Marlene Bitriol (15)

Am Meer

»Ich habe,« beginnt sie mit betont gleichgültiger Stimme, »meine Periode nicht bekommen.« Sie hat den Kopf abgewandt, und der Küstenwind fährt spielerisch durch ihr Haar.
Er zieht die Luft scharf ein, nimmt den salzigen und frischen Geruch nur nebenbei wahr.
»Wie lange?«
»Drei Wochen überfällig.«
»Und jetzt?«
»Das ist nicht dein Problem,« sie geht einfach davon, davon mit gemessenen Schritten, und der lange Rock schwingt.
Er bleibt auf dem Stein sitzen, und seine Finger liebkosen die rauhe Oberfläche.
Er denkt an ihr Gesicht, aber er weiß nicht mehr, wie es aussieht. Schön, schön ist es. War ihr Haar blond? Ihre Augen blau?
An ihre Finger kann er sich erinnern. Sie sind lang und weiß – Spinnenfinger hat er immer gedacht. Oder ihre vorwitzige Nase, die sich immer in sein Haar gebohrt hat.
Periode – seltsamerweise hat er immer gedacht, sie wäre über solche Dinge erhaben. Er kann sie sich nicht blutend vorstellen. Sie hat nie wie andere Mädchen unbekümmert über ihre ‘kritischen Tage’ gesprochen. Bei ihr waren alle Tage kritisch.

Wenn er sie sich mit einem Baby, mit ihrem Baby, auf dem Arm vorstellt, dann sieht er sie nur, wie sie die Kätzchen ertränkt, den unerwünschten Nachwuchs von Giovanni, der schwarzen Katze. Ungerührt, fast kalt. Im Bach hinter dem Haus.
Sie drückt die kleinen Tiere unter Wasser und redet nebenbei mit ihm über Fußball. Dabei sind ihre Haare straff nach hinten gebunden, aber einige freche Strähnen haben sich befreit und hängen ihr über die hitzigen Augen, die glimmen wie heiße Kohlen, die das einzig sichtbare Zeichen für ihre Erregung sind.
Danach wäscht sie sich die Hände, sie rubbelt nicht heftiger als sonst, verwendet nicht mehr Seife. Sie fragt ihn, ob er Saft will oder kalten Tee.
Plötzlich verzerrt sich ihr Gesicht, sie schlägt die Hände vor den Mund und stolpert ins Badezimmer. Er hört, wie sie sich erbricht.
Als sie wieder in die Küche kommt, schreit sie ihn an, warum er denn so blöd schaue.
Und er weicht vor ihr zurück, in diesem Moment hat er eine ohnmächtige Angst vor ihr. Trotzdem zieht sie ihn in ihren Bann mit den kleinen, erhobenen Fäusten. Er geht zögernd auf sie zu. Sie senkt den Kopf und entschuldigt sich flüsternd.
»Entschuldige dich doch nicht,« murmelt er.

Er steht von seinem Felsen auf und folgt dem schmalen Trampelpfad, den sie vorhin gegangen ist, geht hastig und stolpernd, und bemerkt nicht das Gestrüpp, das seine nackten Beine zerkratzt.
Einen kurzen Blick wirft er noch über die Schulter, sieht die aufgewühlte, grau-grüne Oberfläche des Meers – plötzlich weiß er die Farbe ihrer Augen wieder.
Und er weiß auch, daß er zu ihr muß, und beschleunigt seine Schritte noch mehr.
Endlich sieht er sie, und, wie immer, packt bei ihrem Anblick eine unsichtbare, kalte Angst sein Herz. Er geht weiter auf sie zu.
Sie sitzt auf einer Obstkiste, und, wie immer, denkt er, daß sie aussieht, wie aus einem schlechten Gemälde geschnitten. Das hochmütige, blasse Gesicht ist der Sonne zugewandt, die großen Augen sind geschlossen. Er kann sogar die Äderchen auf den filigranen Augenlidern sehen. Das Haar ist lang und so schwarz, daß es fast blau schimmert. Die Hände über dem flachen Bauch gefaltet.
Eine zierliche Elfe, die beschlossen hat, ein Mensch zu sein, die sich aber jederzeit in Luft auflösen könnte.
Er muß sie halten, und so fällt er vor ihr auf die Knie, umschlingt ihre Beine und birgt sein Gesicht in ihrem Schoß. Sie riecht nach Moos, nach Äpfeln und nach Blumen, so süß, daß man ihren Duft nicht fassen kann.
»Bin ich nicht der Vater?« fragt er sie, sieht nach oben in ihre Augen, was für ihn jedesmal einer Mutprobe gleichkommt.
Sie mustert ihn mit einem Blick, mit dem man lästiges Ungeziefer anschaut: »Noch ist nicht sicher, daß ich wirklich schwanger bin.«
»Weich mir bitte nicht aus.«
»Wie solltest du überhaupt der Vater sein?«
Er springt auf und schüttelt sie: »Wir haben miteinander geschlafen.«
»Ach?« Spöttisches Lächeln, das auch bleibt, als er sie immer heftiger beutelte. Er weiß, bald wird er sie schlagen müssen, aber selbst dann wird sie nur laut und heiser lachen, so wie sie es jetzt tut.
»Wer ist es?« Er brüllt unbeherrscht, und seine Spucke benetzt ihr Gesicht. Das Lachen, dieses häßliche Lachen – das Lachen dieses Märchenwesens, dieser Schönheit, dieser Katzenmörderin.
Sie gewinnt, wie immer. Er schlägt das Gesicht in die Hände und seufzt.
So sitzen sie noch da, als die Sonne im Meer versinkt.
»Komm, gehen wir heim,« irgendwann reicht sie ihm ihre Hand. Beim Aufstehen ist ihr Rock hängengeblieben, und er sieht ihre weißen, knochigen Knie.
Er umschlingt sie mit den Armen, sucht ihre vollen Lippen, um sie zu kosten, während seine Finger ihren Nacken streicheln und die Linie der weichen Härchen nachziehen.
Sie erwidert die Zärtlichkeiten routiniert. Der Rock gleitet zu Boden und bleibt dort liegen.
Sein Atem geht schneller, und er knöpft ihr mit ungeduligen Fingern die Bluse auf.
Sie entzieht sich ihm lachend, wirft den Kopf zurück, und ihr Körper bebt unkontrolliert unter ihrem ausgelassenen Gelächter.

Nur der Mond sieht ihn, als er sie später an den Strand trägt. Sie ist blaß wie Milch, ihr Kopf, ihre Arme und Beine hängen schlaff herab. Er wäscht sie, denn er will sie rein in Erinnerung behalten nicht blutbefleckt.
Er weiß nicht, was ihn dazu brachte, den Stein auf ihren Hinterkopf zu schlagen, was ihn dazu brachte, ihren Schädel zu zertrümmern.
Wahrscheinlich war es das Wissen, daß sie abgrundtief böse sein mußte.
Sie liegt vor ihm, ausgebreitet auf dem flachen Felsen, auf dem sie sooft gemeinsam in der Sonne lagen und mit den Füßen wippten.
Er drückt ihre Augen zu und geht davon.

Die Flut wird kommen und sie holen. Sie hat doch schon immer so gern im Meer gebadet.

(1996)