Robby Dannenberg (19)

Eine Zugfahrt

Ich saß am Fenster, las ein Buch und sah ab und zu in die Nacht. Vorher hatte ich ein paar Stunden geschlafen, war noch nicht ganz munter. Ich hatte Mühe, den Zeilen zu folgen.

Der Mann an der Tür hatte das Gesicht hinter seiner Jacke verborgen, die an einem Haken hing. Seine Beine waren ausgestreckt, die Frau, die jetzt die Abteiltür öffnete, würde darübersteigen müssen. Ihr Blick glitt über den Schlafenden, die freien Plätze hin zu mir, unsere Blicke begegneten sich.
Sie stieg über die Beine weg, stellte den Koffer auf dem mittleren Sitz, neben dem Schläfer, ab. Der zog seine Beine jetzt zurück, brummelte etwas, rutschte in eine gerade Stellung und schniefte ein paarmal.

Ich überlegte, ob ich ihr den Koffer auf die Ablage heben sollte, doch sie hatte sich schon ans Fenster gesetzt, mir gegenüber, den Koffer ließ sie auf dem Sitz daneben stehen. Aus einer kleineren Tasche zog sie ein Buch, stellte die Tasche neben den Koffer und schloß die Augen.
Ich betrachtete sie.

Wie lang ihr Haar war, von welcher Farbe ihre Lippen, ihre Haut, wie alt sie war, all das würde nichts von dem Eindruck wiedergeben, den sie damals auf mich machte.

Sie öffnete die Augen wieder, wir blickten uns an. Ich fühlte mich ertappt und sah zurück ins Buch. Wir fuhren, und das gleichmäßige Rattern des Zuges war das einzige, was man hörte.

Sie öffnete ihr Buch und begann zu lesen. Ich klappte meines zu, legte es auf den Sitz neben mir und richtete meinen Blick auf die Welt hinter dem Fenster. Dort saß ihr Spiegelbild. Ich konnte es betrachten, ohne daß sie es merkte.

Nach einer Weile verlor sich ihr Bild im Licht einer Bahnstation, wir hielten. Als eine Stimme den Ort nannte, fuhr der Mann an der Tür hoch. Er zog seine Jacke an, stand auf, nahm die Reisetasche von der Ablage und verließ das Abteil ohne ein Wort. Keine halbe Minute später ruckte der Zug an, wir fuhren weiter. Ich fragte mich, ob der Mann es rechtzeitig geschafft hatte und suchte ihn unter den Leuten auf dem Bahnsteig, konnte ihn jedoch nicht entdecken.

Ihr Spiegelbild tauchte wieder auf. In der Ferne blinkte ein blaues Licht. Ich beobachtete, wie sie in ihrer Tasche kramte, eine Schachtel Marlboro hervorholte und sich eine Zigarette ansteckte. Dann sah sie mich im Fensterglas an. Ich richtete meinen Blick von der Scheibe auf sie, und sie hielt mir die Zigaretten hin. Ich lächelte höflich und schüttelte verneinend den Kopf. Sie zuckte mit den Schultern und legte das Buch weg. Zusammen sahen wir aus dem Fenster.

Lange Zeit trafen sich unsere Augen. Fast im selben Moment verschwand ihr Gesicht hinter einer Wolke Rauch.

Die Abteiltür wurde aufgezogen. »Die Fahrkarten bitte.«

Nachdem er nur einen kurzen Blick hineingeworfen hatte, sagte der Schaffner: »Eine schöne Fahrt wünsche ich Ihnen.«

Meine Mitfahrerin hielt ihn noch einen Augenblick zurück. »Könnten Sie bitte das Licht ausdrehen?«

Wir saßen im Halbdunkel. Unsere Bilder waren von der Scheibe verschwunden. Draußen zogen weite, schwarze Felder vorbei, kahle Bäume, ein Haus allein auf freier Flur. Man spürte die kurz bevorstehende Morgendämmerung. Gleise verzweigten sich, verlassene Waggons und ein rotes Signallicht blieben zurück. Dann wurde mein Bahnhof angekündigt.

Ich dachte, daß es lange dauern würde, bis ich wieder mit einer so faszinierenden Frau allein wäre. Sie hielt mir eine angebrochene Rolle Kekse hin. Ich sah nicht in ihre Augen, ich sah auf ihren Mund, auf ihre Lippen, die ganz leise lächelten. Fast mechanisch griff ich nach einem Keks, er war mit Schokolade überzogen. Ich langte in meine Tasche und holte ebenfalls eine Rolle mit Keksen heraus, die waren ohne Schokolade, dafür mit etwas Zucker obendrauf. Mein Lachen empfand ich als sehr befreiend. Ich bot sie ihr an, und sie nahm sich einen Keks.

Der Zug rollte in den Bahnhof hinein. Das Öffnen der Türen vermischte sich mit plötzlich erwachten Stimmen. Ich legte die Kekse auf die Ablage am Fenster und stand auf. Nahm meine Jacke vom Haken und zog sie an. Als ich nach dem Reißverschluß griff, um ihn zuzumachen, zögerte ich. In meinem Rücken spürte ich ihren Blick.

Ich würde in die Straßenbahn steigen, nach Hause fahren, baden und ins Bett gehen. Ich würde am Nachmittag aufstehen, etwas essen, vielleicht etwas lesen oder fernsehen, später meine Sachen auspacken. Abends würde ich dann mit Sicherheit fernsehen.

Ich ließ den Reißverschluß offen und setzte mich wieder. Gedämpft drang das Quietschen der Bremsen zu uns. Der Zug hielt. Türen und Stimmen. Ich hoffte, daß sich niemand zu uns setzen würde. Erneut begegneten sich unsere Blicke, und es schien eine Ewigkeit, bis sie sich wieder voneinander lösten. Leute gingen an unserem Abteil vorbei, doch niemand kam herein. Als der Zug losfuhr, war ich erleichtert und nannte mich gleichzeitig einen Idioten. Sie hielt mir noch einmal die Zigaretten hin, diesmal griff ich zu. Wir rauchten, sahen nach draußen, und sie blies Ringe in die Luft. Ich versuchte es, doch bei mir hatte es noch nie funktioniert. Wir mußten beide lachen. Sie schlug ihre Beine übereinander, und ich sah ihre Knie und den Ansatz eines Schenkels.

Ich wußte nicht, ob sie meinen Blick bemerkt hatte. Wenn, war mir das jetzt auch egal. Sie drückte ihre Zigarette aus, hielt ihre Arme nach oben und streckte sich. Ich fühlte in mir steigende Erregung. Mit den Armen verdeckte ich die Stelle. Sie lehnte sich tiefer in ihren Sitz zurück.

Wir hatten noch kein Wort miteinander gewechselt. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit dafür.

Ich bemerkte, daß sie mich ansah.

Die Abteiltür glitt auf. »Ist jemand neu hinzugestiegen?«

Als der Schaffner wieder verschwunden war, hatte ich meinen Mut zusammengenommen und war entschlossen, ihr zu sagen, welchen Eindruck sie auf mich machte. Doch bevor ich dazu kam, stand sie auf, verharrte kurz, lächelte, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich mir das vielleicht nur einbildete, und verließ das Abteil. Wahrscheinlich, um auf die Toilette zu gehen.

Es dauerte lange, bis sie zurückkam. Als sie sich setzte, suchte ich ihren Blick, doch sie wich dem aus. Wir fuhren, und es gab keine Geräusche außer dem Rattern des Zuges. Der nächste Halt wurde angekündigt. Sie sah auf die Uhr. Dann stand sie auf und zog sich an. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, und sie nahm ihren Koffer.

Als sie bereits die Hand an der Tür hatte, sagte ich: »Ich hätte schon an der vorigen Station rausgemußt.«

Sie sah mich an und war schöner als alle Frauen, die ich je gesehen hatte. Ich sagte: »Wegen Ihnen.«

Lange sah sie mich nur an. Der Zug hielt.

Sie sagte: »Ich weiß.«

Und lächelte. Dann trat sie hinaus in den Gang und war verschwunden. Überall zischten hydraulische Türen. Ich stand auf und griff nach meinen Sachen.

(1995)