeln, ihre Zähne die Augen, die klein werden, wenn sie lacht.

»Sei stanco?«
Dasselbe am Abend unserer Ankunft als Frage gemeint, von Cristian, bei dem ich wohnte. Bist du müde? Und weil ich verneinte, fuhren wir in das Zentrum der Stadt. Da war es schon fast dunkel. Das geborgte Damenrad klapperte. Der Himmel drückte sein Gesicht in den Mantel der Nacht, die Sterne als Naht, ein schmaler Riss der Mond.
Anfangs waren wir zu viert, dann kam auch noch Paolo dazu, der konnte Deutsch, was ich erst bemerkte, als wir später in der Bar saßen. Wir tranken Wein. Sie redeten, und ich verstand sie kaum oder gar nicht, bis er übersetzte und ich nickte dann und lachte.
Auf dem Weg zur Bar waren wir mehrmals stehen geblieben. Wir hatten Zeit. Immer wieder trafen wir jemanden, den sie kannten. »Ciao« sagte ich dann oder »Buona sera«, auch zu zwei Fußgängern, aus Übermut, zwei Fremde, die uns entgegen kamen, und ich fuhr an ihnen vorbei, in weiten Bögen, ohne zu warten, ob auch sie grüßten.
Auf dem Nachhauseweg verabschiedeten wir uns von den anderen, ohne stehen zu bleiben. »Ciao«, riefen wir, Cristian und ich, hoben die Hand zum Gruß und bogen in eine Seitengasse; eine dunkle, schmale Straße, irgendwo klingelndes Wellblech, wie Messing, dann das Singen der Angeln, als Cristian das Tor vor unserem Haus aufzog, und fernher ein Hund, weit weg, in einer anderen Straße, ein Bellen: ganz leise das Ende des ersten Abends.

»Du bist müde.«
– Man kann nicht müde sein in Italien.

Am nächsten Morgen auf dem Parkplatz, wo wir uns schon früh trafen, begriff ich, dass es Frühling ist in Italien; das Gras in den Rillen des Pflasters grünt, bei Sonnenschein, ein lichter Morgen, für mich, für die ganze Gruppe, auch für sie. Ich sah sie an, nur kurz, und dann auf die Bäume dahinter. Ich hatte den Parkplatz schon am Abend zuvor gesehen, kurz vor unserer Ankunft aus den spiegelnden Fensterscheiben des Busses, die dürren Greifarme, die ich sah, die grünen Blätter, die abends voll Mond gewesen waren, der Parkplatz leer, morgens überfüllt und die Blätter grün, weil die Sonne schien und es Frühling war.
Mediterran, dachte ich. Alles, was ich sehe, ist mediterran: die Bäume, die ich wieder erkannt hatte, das Pflaster zu beiden Seiten, als wir in eine enge Gasse einbogen, deren Arkadenbögen wie Augenlider, die mich sorgsam beobachteten, und auch die Italiener, ihre Sonnenbrillen, die schwarzen Haare, sogar die Tauben auf den Dachfirsten schienen mediterran.
In der Gasse war sie dann neben mir. Wir gingen langsam, blieben beide ein Stück zurück, ohne es zu bemerken. Ich weiß nicht, worüber wir redeten. Ich hätte sie nach ihrem ersten Abend fragen können. Die Sonnenstrahlen warfen ein helles Muster quer über das Pflaster. Bei einer Ampel warteten schließlich die anderen auf uns. Wir gingen wieder in der Gruppe. Und die Frage hatte ich vergessen.

»Du bist müde.«
Ihr Blick, seit einer Sekunde vielleicht oder seit zehn; dieser Blick sagt, dass es eine Frage war. Doch ich kann ihr nicht antworten. Von gurrenden Tauben umstellt kann auch ich ihr nur Fragen stellen. Oder besser: Ich frage sie später, ganz beiläufig vielleicht, nicht hier, erst dann, wenn mir nichts mehr daran liegt, als sinnloses Palaver nur, und es mir egal ist, was sie darauf sagt, in einigen Stunden vielleicht, oder noch später, schon nach unserer Abfahrt, später im Bus, schon nach dem Abschied, irgendwo zwischen Mailand und Udine, wenn alles still ist, die Landschaft vorbeizieht, ich nach draußen starre wie bei unserer Ankunft, die Bäume sehe, Akazien, Wiesen, die alten, niedrigen Häuser, wenn alles still ist, weil jeder schlafen will, aber keiner schlafen kann, weil die Abschiedsküsse noch schwer auf den Wangen liegen, nur langsam verschwinden, und ich mich frage, wie die Gesichter dazu aussahen; die italienischen Mädchen. Abends, irgendwo zwischen Mailand und Udine werde ich sie fragen, ein kleines Stück schon zu Hause, ein größeres noch dort, wenn es mir schon egal ist, weil nichts gewesen ist, nicht dort und auch nicht zuvor, nichts, was nicht längst zerschwiegen ist und worüber wir nicht mehr zu reden brauchten, nicht dort und selbst an unserem einzigen, gemeinsamen Abend nicht.

Die anderen saßen in der Bar. Wir hörten ihr Lachen. Wir waren allein. Ich saß schweigend anfangs, sie rauchend, auf einer kleinen Bank, umspielt von Wind und Gelächter. Später redeten wir auf Italienisch, weil es leichter war, sich unter dem Mantel dieser vielen, fremden Worte zu verbergen. Ich wusste nicht, wovon ich ihr erzählte; es spielte auch keine Rolle. Vielleicht auch darum mein plötzlicher Entschluss, etwas auf ihren Schuh zu schreiben. Und ich suchte in meinem Rucksack nach einem Kugelschreiber, ging einige Schritte näher an das Licht einer Laterne, um besser zu sehen, zwei oder drei, vielleicht auch mehr, und sah zu ihr zurück, das gewellte Dach der Bar, das ich sah, ein schwarzer Wetterhahn darauf, blinkendes Metall, ihr Gesicht, das ich sah, ihre Augen und Wimpern, über dem Dach ein lila Mond und ein steigender Stern.
Als sie sich, während ich schrieb, dann zu mir vorbeugte, ihre Augen seltsam dunkel gegen den Mond, ihre Stirn, als ich sie wieder zurückdrängte, weil sie das Licht der Laterne verdeckte, und ich den Kopf weiter gesenkt hielt, auf ihren Schuh blickend, nicht auf sie, sagte ich: »Aspetta, non vedo niente!«
Und sie hielt weiter still, wartete, und ich ließ mir Zeit, sah sie dann an, wieder nur kurz, und lachte.
Was ich schrieb, erklärte nichts, es war einfach nur so hingepinselt, etwas, was ich mir gerade dachte, einfach und leicht, weil plötzlich alles so schwer wurde, dunkles, grünes Licht von dieser Laterne, das mich umwogte, fast wie Moos oder Farn, sich an mir festkrallte, festwuchs und mich langsam machte und schwer; eine helle, leichte Realität, die ich stattdessen auf ihren Schuh kritzeln wollte, einen Nachmittag, an dem die Sonne rot über den Dächern liegt und es keinen Grund gibt, nicht glücklich zu sein, kein Schweigen, das sich aufschütteln lässt, von einigen Gläsern Wein.
Später, als sie schon gegangen war, stand ich allein am Eingang der Bar. Es war gegen halb zwei, und was zuvor gewesen war, das lag jetzt irgendwo zwischen den Gläsern, neben der Bank und der Laterne; eine leere Weinflasche lag dort, rotbraun gegen das Gras, und ihr Zigarettenstummel und auch noch das Ciao, mit dem sie gegangen war, ihr Lächeln dabei, etwas zögernd, als sie die Augenbrauen hochzog und mich ansah, die Augen ganz klein.
Als wir am nächsten Morgen Fußball spielten, die österreichischen Jungen gegen die italienischen, in einem gepflasterten Hof unter einigen Kastanienbäumen, wo wir als Tore je zwei Jacken hingelegt hatten, als wir liefen und schwitzten, war vieles wieder leichter, als wir schließlich nur noch im Stehen spielten, hin und her, nur noch aus Spaß. Ein Sonntagvormittag, die Jugendlichen trafen sich, schauten dem Spiel zu, saßen herum, rauchten, und auch sie war da, saß im Schatten einer alten Kastanie, auch sie rauchte und lachte, doch anders als am Abend zuvor.

»Du bist müde.«
Ich starre noch immer an ihr vorbei, betrachte die Fassade des Domes, ihre kleinen Augen, marmorne Blätter, Ranken – Verzierungen.
Sie steht auf. Und die Tauben flattern zur Seite.

(1996)