Mira Berkenblit (17)

Wie die süße Zuckerwatte der Zeit

Wenn ein Kind in einer Wohnung groß wird, traut man dieser Wohnung vieles zu: dass sie Geheimverstecke hat, dass hinter den ordentlich weißen Tapeten solche mit Kritzeleien hängen, dass irgendwo hinter dem Schrank eine Murmel liegt.

In der Wohnung Nr. 3 wächst Nadine auf, die immer für älter gehalten wird, als sie eigentlich ist, sodass an ihrem siebenten Geburtstag – dem letzten, den sie wirklich mit Kuchen und Geschenken feiert – ihre Freunde fast so wirken, als hätten sie sich in der Tür geirrt oder als seien sie zu dem Geburtstag einer jüngeren Schwester gekommen, die Nadine nicht hat.


An diesem Geburtstag verliert Nadine ihr Geburtstagshütchen, es rutscht unter das Sofa, und keiner kümmert sich darum. Ein Zimmer weiter zündet Nadines Großmutter die Kerzen auf der Torte an, genauso wie sie später eine Kerze anzündet, wenn Nadine in der Schule eine Arbeit schreibt.

Nadines Mutter kommt nur einmal pro Monat zu Besuch, sie arbeitet im Ausland in einer kleinen Stadt. Das »Ausland« ist nicht so weit entfernt, als dass Frau Appelt nicht öfters kommen könnte, aber die Reise ist teuer, und Frau Appelt ist eine junge Mutter. Sie arbeitet in einer kleinen Praxis als Fußpflegerin; wenn sie sich verabredet, sagt sie manchmal, sie sei Ärztin, und auch wenn sie arbeitet, beim Pfeilen und Polieren, stellt sie sich vor, Zahnärztin für die Füße zu sein. Einer Kundin hat sie einmal von der Kerze erzählt, von der von ihr für das ach so weite Kind aufgestellten Kerze.

Es gibt Tage, an denen man von sich redet und später, während der andere seine Geschichte erzählt, denkt, man sei zu weit gegangen. Dann fügt man im Nebensatz ein Detail hinzu, das nicht stimmt, das zu einem anderen gehört, und befreit sich aus der Hülle der Vertrautheit. Dieser Blick, die nächste Bemerkung, gilt nicht mir, denkt man dann, und oft weiß man erst in diesem Augenblick, ob es sich gelohnt hätte, doch die Wahrheit zu sagen.

Die Kundin ist ganz gerührt, so gerührt, dass sie die Geste bewundert und nicht nachfragt, warum das Kind eigentlich nicht bei ihr wohne. Auch denkt die Kundin, dass das Mädchen dumm sei und die Großmutter nicht die richtige Bezugsperson für das Kind.


Währenddessen geht die Großmutter durch die Wohnung und schaut zu, wie Nadine trainiert. Der Flur der Wohnung ist so lang, dass Nadine Spagatsprünge üben kann, was ein lautes, dumpfes Geräusch macht, wenn sie aufkommt.

Unter der Wohnung wohnt eine Familie mit zwei Jungen, und der kleinere denkt zu dieser Zeit, es würden dort oben Actionfilme gedreht, und verfolgt die unsichtbare Handlung wie eine Lieblingsfernsehserie, wohlwollend und ausdauernd. Der große Bruder Jean aber mag die tanzende Nadine, was er damit ausdrückt, dass er ihr kleine Zettelchen mit Gedichten schreibt, sie unter der Tür hindurchschubst, klingelt, aber nicht den Mut hat, zu warten.

Einmal landet Nadine mit der Zehenspitze genau auf einem der Zettel, dass er unter ihrem Zeh zerknickt. Sie liest ihn und legt ihn zu ihren Tanzschuhen, einem der seltenen Geschenke ihrer Mutter.


In der Sommerzeit kommt Frau Appelt noch seltener zu Besuch, sie hat viel zu tun, sie hat einen neuen Freund, und außerdem kommen viele Frauen zu ihr, die ihre Füße unkenntlich schön haben wollen; im Sommer sind die Sandalen ihre Schiffe und die Zehenspitzen ihre weißen, reinen Segel.

Eine Grundbehandlung dauert etwa eine halbe Stunde, und am Ende dieser Zeit wissen so einige von der Tochter und der Kerze, es ist eine alte Geschichte. Auch die Geliebte ihres neuen Freundes weiß davon und erzählt ihm von Nadine. »Sie war nicht ehrlich zu dir, nun kannst du sie ja verlassen.«

Der Freund schüttelt den Kopf, er glaubt seiner Geliebten nicht so ganz, Kerzen hat er noch nie bei seiner Freundin gesehen, und die Aussagen der Geliebten sind eh wie angeschwemmtes Holz, das man ans Ufer zieht.

Trotzdem ist seine Neugier geweckt, und er fragt seine Freundin nach »Nadine«. Frau Appelt lacht und verneint, und erst, als sie am nächsten Tag die kalten Zehen einer Kundin anfasst, die sich unter der Berührung nach unten krümmen, wie in einem Tanzschuh, merkt sie, dass sie ihre Tochter verleugnet hat.


Manchmal überkommt Nadine, die immer für älter gehalten wird, als sie wirklich ist, ein Anflug von Kindlichkeit.

Sie ist auf die Idee gekommen, die Stellen, an denen die Zettel von Jean landen, mit einem Bleistiftkreuz auf dem Parkett zu markieren. Auf das Klingeln reagiert sie nicht, vielleicht hat Jean es auch sein gelassen. Die meisten Zettel landen ganz nah an einem schon gesetzten Kreuz, und es ist wie beim Boulespielen, von dem die Großmutter Nadine so viel erzählt hat und dabei ins Französische übergeht, je me souviens, on a joué aux boules, ma petite fillette …


Nadine spielt eine Woche lang Boule, bis das Parkett mit kleinen Kreuzen übersät ist, wie ein Soldatenfriedhof, und verliert dann die Lust daran, es scheint, als hätte sie sich an das Etwas in ihrem Aussehen erinnert, dass sie älter erscheinen lässt.

Kurz vor Nadines 16. Geburtstag gibt die Großmutter ihr abends einen Brief, der schon den ganzen Tag auf dem Küchentisch gelegen hat, neben dem tropfenden Kerzenstummel, der sein Wachs auf den Umschlag verteilt, als wolle er ihn nachträglich versiegeln.

Die Wände sind dünn in der Wohnung Nr. 3, und die Großmutter strengt sich an, zu hören, ob Nadine den Brief aufreißt, sie kennt die Schrift auf dem Briefkopf und wundert sich.

Doch es passiert nichts, und dann – plötzlich – ist es ganz natürlich für Nadine, dass sie mit dem Brief in der Hand an der Tür der Wohnung unter ihr klingelt. Ein Junge macht auf, und sie kennen sich wirklich schon lange, sie gehen nach oben zu Nadine, und der kleine Bruder folgt ihnen leise, in seinen Augen steht noch immer verwundert die Frage nach dem Actionfilm, auch wenn es nur noch ein Abglanz der alten Treue ist.

Nadine lässt Jean den Brief öffnen, und die Großmutter hört das Rascheln des Briefumschlages, das Ausatmen eines Lächelns, Stille.


Die Großmutter hilft Nadine beim Packen, sie ist ein wenig besorgt. »Brauchst nicht so viel einzupacken für eine Woche, ma petite fillette, jetzt wirst du sehen, wie deine maman so lebt, sie wird dich vom Bahnhof abholen, das schrieb sie doch, nicht?«

Nadine nickt, und nachts, als die Großmutter schläft, legt sie ihre Tanzschuhe unten in den Koffer, eingewickelt in einen Stadtplan: Paris, notre capitale.


Irgendwann kommt eine Karte, auf der nur unten ein Gruß steht und oben Leere ist, dass die Großmutter weint, über die zurückgebliebenen Tanzsachen streicht, einen kleinen zerknickten Zettel findet und die Zeilen, an Nadine, ihre Nadine denkend, auf die Karte schreibt: Tanzend bleibt das Buch im Schatten, lesend springen die Tänzerinnen aus den Seiten …


Wenn ein Kind in einer Wohnung aufwächst, dann traut man dieser Wohnung zu, Spuren aufbewahrt zu haben, doch es gibt kein Geheimversteck, keine Kritzeleien unter den Tapeten, keine Murmeln hinterm Schrank. Nur auf dem Parkett des Flures findet die Großmutter kleine starre Kreuze, und unter dem Sofa kommt einmal, als sie mit einem langen Stab etwas herausholen will, ein altes Geburtstagshütchen zum Vorschein, mit dünnen Staubfäden verwoben, dass es aussieht, wie alte Zuckerwatte, wie die süße Zuckerwatte der Zeit.