Sebastian Meineck (15)
Marielle
Mit Marielle kann man nicht spielen. Marielle kann nicht sprechen. Marielle ist die Dümmste von allen. Das sagen die Kinder in der Schule.
Die Kinder geben ihr viele Namen. Pausbacke. Schwachkopf. Heulsuse.
Ihr Papa und ihre Mama nennen sie das dumme Ding oder einfach nur »es«.
Marielle wohnt am Meer. Marielle mag das Meer. Oft geht sie allein an den Strand. Das darf sie nicht, aber sie tut es trotzdem. Auch wenn es regnet.
Sie setzt sich in den Sand. Die Wellen tasten zu ihr hinauf und streicheln und kitzeln sie. Die Feuchtigkeit zieht sich durch ihr Kleid, bis tief in die Haut hinein. Marielle mag das gern.
Das Meer ist weit und dunkelblau. Es geht bis zum Horizont. Marielle lauscht dem Rauschen des Meeres. Es redet mit ihr.
Der Wind singt für sie. Er streicht ihr liebevoll durchs Haar. Er trägt den Geruch von Salz und Seetang an ihre Nase.
Marielle kann das Meer auch schmecken. Wenn sie schluckt, spürt sie den Geschmack des Meeres ganz deutlich in ihrem Hals.
Bald ist Marielle voller Sand. Sie spürt ihn in ihrem Kleid und auf ihrer Haut. Er kommt immer dann, wenn das Meer sie streichelt. Durch den Sand weiß sie, dass sie dem Meer ganz nahe ist.
Manchmal macht ihr das Meer kleine Geschenke. Die findet sie am Strand. Eine Holzkiste oder ein Seil oder eine Glasflasche. Einmal hat ihr das Meer sogar eine Puppe geschenkt.
Mama hat sie ihr abgenommen. Das ist Dreck, hat sie gesagt. Marielle hat geweint und gebrüllt, und die Mama hat geschrien. Da kam der Papa und hat Marielle an den Ohren gezogen, und sie ist weggelaufen ans Meer.
Sie weiß nicht, was die Mama mit ihrer Puppe gemacht hat, aber sie hat sie nie wieder gesehen. Seitdem zeigt sie den Eltern nicht mehr die Geschenke, die ihr das Meer macht.
Früher hat die Mama geschimpft, wenn Marielle ans Meer gegangen ist. Früher hat sie der Papa an den Ohren gezogen oder sie in ihr Zimmer gesperrt. Heute sagen die Mama und der Papa nichts mehr dazu.
Sie sagen auch nichts, wenn sie den ganzen Tag weg ist und nicht in die Schule geht. Oder wenn sie erst in der Nacht wieder kommt und am ganzen Leib zittert.
Wenn Marielle aber im Haus ist, sagen sie sich gegenseitig: Guck dir das dumme Ding an, so blass und schwach. Dankt nicht, hilft nicht, bringt nichts auf die Reihe. Aber bekocht will es werden.
Marielle mag die Muscheln. Sie kommen vom Meer, und sie riechen wie das Meer. Sie leben in großen Familien. Durch ihre dicke Schale kommt nichts hindurch. Marielle wäre gerne selbst eine Muschel.
Damit sie nicht an der Luft sterben, wirft sie die Muscheln zurück ins Meer. Auch wenn es sie traurig macht, weil sie sich dann von ihnen verabschieden muss. Oft geht Marielle stundenlang über den Strand und sucht die Muscheln im Seetang. Jedes Mal achtet sie darauf, dass sie auch weit genug wirft.
Heute ist sehr ruhiges Wetter. Der Wind singt ganz leise. Die Wellen flüstern nur. Marielle geht den Strand entlang, und das Meer berührt zärtlich ihre Füße. Es ist schwächer als sonst. Es trägt keine Geschenke und keinen Seetang und keine Muscheln an den Strand. Marielle überkommt große Sehnsucht.
Sie bleibt stehen und schaut aufs Meer. Es kräuselt sich. Auf einmal ist sein Geruch ganz stark. Sie geht einen Schritt weiter. Das Wasser umspielt ihre Knöchel.
Gebannt lauscht sie dem Flüstern. Der Saum ihres Kleides saugt sich voll. Bald steht sie bis zum Bauch im Meer. Sie atmet so leise wie der Wind.
Weich schmiegen sich die sanften Wogen um ihren ganzen Körper. Bedächtig glätten sie ihr Haar. Der vertraute Geschmack von Salz liegt auf ihren Lippen. Vor ihren Augen schlängelt sich der Meeresspiegel. Marielle wird bei den Muscheln sein, und das Meer wird sie ganz in sich aufnehmen.