Lucia Leidenfrost (17)

morbus:chorea

veitstanz

aufbruch

das buch wird noch in den koffer gelegt, bevor er geschlossen wird und die lederriemen festgezurrt werden, das schloss zugesperrt und er alleine gelassen wird. das zimmer ist dunkel, nur erhellt durch eine lampe am schreibtisch.

lange ist es still im zimmer, lange brennt die lampe am schreibtisch noch. lange passiert nichts, mit dem koffer, lange ist nichts mit dem koffer passiert. heute wurde er abgestaubt, heute wurde er heruntergeholt vom schrank, heute wurde er eingepackt. als das licht gelöscht worden ist, steht der koffer allein im zimmer. ein leises flüstern ist zu hören, ein leises jammern, eine verzweifelte stimme, aber es kommt niemand, um das stimmchen verstummen zu lassen.

durchs offene fenster weht ein lüftchen und hebt den brief vom schreibtisch, lässt ihn vor die füße des koffers fallen.

es ist noch dunkel, als der koffer genommen wird, das wimmernde stimmchen gestreichelt wird, eine träne auf dessen wange fällt und das stimmchen aufwacht.

papa, sagt das stimmchen, papa …

du hast fieber, mein kleiner, schlaf wieder.

der hut, papa, sagt das stimmchen, der koffer? papa, papa, wohin? das stimmchen schreit. es schreit zu laut.

psst, die stimme des vaters. psst, aber das kind weint zu viel. der vater nimmt es in den arm.

papa, lass mich nicht allein, weint das kind. papaaaaa!

pssssst. der vater geht mit dem kind auf dem arm zum schrank, macht die türe auf und holt eine kleine tasche heraus.

pack alles zusammen, was du brauchst.

das kind wird im nachthemd gelassen, es wird sehr warm angezogen, viel zu warm für diese jahreszeit. der koffer wird vom vater gehoben, ein rucksack wird vom vater auf die schultern gehoben, das kind nimmt die kleine tasche, der vater schnallt sie dem kind fest auf den rücken, dann nimmt er den koffer fester in die hand, hebt ihn hoch, nimmt sein kind an der anderen hand und verlässt das haus.

leise fällt die tür ins schloss.

im dämmerlicht ist die allee kaum zu sehen, am horizont ist schon ein lichtstreifen morgen. dem kind kommt die allee so weit vor, die bäume gespenstisch groß, sie flüstern gefährliche flüche. das kind rückt näher zum vater, dem kind fällt auf, dass der vater kalte hände hat. der vater geht unsicher und unentschlossen, der vater geht hinaus aus der allee, schnell tragen ihn seine füße fort. für einen schritt vom vater muss das kind zwei machen.

wohin, papa, fragt der sohn, als er das taxi am ende der allee stehen sieht.

der vater antwortet nicht, er hebt den sohn stumm ins taxi, er gibt dem fahrer den ledernen koffer, setzt sich neben den sohn.

wohin?, fragt der taxifahrer, doch das kind kennt die stimme.

onkel?, fragt es.

der fahrer dreht sich um und lächelt dem kind zu. zum bahnhof, also wirklich?, fragt der fahrer.

der vater nickt und legt den arm um sein kind.


weg

die füße vom vater schlagen aus.

dem kind kommt der vater sehr gespenstisch vor, wie er neben ihm sitzt und die füße ausschlagen. der fahrer versucht, das kind zu beruhigen. aber es ist so dunkel, und der vater macht so schreckliche bewegungen, das kind schreit einfach los. das kind klammert sich an den vater, der versucht es auch zu umklammern, um es zu beruhigen.

Papaaaa!, schreit das kind.

psst, stößt der vater hervor, aber es ist noch beunruhigender, wie es aus seinem mund hervor explodiert.

stefan, sagt der fahrer, als sie am bahnhof angekommen sind, bist du dir sicher?

ja, sagt der vater.

es wird langsam hell, und der vater scheint noch magerer zu sein im morgenlicht.

und jakob, fragt der fahrer. das kind ist sich nicht sicher; das gesicht ist zu hoch oben, die gesichtszüge sind im dämmerlicht nicht zu erkennen, ob es der onkel ist?

den nehm ich mit, sagt der vater, als wäre sein sohn nicht an seiner hand.

aber du wirst es alleine mit ihm nicht schaffen.

was, explodiert es aus dem vater, schaffe ich noch?

der vater nimmt seinen sohn und geht mit ihm zu den zügen. es ist einer der ersten züge, und der zug fährt richtung westen. der fahrer geht hinter den beiden her und trägt den koffer.

der fahrer umarmt den vater, umarmt den sohn, gibt ihnen den koffer nach.

papa, wohin fahren wir denn?

nach westen.

das kind stellt sich eine große stadt mit vielen gesichtern vor. und was machen wir in westen?

wir sind dann am meer.

das kind stellt sich eine große stadt mit vielen gesichtern vor, eine stadt mitten im meer, und nur es und der vater.

und was machen wir im meer in westen?

wir steigen in ein schiff ein.

das kind stellt sich eine große stadt mitten im meer mit vielen gesichtern vor, und das kind steht mit dem vater auf dem schiff und winkt den gesichtern, ganz allein mit dem vater, nur für sich den vater.

der vater sitzt am schiffsdeck. der sohn läuft herum und versucht, seine überschüssige energie loszubringen. er hüpft.

papa, die welle. papa, die wellen. komm, schau!

der vater vermeidet zu sprechen. er ist schon auffällig genug. er kann sich nicht mehr still halten.

er tänzelt. bald nicht mehr.

der vater lernt die frau kennen. der sohn hüpft, vor dem vater, vor der schönen frau. der vater lächelt die frau an, die frau lächelt dem vater und dem sohn zu.

der vater schimpft den sohn. immer, musst du … du darfst nicht …

lass, sagt die schöne frau zum vater. es ist gut, flüstert sie dem sohn zu.

vater und sohn stehen an der reling. vater und sohn stehen nebeneinander. sohn spürt den wind und die hand des vaters. er grinst zum dünnen vater hoch. der vater fährt sich mit der hand übers gesicht.

er ist stiller geworden. er bewegt sich nicht mehr ständig.

papa, ich mag dich.

ich mag dich auch, sagt der vater.

er wendet zuerst das gesicht vom sohn, dann seinen ganzen körper. er geht langsam und steif weg.

Papa!, ruft der sohn, aber der vater dreht sich nicht mehr um.


ziel

auf dem koffer sitzt die schöne frau und auf dem bett der blasse herr.

wenn der sohn schläft, rücken die beiden näher zusammen.

stefan, sagt die frau einmal, was ist mit dir? was machst du mit deinem sohn hier auf diesem schiff? was plagt dich?

stefan schüttelt den kopf. er setzt sich auf den koffer.

was, stefan, ist es?

die krankheit steht mitten im raum, steht zwischen ihr und ihm. er kann sie nicht beiseite schieben, um freien blick auf sie und sich zu haben.

er wartet mit der antwort.

gut, beginnt er. er streicht sich über die wange. er hat bemerkt, dass er ins nächste stadium eingetreten ist. seine anfälle bleiben aus. jeder schritt wird zur anstrengung.

stockend beginnt er, vom vater zu erzählen. von der krankheit, vom teufel. von der mutter, die den vater trotzdem heiratete. von seinem bruder, dem nichts fehlt. von der krankheit.

die krankheit, sagt stefan, oder der teufel in mir.

und das erbliche, sagt er dann, der erbliche teufel. vielleicht auch in meinem sohn, sagt er. vielleicht ist er auch ein veitstänzer.

sie ist verstummt. sie umarmt ihn nicht. sie blickt nur ernst mit ihren blauen augen. aber das ernstblicken steht der schönen frau nicht. und das weinen steht der frau auch nicht.

der sohn fällt dem vater in die arme. der vater versucht, nicht zu weinen.

schlecht geträumt, fragt er.

ja, sagt das kind, schlecht geträumt.

schwarz, sagt es, und du im schwarz. ganz weiß, sagt es.

die schöne frau wischt sich eine träne von der wange. hast du schon gesehen, fragt sie, hast du schon gesehen, wie im schwarz die sterne funkeln?

das kind schüttelt den kopf, klammert sich an den vater.

na, dann komm, sagt die schöne frau.

dem kind ist die mutter gestorben, als sie es geboren hat.

das kind genießt die kalte hand des vaters und genießt die rechte hand in der warmen hand der schönen frau, als wäre es sohn auch von ihr.

draußen ist es kalt, die frau zieht das kind warm an. der vater lehnt an der türe und lächelt. er lächelt so schwach, wenn er lächelt.

das kind schiebt seine hand in die kalte faust des vaters und streckt der frau die andere hand entgegen.

auf die reling darf es hinaufklettern, hinter ihm der vater und die schöne frau. die sterne funkeln in der klaren nacht. eine hand spürt es auf seiner ruhen. es ist vaters rechte hand. eine hand hält ihn um den bauch. es ist die hand der schönen frau.

es ist still, und das kind betrachtet die sterne im dunklen. wie sie herunterfunkeln, als wären es lauter glückliche augen, lauter glückliche augenblicke, die die sterne heruntersenden.


papa, schreckt das kind auf. papa, schreit das kind in die dunkelheit. die dunkelheit ist zu dunkel, im dunklen fürchtet sich das kind vor der dunkelheit.

das kind wartet, aber es kommt keine antwort. oma, schreit es, omaaaaaaa. aber keine oma, denn das kind ist auf einem schiff. papa, schreit es, aber der vater kann seinen verkrampften fuß nicht lösen. und er kann seine zunge nicht bewegen. und das kind würde noch mehr erschrecken, würde er zu sprechen beginnen.

das kind am anderen ende beginnt zu schluchzen. es versucht leise zu sein beim weinen. es will die dunkelheit nicht aufwecken. es will sich den geistern der nacht nicht verraten.

die augen gehen über, an der wange des vaters rinnt ein tropfen entlang, der vater kann ihn nicht fortwischen. der tropfen rinnt über seine bartstoppeln, über die lippe in den mund. aber der vater kann die träne nicht schlucken. und der vater schmeckt nur das salz vom tropfen.

das kind wird sich in den schlaf weinen, hofft der vater. mein bein wird sich nicht entkrampfen, weiß der vater. lange nachdem das kind sich in den schlaf geweint hat, wird sich mein bein noch nicht entkrampft haben. wird sich meine zunge nicht gelöst haben und mein atem nicht leichter sein.

der vater spürt eine salzige träne auf der wange, aber er wird auch diese träne nicht schlucken können.

papa?

mmm, stößt er hervor.

darf ich zu dir?, flüstert das kind.

mmmmm, antwortet der vater dem kind.

tapsende schritte und kalte füße und ein kinderkopf mit lockigem haar auf der schulter des vaters.

irgendwann schlafen beide ein.