Marlene Bitriol (15)

Eine Rede (1000 Jahre Ö)

Ort: Eine Rednertribüne, geschmückt mit Fähnchen (rot-weiß-rot), Luftballons (rot und weiß) und Blumen. Im Hintergrund eine imposante Mauer, eine riesige Menschenmenge vor der Tribüne. Der Politiker auf der Tribüne am Mikrophon, sympathisches Lächeln, beginnendes Glätzchen, Lesebrille.

Politiker (räuspert sich): Meine Damen und Herren, Kinder, Bürger Ös, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie bewegend dieser Augenblick für mich ist – Ich sehe strahlende Gesichter, die zu mir hochschauen, hoffnungsvolle Augen, ich sehe Menschen, die harte Arbeit gewohnt sind, die aber nie klagen.
Gewiß, dies ist nur ein kleiner Staat, aber, ich frage Sie, gibt es einen Platz, wo die Luft klarer, das Wasser frischer, die Bäume grüner, die Kühe glücklicher und die Menschen wärmer und traditionsbewußter sind? (Stimme bricht) Nein, sage ich euch, und das ist Grund genug, dafür zu sorgen, daß dieses Land, unser Land, noch einmal tausend Jahre erlebt.

(Er nimmt seine Lesebrille von der Nase und putzt sie, eine Geste, die äußerst vertrauenserweckend wirkt, Zuschauer applaudieren, die erste Rakete wird abgeschossen, der Politiker bringt das Volk mit Handbewegung zum Schweigen.)

Wie Sie alle wissen, meine Damen und Herren, begannen vor annähernd neunzig Jahren tapfere und kluge Männer, ja, ich möchte sagen, Pioniere Ös, mit der Errichtung dieses Bauwerks - und ihnen haben wir es zu verdanken, daß dieses Jahr, dem tausendsten Jahr, die Mauer fertiggestellt ist. Hier, in meiner Hand, halte ich den letzten Stein, der die letzte Luke in der Mauer schließt. (Geht unter Jubel zur Mauer) Gewiß, es ist nur ein schlichter Stein, der letzte Stein in der Mauer, die Ö von Vorarlberg bis Wien, von Westen nach Osten, von Süden nach Norden, die ganz Ö umschließt, ohne Luken, Spalten, Eingänge und Ausgänge. Ja, es ist nur ein Stein, aber mit diesem Stein, dem letzten, entsagen wir der Welt draußen, der düsteren Welt, die sich Tag um Tag der Apokalypse nähert. Wir schützen uns, zu unserem eigenen Wohl, vor Kriegen, vor Seuchen, die jeden Tag da draußen entstehen, vor Atombomben, vor gefährlichen Verbrechern, vor Drogensüchtigen und Prostituierten (das Gesicht des Politikers ist vor Aufregung knallrot) Ja, und so sage ich… nein, ich sage nichts mehr, denn es gibt keine Worte, die groß und imposant genug sind, um dieses Bauwerk und das Gefühl, das ich in diesem Moment habe, zu beschreiben.

(Der Politiker schiebt mit ehrfürchtigem Blick nach oben den Stein in die Lücke, Menschen kreischen und jubeln, Gewehre werden abgefeuert, die Luftballons der Kinder fliegen in den Himmel, wo sie am Horizont verschwinden.)

Politiker: Diese Luftballons, die unsere Söhne und Töchter gen Himmel fahren ließen, sind die letzten Zeichen, die die böse Welt dort draußen von uns sieht.
Und nächstes Jahr (er wischt sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel), nächstes Frühjahr beginnen wir mit dem Deckel!

(1996)