Meike Buchholz (15)

Ein paar kleine Schritte

Es war der letzte Sommer. Wo die Sonne noch Stunden auf seinen Rücken brannte und er es sich einfach so gefallen lassen konnte. Wo er noch Liter von Wasser im Auto geschwitzt und er sehnlichst den Anblick der französischen Atlantikküste herbeigesehnt hatte. Wo seine Mutter ihn zwanzig Mal erinnert hatte, ausreichend Batterien mitzunehmen und er sie letztendlich doch vergessen hatte. Wo Annas Haar noch von dunkelbraun auf fast blond ausgeblichen war, und sie so noch schöner war als sonst. Und wo er ihre Schönheit ziemlich oft vergessen hatte, um sich die Haare einer anderen ins Gesicht fliegen zu lassen.

Tim blickte auf den Boden der Veranda. Viele Leute, auch seine Freunde beneideten ihn jetzt im Sommer um die große, gepflegte Terrasse. Die Eltern waren gerade erst von einem Wochenendtrip zurückgekehrt. Das erste Mal hatten sie ihn ganz allein gelassen. »Jetzt wirst du die paar Tage ja wohl allein schaffen!«, hatten sie gesagt. Und wie er das geschafft hatte.

Eigentlich müsste er noch Vokabeln pauken und seinem Vater beim Aufräumen der Garage helfen. Seinem Vater in der Garage helfen! Das letzte Mal, als sie das gemacht hatten, war schon so lange her, dass Tim es mit einem viel zu kleinen, gestreiften T-Shirt und der schlimmsten Frisur seines Lebens verband. Vielleicht vor drei Jahren?

Mein Gott, dachte er, was sind schon drei Jahre! Da war er vierzehn gewesen. Wie sich alles in der Zeit geändert hatte. Seine Wünsche und Ängste, Freunde und Erlebnisse. Jonas und Ari waren immer noch die besten Kumpels, und auch heute Abend würden sie vorbei kommen. Einfach so, wie sie es jedes Wochenende machten. Doch etwas war anders. Tim blickte auf seine Armbanduhr. Braunes Leder und ein Geburtstagsgeschenk. Mit vierzehn hätte er sie nie getragen.


»Meinst du, die Mädels sind heute Abend auch im ›Hell Over‹?« Ari griff nach seiner Tasche und zog die Großpackung »West« heraus. Tim wusste, seine Mutter würde beim Zigarettengeruch durchdrehen, doch heute Abend war es egal. Was kratzte ihn schon ein bisschen Geschrei und leere Worte? Er war jung und das vielleicht den letzten Sommer lang. Anna und ihre Freundinnen waren sicher in der Stammdisco der drei Freunde. Er sehnte sich nach ihr. Nach dem alljährlichen Familienurlaub sah er sie heute Abend das erste Mal wieder. Seine Kumpels konnten bei den unbeständigen Verhältnissen der beiden nicht an etwas Ernstes glauben, aber Tim glaubte daran. Dachte er zumindest. Er konnte mit Anna Spaß haben und toll sah sie auch aus. Was brauchte er also mehr?

Jonas lenkte den roten Ford auf den Parkplatz. Tim war in ziemlich guter Stimmung, die sich nur noch steigerte, als er die gesamte Clique inklusive Anna vor dem In-Club warten sah. Und der Auftritt der drei Freunde wäre auch fast perfekt gewesen, wenn Jonas beim Führerscheinmachen ein bisschen mehr aufs Einparken geachtet hätte. Geschlagene vier Mal musste er zurücksetzten und anfahren. Und plötzlich glänzte der rote Lack des sonst so hippen Autos gar nicht mehr so hell.

Stunde um Stunde tanzten und tranken sie, es war heiter wie immer, der Nebel und der DJ machten ihre Aufgabe wie jede Woche ordentlich, und die Cocktails schmeckten einfach zu gut, um an den morgigen, allwöchentlichen Kater zu denken. Tim grübelte. Nach solchen Nächten war schon so manche mehr oder weniger nette Erinnerung entstanden. »Wie viele Caipis hattest du denn schon?! Du riechst eher nach vier Uhr morgens, als 23:30!« Tim brüllte Jonas ins Ohr, denn das Lied übertönte den ganzen Club. Eine Antwort bekam er nicht, nur vielsagendes Lachen.

Anna war vor zwei Minuten mit ihren Freundinnen tanzen gegangen. Tim wäre mitgekommen, doch irgendwie verhielt sie sich heute Abend seltsam. Sie war überdreht und frech, eine ganz andere Anna. Er wollte sie etwas in Ruhe lassen. Ebenso war seit der Autoszene seine Stimmung mit jeder Minute gesunken. Er fühlte sich der lahmen Gespräche und des Trinkens überdrüssig. Seit Jahren zogen sie das gleiche Programm durch. War das etwa alles, was noch kommen sollte?

Und da sah er sie tanzen, eng umschlungen. Dazu lief die neue Nummer eins der Charts: Baby, 4ever! Anna küsste Ari auf der Tanzfläche. Tim hatte nie gewusst, dass dieser Anblick ihn wirklich treffen würde. Er war nicht ihr Freund, und mehr als Geplänkel war zwischen ihnen nie gelaufen, aber trotzdem war dieses Bild ein Spiegel seines Lebens: Es wurde etwas zerstört.

Er musste hier raus. Raus aus der Disco, raus aus dieser Stadt, raus aus diesem Leben. Tim drehte sich ruckartig, ohne Wenden um und steuerte auf den nächstgelegenen Ausgang zu. Es wurde »18 till I die« von Bryan Adams gespielt, als kleine Abwechslung zu den aktuellen Liedern. Adams hatte nicht Recht. Wer wollte schon 18 sein?!, fragte sich Tim. Und das für immer?


Der Parkplatz war leer. Tim zog die laue Nachtluft ein und seufzte. Was war schief gelaufen? Er hatte immer nur kleine Schritte gemacht. Mit jedem Schritt hatte er sich in seinen Handlungen bestätigt gefühlt und war sich seines Weges sicher gewesen. Abi nächstes Jahr, die sichere Zusage in der Werbeagentur, den letzten Sommer voller Flirts und entspanntem Abschluss. Der Abschluss der Jugend. Doch er wollte nicht, dass diese Zeit zu Ende ging. Warum konnte er nicht ewig so weitermachen?

Sollten die Frankreichurlaube, die ihn stets genervt hatten, die Freundschaften, die ihn stets gehalten hatten, und die Schule, die er stets gehasst hatte, tatsächlich vorbei sein? Das einzige Mädchen, das er je geliebt hatte, wollte ihn nicht mehr. Der Junge, den er am meisten gemocht hatte, spannte ihm sie aus. Seine Eltern, mit denen er immer verbunden war, ließen ihn allein. Er glaubte nicht mehr an all das.

Tim wusste, er würde Ari vergeben und Anna nicht vergessen, genauso wenig wie sie ihn, und seine Eltern würde ihn noch einige Zeit mehr als gewollt »behüten«. Doch er wusste auch, dass er ab jetzt allein gehen musste. In eine andere Richtung. Wieder nur ein paar kleine Schritte.