Silva Raddatz (14)

Begegnung

Manchmal, wenn sie sich einsam fühlte, der Kühlschrank leer war und sie die drückende Stille ihrer kleinen Wohnung nicht mehr ertrug, dann setzte sie sich ins Auto und fuhr zum Friedhof. Sie konnte sie nicht erklären, diese seltsame Anziehungskraft, die all jene toten Menschen auf sie ausübten, mit ihren Grabsteinen und Sterbedaten und Bibelsprüchen. Manche der Gräber waren frisch, manche erschreckend klein, über einigen thronten Engel, mit erhobenem Zeigefinger oder ohne, und wieder andere wurden jede Woche mit neuen Blumen geschmückt.

Am meisten interessierten Laura diejenigen, deren Sterbestätte sich schon fast dem Erdboden angeglichen hatte, deren Grab verwildert und ungepflegt war, der Stein darüber verwittert und unleserlich. Diese Menschen, an die sich niemand mehr erinnerte, solche, denen nur noch Laura Aufmerksamkeit schenkte, berührten sie auf eine undefinierbare, erschreckende Weise.

Es war ein ruhiger Sonntag, die Sonne hielt sich hinter dunklen Wolken verborgen, und ein leichter Regen fiel. Es roch nach Moder und Erde, die Pfützen waren grau, der Friedhof leer. Sie hatte die Hände in ihren Manteltaschen vergraben, das Kinn an den rauen Wollschal gepresst, und verharrte einen Augenblick unentschlossen an der Weggabelung, ehe sie den Pfad zur Ostseite einschlug, die sie nur selten besuchte. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Mann erst bemerkte, als sie vor ihm stand.

Überrascht hielt sie inne, unentschlossen, ob sie weitergehen sollte oder nicht. Er war etwa in ihrem Alter, hatte eine untersetzte Figur und einen Drei-Tage-Bart. Sein Haar war zerzaust, mit einzelnen grauen Strähnen darin, und seine Kleidung machte einen abgetragenen, verwaschenen Eindruck. Er stand gebeugt, den Kopf gesenkt, und betrachtete das Grab, das zwischen ihnen lag. Laura warf einen schnellen Blick auf den Grabstein.

»Anna Steinberger« stand da, »1941-2002«. Kein Spruch, keine Blumen, nur überwucherndes Unkraut. Sie hätte umdrehen und fortgehen sollen, doch sie rührte sich nicht. Laura verstand selbst nicht, was sie hielt, was sie zwang, sich jener peinlichen Stille zu stellen.

»Haben Sie sie gut gekannt?«, fragte der Mann plötzlich.

Laura biss sich auf die Zunge. Natürlich hielt er sie für eine Angehörige! »Sie war … eine Freundin«, murmelte sie verlegen, »Und Sie? Woher kannten Sie sie?«

Er zögerte, zog die Hand aus der Tasche und kratzte sich am Kopf. »Manchmal, an Sonntagen, besuchte sie mich«, flüsterte er schließlich. Seine Stimme war rau und brach an den Satzenden, als benutze er sie nicht oft.

Laura nickte.

Eine Welle von Neid durchflutete sie bei der Vorstellung, jemand käme zu ihr nach Hause, um mit ihr zu reden, wenn sie es nötig hatte. Dann bräuchte sie nicht auf den Friedhof zu gehen und unsinnige Überlegungen anzustellen, wer all diese Leute wohl gewesen sein mochten.

»Sie war meine beste Freundin«, fügte sie hinzu. »Sie hat mich aufgemuntert, wenn ich traurig war. Sie hat mir Tee gekocht.«

»Oh«, sagte der Mann, »ich erinnere mich gut an ihren Brennnesseltee; er war berühmt. Und ihre Schokoladenkekse …«

Der Schmerz, der unwillkürlich in Laura aufgekeimt war, wurde stechender; ihre Hände verkrampften sich. Wie gut sie sich ausmalen konnte, was ihr Gegenüber empfand! Einen solchen Menschen zu verlieren musste grausam sein, vor allem, wenn man sonst niemanden hatte!

»Sie war so uneigennützig«, sagte sie, als wolle sie Anna durch ihre Worte auferstehen lassen, als erwarte sie, die Tote im nächsten Moment durch den leichten Nebel auf sie zukommen zu sehen.

»Jeder mochte sie!«, stimmte der Mann Laura zu, »Ihre Familie muss sich sehr glücklich schätzen, mit ihr gelebt zu haben.«

»Und ich …«, Laura spürte einen Kloß in ihrem Hals. Tränen stiegen ihr in die Augen; hastig blinzelte sie sie weg. »Sie wusste immer sofort, wie es mir ging. Sie verstand mich, obwohl wir so unterschiedlich waren. Sie war so fröhlich und gütig … der beste Mensch, den ich je gekannt habe.«

Der Mann hob den Kopf und fing Lauras Blick auf. Er lächelte leicht, aber es war ein schmerzliches Lächeln, voller Trauer und Wehmut.

»Ich bin Anna nie begegnet«, gestand er.

Der Wind blies über sein Gesicht und bewegte sein spärliches Haar. In seinen Augen sah Laura sich selbst, sah sich klein und unbedeutend unter den hohen Laubbäumen stehen, deren Blätter sich bunt färbten, sah sich zittern und beben und plötzlich das Lächeln eines Fremden erwidern.

»Ich auch nicht«, sagte Laura.

So standen sie, Anna zwischen ihnen ruhend, und blickten sich unentwegt an, vereint im Traum von der besseren Menschheit. Die Angst verließ Laura und schwebte davon, verwandelte sich in die unsichtbare Übereinkunft zweier Menschen. So gingen sie Schulter an Schulter fort, schweigend, weil es vorerst nichts zu sagen gab, und ließen Anna zurück.