Miriam Bleck (16)

Stillstand

Tanja Maranowka starrte verträumt auf die Pfützen der in der Dämmerung liegenden Hauptstraße. Regen peitschte über die vorbeifahrenden Autos, deren Scheinwerferlicht sich auf der nassen Fahrbahn spiegelte.

Gleich würde er kommen, das wusste sie. Gleich würde der weiße Autobus aus der Seitenstraße kommen, an der Bushaltestelle, wo sie sich untergestellt hatte, anhalten und sie einsammeln. Doch er war spät dran heute, zwei Minuten Verspätung verriet ihr ihre billige Armbanduhr. Aber das war Tanja egal, denn sie wusste, dass er kommen würde. Das war vollkommen unumgänglich. Wie gerne sie einfach nicht einsteigen würde, sondern einfach da stehen bleiben wollte – mitten im Regen. Leider würde sie dann demnächst auch die Entlassungspapiere abholen dürfen.

Nein, sie musste in den Bus einsteigen. Sie musste nach 40 Minuten Fahrt in der Firma ankommen und dann nach acht Stunden wieder von demselben weißen Transitbus abgeholt werden. Es war einfach so.

Mit der Zeit war es zur Gewohnheit geworden, mit der eine Monotonie in ihr Leben getreten war, die sie mit einer unglaublichen Gleichgültigkeit erfüllte. Tanja freute sich nicht auf ihre Arbeit, überhaupt nicht. Sie musste arbeiten.

Da bog der weiße Bully um die Ecke, hielt an, und Tanja öffnete ohne Hast die Schiebetür. Musik strömte ihr entgegen.

»Morgen!«, grüßte sie den Fahrer, wobei sie das Wort sehr hart aussprach und das R stark rollte.

»Morgen, Frau Maranowka!«, erwiderte der Fahrer und drehte die Musik etwas herunter, während Tanja sich anschnallte. »Wir fahren heute anders, Frau Akcün ist krank«, informierte er Tanja. Er sprach betont langsam, so als wollte er sicher sein, dass sein Fahrgast jedes Wort mitbekam und auch verstand.

Tanja Maranowka nickte stumm. Es war ihr egal, wie sie fuhren, sie würden am Ende doch bei der Firma ankommen, sie würde doch acht Stunden arbeiten und dann wieder in den weißen Bus einsteigen. Soviel war sicher.

Der Fahrer ließ den Motor an und fuhr los. Nach fünf Minuten hielt er wieder an einer anderen Bushaltestelle an, und aus der Morgendämmerung löste sich die Silhouette einer Frau. Zielstrebig ging sie auf den Wagen zu und öffnete die Tür. »Morgen!«, sagte sie, fast barsch. Sie ließ sich auf den nächsten Platz fallen und strich sich ihr Kopftuch zurück. Als sie die Schiebetür geräuschvoll schloss, wehte Tanja Zigarettenrauch entgegen. Die Fahrt ging weiter.

An der nächsten Stelle, an der der Wagen hielt, war niemand zu sehen. Der Fahrer trommelte ungeduldig mit den Fingern am Lenkrad, während sie warteten. Musik erfüllte das Auto – bis auf ein »Morgen!« wurde im Bus meist nicht miteinander geredet. Es war immer still. Warum sollte man sich auch unterhalten, immerhin wusste man, dass man die nächsten Jahre noch zusammen diese Strecke fahren würde. Es war ausweglos. Immer dasselbe. Jeden Morgen.

Tanja versuchte, auf die Musik im Radio zu hören, doch sie verstand kein Wort. Es war eine Sprache, der sie nicht mächtig war. Sie war jedoch schon froh, dass sie mittlerweile ganz passabel Deutsch verstand, auch wenn sie es nicht akzentfrei sprechen konnte, geschweige denn mit der richtigen Grammatik. Aber was erwartete man auch von ihr? Sie war erst vor sechs Monaten nach Deutschland gekommen, hatte ihre Freunde und Familie in Weißrussland zurückgelassen, um in Deutschland Arbeit zu finden. Sie hatte keine Zeit gehabt, noch einen Deutschkurs zu besuchen. Ihr Deutsch reichte, um sich mit ihren Kolleginnen zu verständigen, die im Übrigen auch nicht besser Deutsch sprachen oder genauso wenig deutsch waren wie sie. Tanja verfolgte einen Regentropfen, wie er die Fensterscheibe herunterrann.

Eine Gestalt in gelben Sari rannte plötzlich auf den Wagen zu, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. »Morgen!«, japste sie ganz außer Atem und murmelte irgendeine Entschuldigung für ihr Zuspätkommen.

»Voll«, dachte Tanja Maranowka, und meinte damit das Auto. Jetzt ging es unaufhaltsam Richtung Firma.

Als sie um die letzte Kurve bogen, nach der die Firma zu sehen war, bemerkte sie erneut, wie kurz vierzig Minuten doch sein konnten. Jeden Tag kam ihr die Zeit kürzer vor. In diesem Moment wünschte sie sich woanders hin. Sogar zu ihrer Familie nach Weißrussland in die Zweizimmerwohnung, in der sie zu siebt gelebt hatten.

Tanja fühlte sich immer besonders allein, wenn sie an zuhause dachte. Eigentlich ging es ihr hier in Deutschland sehr gut. Im Vergleich zur Heimat, aber diese Arbeit – jeden Tag dasselbe. Manchmal war sie überrascht über sich selbst, dass sie es tatsächlich schon sechs Monate ausgehalten hatte.

Der Wagen hielt. Sie stieg aus, doch musste sie einen inneren Widerstand überwinden. Was würde passieren, wenn sie einfach sitzen bliebe? Es regnete immer noch. Die drei Arbeiterinnen stapften auf den Seiteneingang für Arbeitskräfte zu. Tanja hoffte immer noch auf ein Wunder, damit sie die Schwelle nicht übertreten musste. Wenn jetzt ein Blitz in die Halle einschlug … dann könnte sie heute nicht arbeiten gehen. Aber zu spät, schon gingen die drei ins Foyer. Die anderen beiden Frauen gingen geradeaus, doch Tanja musste rechts abbiegen. Sie war Produktionshelferin in der Montage.

Nachdem sie ihre Tasche in ihrem Spind verstaut hatte, machte sie sich auf den Weg zum anderen Ende der Produktionshalle, wo sich ihr Arbeitsplatz befand. Die paar Meter erschienen ihr weiter als sonst, ihre Schritte wurden immer kleiner und langsamer. »Wenn du erst einmal sitzt, dann sitzt du acht Stunden da. Es ist schlimm, dass ich jetzt schon weiß, dass ich in acht Stunden aufstehen werde und dass es endlich vorbei ist … für heute. Morgen geht dasselbe Spiel wieder von vorne los – die ganze nächste Woche, den ganzen nächsten Monat, das ganze nächste Jahr, vielleicht sogar das ganze nächste Jahrzehnt …«, sah sie sich selbst noch als Greisin an ihrem Arbeitsplatz sitzen und irgendwelche Teilchen zusammensetzen.

Alles sträubte sich in ihr, sich auf den abgenutzten Stuhl zu setzen. Widerwillig ließ sie sich darauf nieder und begann genauso unmotiviert ihr Material zu sortieren, sodass sie kurze Zeit später damit beginnen konnte, Federhebel auf Schalter aufzusetzen. Die sollten dann später in Kaffeemaschinen eingesetzt werden – aber dafür war Tanja nicht mehr zuständig. Ihre Aufgabe war es, die Federhebel aufzusetzen, immer dieselbe Bewegung. Wie eine Maschine. Sechstausend Mal am Tag. Tanja hatte gemerkt, dass ihre Gedanken immer von alleine anfingen, um irgendetwas zu kreisen. Zum Beispiel um das, was sie in den Nachrichten aufgeschnappt hatte, auch wenn das nicht gerade viel war. Dieses Nachdenken über irgendwelche Dinge, die sie nicht im Geringsten beeinflussen konnte, hatte schon fast etwas Meditatives an sich. Sie brauchte sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren, es war ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Sobald sie ihre Gedanken jedoch auf das Zusammensetzen von Federhebeln lenkte, wurde sie sich wieder der Aussichtslosigkeit ihrer Situation bewusst. Dann wurde ihr langweilig, und sie versank in Selbstmitleid. So auch heute.

»Warum tue ich das überhaupt?«, war die Frage, mit der sie sich am häufigsten beschäftigte, obwohl die Antwort sehr einfach war: Geld. »Mir geht es doch gut. Man denke nur zurück an meine Heimat – oder an die Dritte-Welt-Länder. Aber ewig dasselbe machen …«, murrte sie in sich hinein.

»Morgen, Tanja! Wie geht’s?«, kam die Vorarbeiterin zu ihr, wie jeden Morgen um sieben.

»Eine Stunde geschafft«, dachte Tanja bloß. »Danke, gut«, war jedoch ihre knappe Antwort.

Sie fühlte sich in der deutschen Sprache nicht wirklich wohl und versuchte stets, sich kurz zu fassen.

»Also, ich muss sagen, mir wird richtig schwindelig, wenn ich dir dabei zugucke, wie du die Federhebel aufsetzt«, bemerkte die Vorarbeiterin, und es sollte wohl ein Lob sein.

»Kein Wunder, ich mache das ja auch schon ein halbes Jahr – jeden Tag, acht Stunden lang!«, kochte es in Tanja. Statt ihrem Ärger Luft zu machen, antwortete sie jedoch: »Sechstausend an Tag.«

Die Vorarbeiterin nickte aufmunternd und ging weiter, um ihre morgendliche Runde zu beenden. Schließlich musste sie aufpassen, dass auch die anderen Arbeiterinnen monoton ihre Arbeit verrichteten – nach Möglichkeit ohne Pause.

»Das macht doch keinen Spaß. Ich kann diesen Kaffeemaschinen-Knöpfen noch nicht mal etwas von mir geben, dass man irgendwie erkennt, dass ich sie gemacht habe – nein, es sind einfach nur Knöpfe. Einer wie der andere. Sechstausend am Tag«, schwirrte ihr durch den Kopf. »Das ist nichts, worauf ich stolz sein kann … aber will ich eine Arbeit, auf die ich stolz sein kann, wo ich mich selbst drin sehe, oder will ich Geld verdienen?«, versuchte sie sich zur Vernunft zu bringen. »Hätte ich bloß irgendeine Ausbildung gemacht … dann hätte ich bessere Chancen, eine vernünftige Arbeitsstelle zu bekommen. Obwohl es schwierig ist, eine gute Arbeit zu finden, bei der man nicht viel reden muss, weil mein Deutsch nicht so gut ist …«

»Hallo Tanja!«, sagte eine Stimme neben ihr, und eine junge Frau um die zwanzig ließ sich neben ihr auf den Stuhl fallen. »Frau Hesse sagte, ich solle dir helfen. Es ist wohl ein neuer Großauftrag über 50.000 Stück eingegangen.«

Tanja stöhnte innerlich auf. 50.000? Nahm das denn nie ein Ende? »Karla, warum arbeiten du hier?«, fragte sie plötzlich einer Eingebung folgend, während ihre »Assistentin« sich ihr Material zurechtlegte.

»Mir macht das Spaß«, war zu Tanjas Überraschung die Antwort.

»Spaß?«, hakte sie nach.

»Ganz recht. Weißt du, ich habe keine Lust mehr auf Schule, Ausbildung und so weiter. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe. Ich will nichts mehr lernen, sondern Geld verdienen«, erklärte Karla, und fing an, Federhebel aufzusetzen, wobei sie deutlich langsamer war als Tanja.

»Du kannst leben von dem Geld?«, meinte Tanja, ohne dabei ihre Arbeit zu unterbrechen. Man gewann eher den Eindruck, dass sie noch schneller wurde.

»Naja, ich bin ja verheiratet, und mein Mann ist Automechaniker. Das reicht schon für uns beide«, antwortete sie.

»Freiwillig hier arbeiten … ich vorstellen nicht«, sagte Tanja geradeheraus.

»Oh, diese Arbeit hat einige Vorteile. Sie ist nicht anstrengend, und man braucht eben keine Ausbildung. Außerdem kann man sich unterhalten, falls man eine gemeinsame Sprache hat«, ergänzte Karla vorsichtig. »Und wenn man in Mutterschaftsurlaub gegangen ist, findet man auch ohne Probleme wieder in die Arbeit rein. Ich möchte gerne viele Kinder haben.«

»Wie alt bist du?«, wollte Tanja wissen, verpackte dabei einige Federhebel und fuhr fort, die nächsten hundert Federhebel und Schalter zusammenzusetzen. »Ich bin 23 Jahre alt und seit fünf Jahren verheiratet.«

Tanja nickte stumm.

Sie konnte nicht wirklich nachvollziehen, dass man in dem Alter schon einen derart starken Familienwunsch hatte.

»Meine Schwester hat eine Ausbildung gemacht. Die haben ihr versprochen, sie zu übernehmen, und als sie dann ihre Hauswirtschafterlehre abgeschlossen hatte, haben sie sie eiskalt abserviert. Sie arbeitet jetzt auch hier. Zwar vorerst übergangsweise, aber ob ich nun mit Ausbildung hier lande oder ohne, ist doch eigentlich egal. Ich meine, die Selbstverwirklichung muss zwar hinten anstehen, aber sonst bin ich hier voll zufrieden«, schlussfolgerte Karla. »He, sieh mal, die gehen schon alle in die Pause.«

»Drei Stunden Arbeit sind um …«, dachte Tanja.

Nach der Pause musste Tanja allein weiterarbeiten, und sie beschäftigte sich gedanklich mit ihrem bisherigen Werdegang und damit, dass es nun nicht mehr lange zum Feierabend war. »Ich bin stehen geblieben. Es ist, als hätte mir jemand Kleber unter die Schuhe geschmiert. Aber so trete ich auf der Stelle und komme keinen Schritt vorwärts und kann nicht einmal zurück. Seit ich hier arbeite, herrscht Stillstand in meinem Leben.« Sie schaute auf die Uhr: Es waren erst fünfzehn Minuten vergangen. »Ja, das erklärt es am besten … ich mache keine Schritte mehr. Ich komme nicht weiter. Ich persönlich nicht und auch nicht alles, was ich mir jemals gewünscht habe.« Wieder streifte ihr Blick die Zeitanzeige, die hoch oben über der Tür des Verwaltungsbüros thronte. Die Zeiger zitterten bedrohlich, wollten sich aber nicht bewegen, so als würden sie mit aller Macht versuchen, die Zeit festzuhalten. Und das schafften sie in Tanjas Augen auch: Es war nur zwei Minuten später.

»Das Problem ist nur, dass ich ausgerechnet am Abgrund stehen geblieben bin. Was soll ich denn machen? Wenn ich kündige, falle ich unaufhaltsam in die Tiefe. Dann habe ich nichts mehr, keine Sicherheit mehr, kein Geld mehr, keine Aussicht auf irgendetwas anderes … entweder Stillstand oder freier Fall … ich kann immer noch wählen …«, dachte Tanja. Die Zeiger kämpften immer noch gegen die Zeit. Mittlerweile lag die Frühstückspause eine Stunde zurück. Heute konnte sie sich nicht im Gedankenstrudel verlieren, immer wieder schaute sie auf die Uhr, und was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. »Fehlt nur noch, dass die Zeit gleich anfängt, rückwärts zu laufen«, dachte sie sarkastisch. Tanja schien kurz vor der Hysterie zu stehen. Von außen merkte man es ihr nicht an. Sie wirkte in ihre Arbeit vertieft. Ein Federhebel wurde auf den Schalter gesetzt. Dann noch einer. Und noch einer. Und noch einer. Und noch einer. Und der Berg der Schalter wollte trotzdem nicht kleiner werden. Langsam fing ihr Rücken an zu schmerzen. Sie hielt kurz inne, versuchte, sich ein wenig zu lockern, und setzte wieder einen Federhebel auf einen Schalter. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war es elf. Um Viertel nach zwölf endete ihre Arbeitsschicht. »Nur noch etwas mehr als eine Stunde …«, versuchte sie, sich zu motivieren, doch als die Vorarbeiterin ihr eine neue Kiste Schalter an den Arbeitsplatz rollte, verstummte diese Stimme in ihr. »Wenn die ganzen Schalter und Federhebel Geldstücke wären … das wäre toll! Dann wäre ich reich …«, startete sie ein neues Gedankenspiel, um sich abzulenken. »Was ich mir dann alles kaufen würde … erst einmal ein richtiges Auto. Und dann würde ich zusehen, dass ich meine Familie nachholen kann … dieses ewige Alleinsein … nein, gar nicht wahr. Als Allererstes würde ich aufhören, hier zu arbeiten.« Wieder glitt ihr Blick zur Uhr: Noch eine halbe Stunde – fast geschafft. Nun dachte sie an ihr Zuhause. »Meine Familie war sehr glücklich … es fehlte nur an Geld …«, sinnierte sie. So den Erinnerungen nachtrauernd, zuckte sie zusammen, als sie abrupt von der Schelle unterbrochen wurde, die das Ende der Schicht läutete.

»Endlich!«, freute sie sich in Gedanken. Schnell stand sie auf. Mit großen Schritten eilte sie aus der Halle. Fast hätte sie schon ihre Sachen im Spind vergessen. Als Erste saß sie im Bus, der sie abholte. Die Heimfahrt schien ihr endlos lang zu sein – sehr viel länger als die Hinfahrt. Vor allem war es jetzt nicht mehr so dunkel draußen, und sie sah das Leben in den Straßen und Städten, an denen sie vorbeifuhr. Als sie aus dem Bus ausstieg und dem Fahrer mit kehliger Stimme »Ein schön Tag noch!« wünschte, hatte sie sogar ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Obwohl sie sich jetzt frei fühlte, dachte sie schon an den morgigen Tag. Dann würde alles wieder von vorn beginnen, sie würde wieder früh morgens an der Haltestelle stehen, acht Stunden dieselbe Arbeit verrichten, die sie auch heute gemacht hatte, und danach wieder in den Bus steigen.

Es war ein Kreislauf – ein ewiger Kreis, in dem ihr Leben verlief. Ihr Leben war festgefahren, voller Monotonie, und sie kam keinen Schritt vorwärts. Das alles wurde ihr mit einem Mal bewusst, als sie nach Hause ging – wie an jedem anderen Tag auch.