Gregor Krammer (16)

Brückenschnee


vOm dAch fRagt dEr aFfe:

weshalb werde ich nass

wIe eR eS dEnn sChaffe,

sich nicht mehr zu wehren

uNd die eNten, iN sElbiger lAge vErharrend

sinken ganz tief zum meeresgrund

wO dEr aFfe dEr gIraffen sIlberschlot kÜsst

das wasser schillernd-bunt, die arme wund

wO iHr kOpf hErausschaut

rot, blau-violett, im körper ein wundspitz

eS dOnnert lAut (dEr kOpf iSt wEg)

wie der in dem vater vom zeichentrickkitz

dA fÄllt dEr aFfe vOm dAch hErab, uNd nOch iMmer fRagt eR:

wieso werde ich nass?


Wir nannten sie Schakale, weil sie sich auf alle viere duckten und ihre Lefzen weit aufrissen, wenn sie durch die Straßen preschten. Ihre Gesichter kannte man nicht, denn sie trugen graue Mäntel, deren Kragen sie hochgeschlagen hatten, und die braunen Hüte hatten sie tief herabgezogen. Wenn sie dich verfolgten, dann immer im Rudel, und es gab keinen Platz, der für sie unerreichbar war. Begleitet von kehligem Gebell kreisten sie dich ein, allezeit und überall, sprangen von Dach zu Dach und tauchten aus Kanälen hervor, rutschten an Regenrinnen herab und erklommen Hauswände.

Uns hatten sie noch nie gejagt. Wir sahen immer nur sie laufen, die Gejagten, und gleich darauf drei oder vier Schakale. Es waren jedes Mal dieselben, wir hatten ihnen schon Namen gegeben: Wundenwolf für den Großen mit den breiten Schultern, Speerdonner und Leichenkuckuck für die zwei Schmalen, die ständig nebeneinander aufzufinden waren und sich synchron bewegten, »als hätten sie zusammen nur ein Gehirn«, und schließlich Anubis, der Einzige, der einen schwarzen Mantel trug und die Truppe anzuführen schien, als Erster auftauchte und als Letzter verschwand.

Der Asphalt war nass, verklebt von geschmolzenen Leibern dreckiger Schneeklumpen, das Gras noch gefleckt von vereistem Frost. Wir saßen auf Der Brücke, an der die Straße einwärts in Die Stadt glitt, über einen Hügel hinweg in langen Windungen ins Gewirr ineinandergeschobener Häuser und verwinkelter Gassen, die ins Nichts hinein- und von dort wieder herausführten. Wir wohnten dort, das Nichts als Nachbar. Ein jeder wohnte in Der Stadt, der namenlosen, außerhalb gab es kein Überleben, es standen keine einsamen Häuser in Tälern, Wäldern, Schluchten. Man lebte nur dort, im Herzen des Landes, in Der Stadt, die noch lebloser war als das Rundherum, doch das kümmerte niemanden, solange noch ein Atemzug zu machen war.

Hier draußen kamen sie kaum vorbei, die Schakale. Es gab außerhalb Der Stadt nichts, was es zu jagen wert gewesen wäre, da keine einsamen Häuser standen an Teichen, Klippen, Stränden. Gesträuch, das sich um verkrüppelte Bäume drängte, dazwischen räudige Tiere, die meisten von der Tollwut geplagt. Auf Der Brücke mussten wir uns vor denen aber nicht fürchten, denn sie stand, blanker Beton, vier Meter aus den Wiesen hervor, gerade breit genug, um darauf zu sitzen, zu nichts gut und ein langer Schatten, der sich quer durch die Landschaft zog. Erst wenige hatten gesehen, wo sie endete, Die Brücke, oder viel eher Die Mauer; denn eine Mauer war sie, man musste umdrehen, wenn sie dir den Weg abschnitt. Brücke nannten sie alle, und doch verband sie nichts mit niemandem, ein Viadukt für die Gespenster der Sinnlosigkeit, die träge in unsere Straßen taumelten und den Vorübergehenden auf den Rücken sprangen, die sich von ihrer Last bald durch einen Hochhaussalto befreiten.

Nur von Der Stadt aus konnte man Die Brücke überhaupt betreten, aus dem Fenster von Achims Wohnung begaben wir uns immer darauf; sein Haus hing vornüber wie ein Greis, der sich auf einen Stock stützte (nur dass der Stock fehlte), die Fenster auf Die Mauer hinabblickend. Achim konnte keine Möbel beanspruchen außer einer Matratze und ein paar Schränken, die er mit Eisenbeschlägen gegen die Wand genagelt hatte, doch wir brauchten auch nicht mehr: die Matratze ließen wir durchs Fenster hinab, und wenn sie nicht herunterfiel, konnten wir springen, auf Die Brücke.

Zu viert waren wir, folgten ihrem Lauf bis hier hinaus, viele Kilometer, mehrere Stunden, und erst in der Nacht kehrten wir wieder heim, mit glühenden Taschenlampen und den Autolichtern als einzige Wegweiser.

Joleen saß neben mir. Sie wohnte im Turm zu Blababel, oder einfach nur Dem Turm, wie ihn die meisten nannten: ein tiefes Loch in die Erde hinein, statt einem Wolkenkratzer ein Erdkernkratzer, beleuchtet durch müden Strom, auffindbar durch vier Fackeln, die in den Ecken des Grundrisses staken; ins Stiegenhaus gelangte man durch eine Falltür.

Sie hatte mir den Arm umgelegt.

»Mio«, sagte Joleen. »Mio, mein Mio.«

»Ja«, sagte ich.

Achim sagte nichts. Er saß nur da und ließ seine Beine baumeln, die Hände auf Die Brücke gestützt. Hennes hatte sich an ihn gelehnt, er putzte seine Brille. Hennes sagte nichts.

»Das muss der Sonnenuntergang sein«, meinte ich, als in den dunklen Wolken am Horizont ein verwischter, roter Schimmer zu erkennen war.

»Wir warten trotzdem«, entgegnete Achim düster.

Joleens Finger fuhren meinen Nacken auf und ab. »Worauf?«

»Heute kommen sie.«

»Ach«, sagte ich und spuckte auf die Straße hinab. »So wie sie gestern auch schon gekommen wären, was?«

»Heute ist es anders.«

»Ist es?«

»Sie finden Beute, das weißt du. Schon viel zu lange her, dass wir sie nicht gesehen haben.«

»Wieso interessiert es dich überhaupt, sie wieder zu sehen«, Hennes setzte sich die Brille auf, »sie werden wohl schon keinen von unseren haben.«

Achim sagte nichts.

»Von uns«, Joleen warf die Haare in den Nacken, »wir, wir vier, das sind ›uns‹, Hennes.«

Hennes sagte nichts; er sah zu Joleen hinüber. Hunde bellten, vielleicht, weil ihre Welpen die Tollwut bekommen hatten, oder sie selbst die Tollwut hatten, oder weil alle die Tollwut hatten. Eine Krähe schrie; wahrscheinlich lag ihr Nest am Boden und die Eier waren zerbrochen, die nackten Küken mit den großen Augen wurden von Hunden aufgeleckt, die ihr schaumtriefendes Maul über die nackten Körper senkten.

»Außerdem kann es uns egal sein; sie erwischen doch ohnehin jeden.«

Achim schielte zu Hennes hinüber, der mich ansah, als ob er nicht glauben wollte, was ich gerade behauptet hatte. Er setzte zum Sprechen an, da unterbrach ihn Achim.

»Komm schon, du weißt es doch auch«, murmelte er tonlos.

Die beiden sahen sich in die Augen, Hennes legte seine Hand an Achims Wange und streichelte sie.

»Nicht du auch noch.«

»Was heißt denn auch noch, er hat doch Recht. Gestern war ich an Der Mauer, hab’ meinen Hammer nur eingesteckt gehabt, noch nicht einmal herausgezogen hab’ ich ihn, nur über den Beton gestreichelt, dem ich ein Loch verpassen wollte, ein Loch, das die anderen sehen können, nicht so wie das hier …«

Hennes ließ die Hand fallen.

»… und da waren sie schon, schneller als nur was hab’ ich sie gehört, hab’ mich verkrochen in mein Haus und gehofft, dass sie mich nicht riechen können …«

»Wie sollten sie dich riechen können«, blaffte Hennes in die Dunkelheit.

»Ich weiß, aber du denkst nicht daran, nicht, wenn sie vor deinem Haus sind und schnüffeln …«

Hennes sah Achim an; der drückte ihn nach einer kurzen Pause an sich. Joleen summte ein Lied; es war heiter, doch hier auf Der Brücke verlor es an Tiefe, klang leblos und deplatziert, und ich sehnte mich wieder nach dem Schreien der Krähen. Keiner von uns wusste, wieso wir ein ums andere Mal hierher zurückkehrten; vielleicht war es die Sucht, sie zu beobachten, das schaurige Gefühl, im Dunkeln auf dem Beton sitzend fürchten zu müssen, jedes Geräusch, jeder verirrte Lichtstrahl könnte das Ende bedeuten, doch wenn wir so darüber nachdachten, klang das alles wahnsinnig und gedankenlos. Wir waren aber nicht gedankenlos – ansonsten hätten sie uns schon längst erwischt. Wir hielten uns dort auf, wo sie kaum hinkamen, um die einzelnen Perioden zwischen ihren Auftritten länger zu machen, damit wir unsere Hände nicht wund applaudieren mussten und unsere Gesichter in schmerzhaften Grimassen nicht verkrampften. So besuchten wir nur wenige ihrer Vorstellungen, vielleicht vier oder fünf pro Monat. Wir waren nicht gedankenlos.


Autogeräusche in der Ferne. Wir rückten näher aneinander, duckten uns unwillkürlich.

»Das ist einer«, flüsterte Achim und kniff die Augen zusammen. Ein helles Schweiflicht blitzte auf, verschwand in einem Graben, tauchte wieder daraus hervor. Das rote Rücklicht spiegelte sich in den Lachen auf der Straße.

»Er fährt viel zu ruhig«, flüsterte Joleen.

Hennes nickte. »Ja.«

Wir warteten, bis das Auto an uns vorbei war, dann richteten wir uns wieder auf.

»Du und deine Hellsehereien«, stupste ich Achim an.

»Lass mich«, meinte er.

Es war wieder still. Joleen berührte mich erneut. Ich konnte nichts mehr sehen, es war schon zu dunkel; aber ich konnte hören, wie Achim und Hennes sich küssten.

»Sollten wir nicht gehen? Die Sonne ist schon weg«, meinte ich, aber mittlerweile schienen nicht nur Achim, sondern auch Joleen und Hennes davon überzeugt, hier warten zu müssen – auf was auch immer.

»Dunkler kann es nicht mehr werden«, wisperte Joleen mir ins Ohr. Drei gegen einen, und ein Argument, das nicht zu widerlegen war …


Reifen quietschten. Alle zugleich schossen wir in die Höhe und legten uns sofort wieder hin.

»Diesmal«, flüsterte Achim, dann presste er seine Lippen zusammen.

Das Auto kam aus der selben Richtung wie vorhin, wieder auf Die Stadt zu, doch anders als letztes Mal wurde es gejagt, wir konnten es erkennen. Schon hörten wir Gebell in den Schatten, ein ganz anderes als das der tollwütigen Hunde.

Anubis schoss an uns vorbei, als das Auto noch weit außerhalb der Reichweite lag. Er verschanzte sich unterhalb der Straße auf der abschüssigen Wiese, uns so nah, dass er einen jeden riechen hätte können, wenn der Wind auf seiner Seite gewesen wäre und wir irgendeine Art von Geruch ausgeströmt hätten.

Der Lenker verriss das Steuer, erwischte die Kurve dabei nicht richtig, was Wundenwolf ausnutzte. Mit einem Knall landete er auf dem Autodach, die Heckscheibe barst wie dünnes Eis. Speerdonner und Leichenkuckuck flankierten das Fahrzeug, zwei furchterregende Leibwächter, die auf allen Vieren liefen, ehe sie sich aufrichteten und die Seitenfenster einschlugen. Das Auto kam genau in dem Moment von der Straße ab, als Anubis aus seinem Versteck auftauchte. Er wurde von der Motorhaube erfasst, wummerte gegen die Frontscheibe und riss Wundenwolf mit sich, während das Auto in den Graben hinabstürzte, sich überschlug und in alle Einzelteile zersplitterte. Immer tiefer fiel es, ein Knäuel aus zertrümmerten Autoteilen und zerquetschten Leibern, die Scheinwerfer blinzelten noch ein letztes Mal herauf und stießen der Nacht zwei helle Lichtkegel durchs Herz. Dann zerriss es den Tank und ein brüllender Flammenball verschmolz alle Fragmente zu einem einzigen Gebilde.

Wir konnten weder Anubis noch Wundenwolf ausmachen, als wir in die Nacht starrten. Doch als der Schein der Flammen immer stärker wurde und die Landschaft mit einem orangefarbenen Schimmer besprenkelte, sahen wir ihre Konturen neben einem hohen Baum. Anubis hockte in der Wiese, Wundenwolf lag neben ihm, erschöpft, doch soweit vom Tod entfernt, dass die einäugigen Geister in unseren Köpfen fürchteten, einen Spuk zu beobachten, und mit ihren Stummelarmen verzweifelt an unseren Schädeldecken kratzten.

Triumph, Triumph konnten wir es nicht nennen. Bislang hatten wir nie gesehen, dass überhaupt etwas schief ging bei ihrer Jagd – aber das Ausmaß der Katastrophe, die eindrucksvoll ihre Ouvertüre vorgetragen hatte, war in einigen jämmerlichen Tönen zergangen, die nicht halb so satt klangen, wie Motorhauben robust sein mochten. Zersplittert in die Nichtigkeit eines Wimpernschlags, blinzelten die einäugigen Dschinns, und fast musste ich ihren Worten Glauben schenken.

In irrlichternder Stille krochen wir zurück in Die Stadt, um uns in Schlaf zu versenken. Es blieb still in den Straßen und Tauben schissen mir auf die Schulter, bevor ich zu Joleen hinab in den Turm stieg und sie Mio mit flüsternder Stimme an ihre Bettkante rief.

Als die Nacht über ihre Kante kippte, schrie Joleen.

Am nächsten Tag wachte ich auf, und ein wenig wunderte ich mich darüber. Dann schlug ich die Decke zurück, aus der Gewohnheit des Alleinseins heraus, aber Joleen wickelte sich im Halbschlaf schon wieder in die Daunen, die eigentlich Stroh waren.

Ich stand am Fuß Des Turms und rauchte, in kaltem, nassen Nebel. Zu meinen Füßen lag ein toter Vogel, aber es kümmerte mich nicht, nicht wirklich; es ging mich fast gar kein wenig an. Waren doch selber schuld. Zuerst scheißen und dann auf ein langes Leben hoffen.

Ich ging. Joleen wachte unterdessen nicht auf. Tot war sie aber nicht; sie hatte mich schließlich nicht angeschissen.

Sie stand schließlich in Achims Wohnzimmer und sah mich, wie ich gegen die Wand gelehnt dastand und las.

»Achims Buch?«, fragte sie.

Ich nickte.

Achims Buch. In dem alles geschieht, was geschehen könnte. Wo Achim, als Erster natürlich, von den Schakalen gefasst wird, um von den grausamen Zwillingen getötet zu werden, Wundenwolf mir mein Bein zerfetzt bei einem Fluchtversuch und, wie ich vermutet hatte, starben wir alle eines Nachts, weil wir uns verrieten.

Achim hob eine Hand, um Joleen zu begrüßen. Er lag auf der Matratze gleich neben mir und hatte die Augen geschlossen.

»Hennes kommt heute nicht.«

»Nein?« Joleen ging ans Fenster und starrte auf Die Brücke hinab. »Dann nicht.«


Wir saßen und warteten. Regen fiel, dazwischen immer wieder einige Schneeflocken. Wir waren Der Stadt viel näher als gestern, wo wir die schmutzigen Häuserzeilen noch sehen konnten, die den Horizont knebelten und hinter ihren Fassaden an einen Stuhl fesselten. Achims Buch ruhte auf meinem Schoß, die Beine ließ ich baumeln.

»Und sie kommen heute?«

»Hm«, machte Achim.

»Weil wir so nah an der Stadt dran sind«, murmelte ich.

Joleen nickte. »So nahe waren wir noch nie.«

»Hm«, machte Achim.

Es wurde dunkel, und ich hatte die letzte Seite erreicht. Tatsächlich starben wir alle, da ich von Der Brücke fiel, während die Schakale unter uns wüteten. Der letzte Satz. Was tut die Ewigkeit, wenn sie die Zeitigkeit überdauert? Achim. Ich sah durch die Ruhe zu ihm hinüber, und es scheint mir, sie trübte meinen Blick.

Autogeräusche in der Ferne. Kurz überlegte ich, aus Fiktion eine Biografie zu machen, dann legte ich mich flach neben den anderen hin, damit Anubis mich nicht sehen konnte, solange nicht, bis er kommen würde, um mein Herz zu wiegen.