Johanna Blindow (15)

Schritte nach oben

Zuerst ist nur der Schock. Plötzlich spüre ich, wie mir Tränen in die Augen steigen.


Ich habe nie geweint. Nicht, als mich der Direktor aus dem Schulzimmer holte, nicht, als wir im Taxi saßen, nicht, als die Krankenschwester mit ernstem Blick auf uns zukam. Auch nicht, als sie sagte, es sei zu spät, als Oma herumtelefonierte und Mama stumm am Küchentisch saß, als der Pfarrer an den Altar trat oder als Mama Papas Bettwäsche in einen Plastiksack stopfte. Manchmal hatte ich einen Kloß im Hals, zitterte, fror und schrie, aber Tränen kamen nie.

Papa war in der Fabrik so verdammt fies gestürzt und hatte den Kopf angeschlagen. Es hätte ebenso gut zuhause passieren können, oder im Kino, beim Einkaufen, auf der Straße.


Kurz nach seinem Tod stürzte auch ich ab. Ich sagte nichts mehr, hörte nichts, lief ziellos in der Stadt umher und vergaß alles um mich herum. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Warum war er gestorben? Wo war er jetzt, konnte er noch denken, mich sehen? Oder war er einfach ausgelöscht worden, für immer? Was hatte das Leben überhaupt für einen Sinn, wenn man anschließend sowieso starb, egal, was man vollbracht hatte? Lebte ich überhaupt, gab es mich, oder war ich nur Teil eines Traumes von einem anderen Wesen?

Manchmal fand ich mich mitten in der Industrie wieder, schlotternd, weil ich den Schnee nicht bemerkt hatte. Um mich herum halb verfallene Gebäude, mit leeren, gähnenden Fenstern. Fabriken, die wirkten, als habe sie seit Jahren niemand mehr betreten. Alles wirkte leblos und unheimlich. Meine Mutter merkte nichts davon, wenn ich nach der Schule lange wegblieb, sie selbst hatte das Ruder aus der Hand verloren. Kam ich mit blau gefrorenen Lippen nach Hause, saß sie am Küchentisch und starrte aus dem Fenster in den Hof hinaus.

Im März kam Oma zu uns. Sie putzte, kochte, kaufte neue Vorhänge und sortierte Papas alte Kleider aus. Sie tat so viel für uns, dass ich beschloss, nicht aufzugeben. Für Oma.

Aber ich schaffte es nicht. Irgendetwas in mir ließ nicht locker, zog mich immer wieder zurück in das Industriegebiet. Ich suchte nach etwas, einer Lösung, einer Antwort. Nach Klarheit. Frieden. Wie besessen kehrte ich immer wieder zurück zu den unbewohnten Gebäuden, den hohen Zäunen, den brachgelegten Eisenbahnschienen. Mein Kopf schmerzte, schien zu zerspringen an all den Fragen, aber ich konnte einfach nicht anders.

Eines Tages fand Oma es heraus, als sie mich von der Schule abholen wollte. Sie schimpfte und weinte, drückte mich an sich und rieb meine kalten Finger. Sie redete auf mich ein, ich dürfe nicht aufgeben, ich müsse kämpfen, dürfe nicht in die Industrie, das sei gefährlich, mache mich kaputt. Nun holte sie mich öfters von der Schule ab und ich begann, Papas Tod zu verdrängen. Das brauchte sehr viel Kraft und ich war oft müde. Aber ab und zu konnte ich wieder lachen.

An Ostern feierten wir zu dritt, Oma, Mama und ich. Wir köpften Eier, aßen Schokolade und tranken Tee. Ich gab mir alle Mühe, fröhlich zu sein, aber innerlich fühlte ich mich schrecklich verloren. Niemand sagte es laut, aber es war abgemacht, dass Oma wieder nach Hause fahren würde. Um nach dem Haus und dem Garten zu schauen, jetzt, wo es wärmer wurde. Die Wehmut lag in der Luft, und sie wurde umso drückender, je mehr wir sie übersahen.

Abends war die Angst wieder da. Die alten Gedanken umzingelten mich, ich schwitzte, wehrte mich, aber stürzte wieder mitten hinein. Am nächsten Tag ging es mir schrecklich, ich war unausgeschlafen und erschöpft. Nach der Schule wollte ich nichts wie ins Bett, ich hastete los, ohne um mich zu sehen.


Und dann sah ich auf und stand plötzlich wieder vor den alten Häusern. Mein Herz begann zu rasen. Es war, als hätte ich für kurze Zeit das Bewusstsein verloren gehabt, und jetzt …

Die Gedanken in meinem Kopf überstürzten sich. Ich muss weggehen – ich darf nicht – ich will nicht – ich könnte doch noch einmal suchen, ein letztes Mal – nein – nur einmal – ich darf nicht …

Auf einmal hörte ich Musik. Eine herzzerreißende Melodie. Ohne zu zögern, folgte ich den Tönen.

Nach einer Weile entdeckte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einem hohen grauen Haus einen jungen Mann stehend und Trompete spielend. Das Haus war überwuchert mit einer grünen Pflanze, und auf dem flachen Dach stand ein roter Plastikstuhl. Ich blieb still stehen und sah mir den Mann genauer an. Er war jung, höchstens zwanzig, hatte schwarze verfilzte Haare und dreckige Kleider.

Die Melodie, die er spielte, erinnerte mich an irgendetwas. Es kam mir vor, als hätte ich sie vor ganz langer Zeit schon einmal gehört.

Der Mann hörte auf zu spielen und musterte mich. »Hast du vielleicht Geld?«, rief er herüber.

Ich schüttelte nur den Kopf.

Einen Moment lang sah er mich schweigend an, dann fragte er: »Wie findest du das Lied?«

»Traurig«, sagte ich, ohne zu zögern. »Als gäbe es keine Hoffnung mehr.«

Verwundert ließ er die Trompete sinken. »Traurig? Ich finde es toll!«

Ich schwieg verlegen und, um irgendetwas zu sagen, deutete ich auf das Dach des Hauses: »Kann man da hoch?«

»Klar, komm mit!«


Die Treppen knarrten, die Wohnung war dunkel und leer. Ein paar Büchsen, etwas Brot und ein grob gewobener Sack lagen am Boden. Der Mann öffnete eine Luke im Dach, zog eine Leiter herunter und stieg hinaus ins Freie.

Es verschlug mir erst einmal die Sprache. Ich hätte nicht gedacht, dass man da so hoch oben war. Man sah über die Dächer hinweg bis zum nahen Fluss. Der Kirchturm der Stadt überragte alles. Ein kühler Wind blies mir ins Gesicht, und gleichzeitig merkte ich, dass die Sonne schien. Vögel zwitscherten. Wo waren denn hier Vögel?

Der Mann schob mir den roten Stuhl hin und setzte sich neben mich auf den regenfeuchten Boden.

»Man ist so drüber«, sagte ich nach einer Weile.

Seine Augen lächelten, so weit ich das von schräg oben sehen konnte. »Ich bin Adrian«, sagte er.

»Liese.«

Wieder schwiegen wir eine Weile, bis Adrian mich anstupste. »Liese, ich … ich habe keine Schere, aber ich bräuchte dringend eine. Und aus gewissen Gründen sollte ich mich in der Stadt nicht blicken lassen. Würdest du mir mal eine vorbeibringen?«

Ich nickte. Und erschrak: »Es ist ja Nachmittag! Ich muss gehen!«

Adrian nickte nur und führte mich hinaus.


Zwei Tage später ging ich wieder die Straße entlang und versuchte, die Angst und die Zweifel in meinem Kopf zu überhören. Adrian saß auf dem Dach und sah ehrlich erfreut aus über die Schere.

»Weißt du«, erklärte er, »ich habe Mist gemacht. Auffallen darf ich auf keinen Fall, darum müssen mindestens mal die Haare ab. Aber … also, ich habe keinen Spiegel …«

»Verstehe!«

Als ich auf dem Dach stand, dem Zwitschern der Vögel lauschte und seine verfilzten Haarsträhnen abschnitt, begann ich plötzlich zu reden. Erzählte von dem Zwang, immer wieder herzukommen. Sagte, dass ich ihn eigentlich gar nicht mehr hatte besuchen wollen und die Industrie verabscheute.

»Wie kannst du nur freiwillig hier wohnen?«, fragte ich.

»Mehr oder weniger freiwillig«, Adrian seufzte. »Ich musste untertauchen, und dieses Haus steht leer. Meine Kumpels wurden festgenommen, aber ich konnte abhauen. Wenn du abhauen kannst, ist es gut. Aber wenn du nicht kannst, dann musst du durch, mitten durch, und zwar richtig. Jeder Schritt führt näher zum Ziel, auch Rückschritte. Das Wichtigste ist, dass du überhaupt Schritte machst, weißt du?«

»Du wirfst ja richtig um dich mit Weisheit«, sagte ich.

Dann war ich fertig. Adrian drehte sich um. Er sah jünger aus, frischer, und seine hellen Augen kamen mehr zur Geltung.

»Hast du eine Strähne lang gelassen, wie ich gesagt habe?«, fragte er und tastete seinen Nacken ab.

»Klar!«

Adrian flocht die Strähne zu einem feinen Zopf, und in das Ende hängte er einen rostigen Fischerhaken, den er aus der Tasche gezogen hatte. Wir lächelten uns an.

Später saßen wir hinter dem Haus. Dort war eine wilde, hohe Wiese voller Löwenzahn.

»War es schlimm, als deine Freunde festgenommen wurden?«, fragte ich.

»Hm … Irgendwie ist es so, dass … wenn man ganz unten ist, gibt das auch Sicherheit. Es kann nicht mehr schlechter werden. Eigentlich bin ich gerne ganz unten. Habe mich damit abgefunden …«

Ich ließ es mir durch den Kopf gehen und schaute in den blauen Himmel. Er war überzogen mit einer feinen Schicht weißer Wolken. Wie die Muster, die das Meer im Sand hinterließ.

Langsam begriff ich die Sicherheit, die Adrian meinte: Mein Vater war tot, Oma weg, ich saß mit einem Verbrecher in der Industrie, die ich hasste. Es konnte nicht schlimmer werden. Und irgendwie war das tatsächlich tröstlich.

Ich ging erst, als es kühler wurde. Plötzlich fühlte ich mich komisch. »Darf … darf ich wiederkommen?«, fragte ich und erschrak über mich selbst.

»Sicher«, Adrian streckte sich auf der Wiese aus und schloss die Augen.

»Tschüss«, sagte ich leise und fühlte so etwas wie Wehmut in mir aufsteigen. Was war los?

»Hey«, rief Adrian, als ich schon fast weg war. Ich drehte mich um.

»Bitte, komm wieder.«


Von da an kam der Boden unter meine Füße zurück, und ich wagte erste Schritte. Adrian zeigte mir alles Schöne, was auf diesem Boden war. Wir gingen oft zusammen spazieren, und erst mit Adrian fiel mir auf, dass zwischen Bürgersteig und Straße das Gras war, dass die Häuser mit duftendem Geißblatt überwachsen waren, dass die Tannen auf den alten Grundstücken hellgrüne neue Nadeltriebe bekamen.

Wir kletterten über einen morschen Zaun, setzten uns in eine wilde Wiese mit Gänseblümchen und rotem Klee und flochten Ketten daraus.

Wir stiegen auf eine Brücke, die über die Gleise führte, und winkten den Zügen zu. Wir schlichen um die Fabriken und versteckten uns vor den Arbeitern, die abends herauskamen.

Adrian fragte mich aus über die Schule und meine Mutter. Erst beim Erzählen wurde mir klar, welche Lehrer ich toll fand und welche nicht, ich merkte, dass ich meine Freundinnen vernachlässigt hatte und meine Mutter in letzter Zeit wieder öfter kochte. Adrian wies mich grinsend darauf hin, von welchen Jungs ich am meisten redete, und ich wurde rot. Ich sah die Welt mit neuen Augen. Ich sah sie überhaupt erst jetzt richtig an.

Ich kam mit jedem Tag ein kleines Stück weiter, und ich hatte keine Angst mehr zurückzufallen. Weil: Wenn du ganz unten bist, kannst du nicht mehr tiefer fallen, das hat auch sein Gutes.


Den Tag, an dem es regnete, werde ich nie vergessen. Ich kam schlecht gelaunt bei Adrian an und sagte, Regen deprimiere mich.

Da öffnete Adrian wortlos die Dachluke und zog die Leiter herunter.

Dicht nebeneinander standen wir im strömenden Regen auf dem Dach und sangen gegen das Rauschen an. Ich fror nicht.

Nach einer Weile holte Adrian seine Trompete und spielte die Melodie, die ich an unserem ersten Tag gehört hatte. Sie ging mir mitten ins Herz.

»Wie findest du das Lied?«, fragte er, als er fertig war.

Ich schloss die Augen, atmete ganz tief durch und sagte: »Wunderbar. Es klingt nach Hoffnung.«

Wir lachten uns an. Und ich fragte mich, ob auf seinem Gesicht Regentropfen oder Tränen waren.

Ein paar Tage später sagte Adrian, er wolle Farbe besorgen, um das Haus anzumalen. Ich wusste, dass er sie klauen würde, aber ich ließ mich trotzdem für die Idee einer gelb-orange-roten Mauer begeistern. Wir verabredeten uns für Samstagnachmittag.


Als ich heimkam, fragte meine Mutter mich, warum ich so fröhlich sei, und ich erzählte ihr das erste Mal richtig von Adrian. Einige Sachen ließ ich weg, zum Beispiel, warum er in der Industrie wohnte. Meine Mutter sagte, wie froh sie sei, dass es mir wieder besser gehe. Sie erzählte, dass sie seit einigen Wochen zu einem Therapeuten gehe, um den Alltag besser in den Griff zu bekommen. »Aber du hast ja deinen Therapeuten auch schon gefunden«, sagte sie und meinte, sie wollte Adrian mal kennen lernen.


Aber Adrian ist nicht da. Ich habe das ganze Haus abgesucht. Seine Kleider sind weg und das Essen auch. Ein weißer Farbtopf steht neben der Haustür, die Trompete darauf.

Unter dem Fenster hängt ein Schild: ZU VERMIETEN

Zuerst ist nur der Schock. Plötzlich spüre ich, wie mir Tränen in die Augen steigen. Mein Hals zieht sich zusammen, ich schluchze halb erstickt, und dann ist es um mich geschehen.

Ich weine so lange, bis mein Gesicht sich ganz heiß anfühlt und meine Augen brennen.

Haben sie ihn gefunden? Wurde er festgenommen? In meinem Ohr klingt Adrians Stimme nach. »Wenn du abhauen kannst, ist es gut. Aber wenn du nicht kannst, dann musst du durch, mitten durch und zwar richtig.«


Ich öffne den Farbtopf. Dicke gelbe Farbe, sonnenblumenfarben, strahlt mich an. Ein Pinsel liegt halb versunken darin.

Ich male die Tür an, den Fensterrahmen, male eine Sonne auf die Wand und viele Blumen daneben. Dann schreibe ich in großen Buchstaben:

ADRIAN FOREVER

I LOVE YOU

Noch einige Blumen. Die Farbe ist leer.

Ich nehme die Trompete und kehre, schräge Töne spielend, zu meiner Mama zurück.